Sportunterricht in einem Tübinger Gymnasium. Für den 12 jährigen Jungen - wir nennen ihn Christopher - ein Albtraum. Er ist einen Meter sechzig groß und wiegt knapp 90 Kilo. Christopher ist per definitionem adipös, fettleibig. Das bekommt er beim Basketballspielen zu spüren, weil er sich nicht so flink bewegen kann wie seine normalgewichtigen Schulkameraden. Er gerät auch schnell außer Puste. Und er wird - wie viele adipöse Kinder und Jugendliche - gehänselt. Psychologen sprechen von "Bullying", von Mobbing unter Kindern und Jugendlichen. Schmerzhafte Erfahrungen, die Christopher mit vielen seiner Leidensgenossen teilt.
" Manchmal hör ich weg, manchmal pack ich se und frag se, was des soll. Manchmal pack ich se auch und frag dann, was er nochmal gesagt hat, ich hab's nicht verstanden ... Das ist oft so, dass die Leute einen dann anschauen und schon so ein bisschen für abnormal erklären. Von: "Boa, da guck mal und: Mann, ist die Dickmann." Kommt schon alles. Also es heißt ja immer, man braucht ein hartes Fell, aber das hat man halt auch nicht immer ... Da tät ich mir jetzt keine Gedanken machen. Wenn mich jemand nicht gern hat, bloß weil ich ein paar Kilo zu viel habe, der mag mich wahrscheinlich auch nicht, wenn ich gertenschlank bin, gell? "
Falsch, sagt eine neue Studie der Universität Tübingen unter Leitung des Sportsoziologen Ansgar Thiel. Fettleibigkeit überlagert für einen außenstehende Betrachter offenbar alle anderen Merkmale. Schöne Augen, ein freundliches Lächeln - selbst solche Dinge treten zurück hinter dem Eindruck: er oder sie ist zu dick. Entsprechend dramatische Ergebnisse liefert Tiehls Studie zur Einschätzung adipöser Kinder durch ihre Altergnossen.
"Das Ergebnis ist, dass die adipösen Kinder mit Abstand am häufigsten als das am wenigsten attraktive Kind wahrgenommen werden, mit Abstand am häufigsten als das faule Kind, aber auch am häufigsten als das am wenigsten intelligente Kind bezeichnet werden. In allen Teilkategorien schnitten die schlechter ab. Auch zum Beispiel bei der Spielpartner- Präferenz. "
Unter gleichaltrigen Jungs haben es übergewichtige laut Thiels Studie dabei besonders schwer. Denn "solche wie Christopher" kommen als Spielkameraden eigentlich nicht in Frage.
"Wenn wir versuchen, eine Erklärung dafür zu finden, dann liegt es schon nahe, dass Körperlichkeit, Bewegung, auch Kraft und Dynamik in diesem Alter bei Jungs natürlich schon von extrem großer Bedeutung sind. Das zeigen auch sportwissenschaftliche Studien, dass Jungs sich in diesem Alter viel über Körperlichkeit definieren, während das bei Mädchen vorpubertär noch nicht so extrem bedeutsam ist. "
Für seine Studie hat Ansgar Thiel 450 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 15 Jahren befragt. Sie sollten adipöse Altersgenossen hinsichtlich 5 verschiedener Kriterien beurteilen: Sympathie, Spielpartnerpräferenz, Aktivität, Intelligenz und Attraktivität.
"Um Vergleiche durchführen zu können, haben wir den Kindern Fotografien vorgelegt. Darauf waren jeweils 2 adipöse Kinder, 2 Kinder im Rollstuhl und 2 normal gewichtige Kinder. Und jeweils also ein Junge und ein Mädchen."
Fazit: Das normal gewichtige Mädchen bekommt durch die Bank die besten Werte, während der adipöse Junge in allen Kategorien am schlechtesten abschneidet. Schlechter sogar als Kinder, die im Rollstuhl sitzen, sagt Tiehl.
"Wenn man sich jetzt mit Stereotypen in Bezug auf Körperlichkeit auseinander setzt, ist natürlich eine körperliche Behinderung mit Rollstuhl auch sehr stark sichtbar im sozialen Miteinander - ähnlich wie Adipositas sofort sichtbar ist, also quasi schlecht verdeckt werden kann. Dann hat man eine direkte Vergleichsgruppe, die jetzt in Bezug auf Körperlichkeit eine sichtbare Abweichung vom normalen Kind in Anführungszeichen hat. Wobei man hier aber nicht sagen kann, ob die Ergebnisse nicht auch zu einem gewissen Teil aufgrund von sozialer Erwünschtheit zustande kommen. Dass man mehr Hemmungen hat, ein Kind im Rollstuhl so stereotyp zu bezeichnen wie adipöse Kinder. "
Die Bewertung der Umwelt durch Stereotypen - landläufig auch als "Schubladendenken" bezeichnet - hilft Erwachsenen und Kindern, sich in der Welt zurecht zu finden. Aus der unüberschaubaren Fülle von Informationen werden einige wenige, vermeintlich besonders wichtige herausgefiltert. Eigentlich eine nützliche Sache. Je komplexer das Leben aber, umso einfacher die Stereotypen, vermutet Ansgar Thiel. Manche, bekommen die Kinder schon von klein auf anerzogen, glaubt er. Zum Beispiel: wer dick ist, ist selbst schuld, also entweder dumm oder faul. Wie sonst ließe sich erklären, dass in Amerika bereits 6-jährige Kinder pummelige Altergenossen als faul, verlogen, schmutzig, hässlich und dumm einschätzen.
" Wenn sie jetzt praktisch von zu Hause aus erfahren: man kann selber etwas dagegen machen oder man ist selber dafür verantwortlich. Dass die Eltern sagen: "Ja, das sollte einen Salat essen oder sowas, anstelle einen Hamburger." Dann kann natürlich sein, dass sich entsprechende Kausalzusammenhänge schon bei Kindern und Jugendlichen im Kopf festsetzen. "
Auf diese Weise sind Stigmatisierung und gesellschaftliche Ausgrenzung von adipösen Menschen in allen Altersklassen vorprogrammiert. Das belegt eine weitere Studie aus den USA, die Ansgar Thiel als Vorbildstudie herangezogen hat. Sie hat ergeben, dass die Mehrzahl der amerikanischen Collegestudenten lieber Betrüger, Ladendiebe, Kokainabhängige oder Blinde heiraten würde als eine übergewichtige Person.
" Ja, ich denke schon, dass Adipositas heute ein schwerwiegendes gesellschaftliches Problem darstellt und dass es auch notwendig ist, daran zu arbeiten. Einerseits natürlich aus den bekannten medizinischen Gründen, aber andererseits auch aus sozialen Gründen. Denn hier werden natürlich auch schon bestimmte Lebenspfade festgelegt, die sich für die Kinder und Jugendlichen später als sehr nachteilig auswirken können. "
Der zwölfjährige Christopher nimmt seit einiger Zeit an einem Abnehmprogramm der örtlichen Krankenkasse teil. Er will neue Freunde finden und nicht mehr gehänselt werden. Denn das, erzählt er, mache ihn traurig, was er wieder mit Süßigkeiten bekämpfen müsse. Eine Endlos-Spirale wie bei vielen übergewichtigen Kindern, diagnostiziert Martin Stern, Facharzt für Ernährungsstörungen an der Tübinger Kinderklinik.
" Da gibt es natürlich auch viel Frust auf Seiten der Kinder. Und die fressen das dann sozusagen in sich hinein. Und es gibt natürlich auch noch andere Dinge: Also wenn die Kinder schwer unter Stress stehen, unter Leistungsdruck, gehänselt werden in irgendeiner Form, da versuchen sie dann durch "Futter" entsprechend auszugleichen. "
Welche politischen und medizinischen Maßnahmen legt die Tübinger Studie also nahe? Zuerst einmal noch gar keine, sagt Ansgar Thiel. Seine Studie sei vor allem eine Bestandsaufnahme, die es nun zu interpretieren und durch andere Studien zu untermauern gilt. Dann könne man konkrete Maßnahmen ergreifen: Mehr schulischen Sportunterricht für dicke Kinder, integrative Netzwerke, Ernährungsberatung - vieles ist denkbar und soll auch möglichst rasch umgesetzt werden. Denn die Zeit drängt. Zumindest einen Rückschluss legt die aktuelle Studie nämlich sehr nahe: Wenn es an gesellschaftlicher Akzeptanz fehlt, macht Übergewicht langfristig nicht nur den Körper, sondern auch die Seele krank.
" Manchmal hör ich weg, manchmal pack ich se und frag se, was des soll. Manchmal pack ich se auch und frag dann, was er nochmal gesagt hat, ich hab's nicht verstanden ... Das ist oft so, dass die Leute einen dann anschauen und schon so ein bisschen für abnormal erklären. Von: "Boa, da guck mal und: Mann, ist die Dickmann." Kommt schon alles. Also es heißt ja immer, man braucht ein hartes Fell, aber das hat man halt auch nicht immer ... Da tät ich mir jetzt keine Gedanken machen. Wenn mich jemand nicht gern hat, bloß weil ich ein paar Kilo zu viel habe, der mag mich wahrscheinlich auch nicht, wenn ich gertenschlank bin, gell? "
Falsch, sagt eine neue Studie der Universität Tübingen unter Leitung des Sportsoziologen Ansgar Thiel. Fettleibigkeit überlagert für einen außenstehende Betrachter offenbar alle anderen Merkmale. Schöne Augen, ein freundliches Lächeln - selbst solche Dinge treten zurück hinter dem Eindruck: er oder sie ist zu dick. Entsprechend dramatische Ergebnisse liefert Tiehls Studie zur Einschätzung adipöser Kinder durch ihre Altergnossen.
"Das Ergebnis ist, dass die adipösen Kinder mit Abstand am häufigsten als das am wenigsten attraktive Kind wahrgenommen werden, mit Abstand am häufigsten als das faule Kind, aber auch am häufigsten als das am wenigsten intelligente Kind bezeichnet werden. In allen Teilkategorien schnitten die schlechter ab. Auch zum Beispiel bei der Spielpartner- Präferenz. "
Unter gleichaltrigen Jungs haben es übergewichtige laut Thiels Studie dabei besonders schwer. Denn "solche wie Christopher" kommen als Spielkameraden eigentlich nicht in Frage.
"Wenn wir versuchen, eine Erklärung dafür zu finden, dann liegt es schon nahe, dass Körperlichkeit, Bewegung, auch Kraft und Dynamik in diesem Alter bei Jungs natürlich schon von extrem großer Bedeutung sind. Das zeigen auch sportwissenschaftliche Studien, dass Jungs sich in diesem Alter viel über Körperlichkeit definieren, während das bei Mädchen vorpubertär noch nicht so extrem bedeutsam ist. "
Für seine Studie hat Ansgar Thiel 450 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 15 Jahren befragt. Sie sollten adipöse Altersgenossen hinsichtlich 5 verschiedener Kriterien beurteilen: Sympathie, Spielpartnerpräferenz, Aktivität, Intelligenz und Attraktivität.
"Um Vergleiche durchführen zu können, haben wir den Kindern Fotografien vorgelegt. Darauf waren jeweils 2 adipöse Kinder, 2 Kinder im Rollstuhl und 2 normal gewichtige Kinder. Und jeweils also ein Junge und ein Mädchen."
Fazit: Das normal gewichtige Mädchen bekommt durch die Bank die besten Werte, während der adipöse Junge in allen Kategorien am schlechtesten abschneidet. Schlechter sogar als Kinder, die im Rollstuhl sitzen, sagt Tiehl.
"Wenn man sich jetzt mit Stereotypen in Bezug auf Körperlichkeit auseinander setzt, ist natürlich eine körperliche Behinderung mit Rollstuhl auch sehr stark sichtbar im sozialen Miteinander - ähnlich wie Adipositas sofort sichtbar ist, also quasi schlecht verdeckt werden kann. Dann hat man eine direkte Vergleichsgruppe, die jetzt in Bezug auf Körperlichkeit eine sichtbare Abweichung vom normalen Kind in Anführungszeichen hat. Wobei man hier aber nicht sagen kann, ob die Ergebnisse nicht auch zu einem gewissen Teil aufgrund von sozialer Erwünschtheit zustande kommen. Dass man mehr Hemmungen hat, ein Kind im Rollstuhl so stereotyp zu bezeichnen wie adipöse Kinder. "
Die Bewertung der Umwelt durch Stereotypen - landläufig auch als "Schubladendenken" bezeichnet - hilft Erwachsenen und Kindern, sich in der Welt zurecht zu finden. Aus der unüberschaubaren Fülle von Informationen werden einige wenige, vermeintlich besonders wichtige herausgefiltert. Eigentlich eine nützliche Sache. Je komplexer das Leben aber, umso einfacher die Stereotypen, vermutet Ansgar Thiel. Manche, bekommen die Kinder schon von klein auf anerzogen, glaubt er. Zum Beispiel: wer dick ist, ist selbst schuld, also entweder dumm oder faul. Wie sonst ließe sich erklären, dass in Amerika bereits 6-jährige Kinder pummelige Altergenossen als faul, verlogen, schmutzig, hässlich und dumm einschätzen.
" Wenn sie jetzt praktisch von zu Hause aus erfahren: man kann selber etwas dagegen machen oder man ist selber dafür verantwortlich. Dass die Eltern sagen: "Ja, das sollte einen Salat essen oder sowas, anstelle einen Hamburger." Dann kann natürlich sein, dass sich entsprechende Kausalzusammenhänge schon bei Kindern und Jugendlichen im Kopf festsetzen. "
Auf diese Weise sind Stigmatisierung und gesellschaftliche Ausgrenzung von adipösen Menschen in allen Altersklassen vorprogrammiert. Das belegt eine weitere Studie aus den USA, die Ansgar Thiel als Vorbildstudie herangezogen hat. Sie hat ergeben, dass die Mehrzahl der amerikanischen Collegestudenten lieber Betrüger, Ladendiebe, Kokainabhängige oder Blinde heiraten würde als eine übergewichtige Person.
" Ja, ich denke schon, dass Adipositas heute ein schwerwiegendes gesellschaftliches Problem darstellt und dass es auch notwendig ist, daran zu arbeiten. Einerseits natürlich aus den bekannten medizinischen Gründen, aber andererseits auch aus sozialen Gründen. Denn hier werden natürlich auch schon bestimmte Lebenspfade festgelegt, die sich für die Kinder und Jugendlichen später als sehr nachteilig auswirken können. "
Der zwölfjährige Christopher nimmt seit einiger Zeit an einem Abnehmprogramm der örtlichen Krankenkasse teil. Er will neue Freunde finden und nicht mehr gehänselt werden. Denn das, erzählt er, mache ihn traurig, was er wieder mit Süßigkeiten bekämpfen müsse. Eine Endlos-Spirale wie bei vielen übergewichtigen Kindern, diagnostiziert Martin Stern, Facharzt für Ernährungsstörungen an der Tübinger Kinderklinik.
" Da gibt es natürlich auch viel Frust auf Seiten der Kinder. Und die fressen das dann sozusagen in sich hinein. Und es gibt natürlich auch noch andere Dinge: Also wenn die Kinder schwer unter Stress stehen, unter Leistungsdruck, gehänselt werden in irgendeiner Form, da versuchen sie dann durch "Futter" entsprechend auszugleichen. "
Welche politischen und medizinischen Maßnahmen legt die Tübinger Studie also nahe? Zuerst einmal noch gar keine, sagt Ansgar Thiel. Seine Studie sei vor allem eine Bestandsaufnahme, die es nun zu interpretieren und durch andere Studien zu untermauern gilt. Dann könne man konkrete Maßnahmen ergreifen: Mehr schulischen Sportunterricht für dicke Kinder, integrative Netzwerke, Ernährungsberatung - vieles ist denkbar und soll auch möglichst rasch umgesetzt werden. Denn die Zeit drängt. Zumindest einen Rückschluss legt die aktuelle Studie nämlich sehr nahe: Wenn es an gesellschaftlicher Akzeptanz fehlt, macht Übergewicht langfristig nicht nur den Körper, sondern auch die Seele krank.