Archiv


Wer Flandern kennenlernen will, muss Boon lesen

Louis Paul Boon galt lange Zeit als 'der lebendigste tote Autor Flanderns'. Der 1979 Verstorbene hatte als erster flämischer Schriftsteller auch international Erfolg. Nun wird sein Werk durch eine Reihe von Neuauflagen auch wieder auf Deutsch zugänglich.

Von Volkmar Mühleis |
    "Menuett" ist der Kältepunkt in Louis Paul Boons Œuvre. Es handelt nicht nur von einem Eiskeller, es ist einer – seelisch am Gefrierpunkt, erzähltechnisch herausfordernd bis heute, ein Experiment von schneidender Konsequenz. Die Geschichte handelt von drei Figuren: einem Mann, seiner Frau, ihrer Haushilfe. Der Mann arbeitet nach dem Krieg in einem Gefrierhaus, einem Eiskeller. In drei Episoden erzählt jede Figur ihre Version der gleichen Geschichte, des gleichen ausweglosen Miteinanders.

    Die Frau hat mit ihrem Schwager ein Kind gezeugt, das sie ihrem Mann als seines vorstellt, auch wenn sie schon lange nicht mehr zusammen geschlafen haben. Der Mann nimmt es an, und schielt doch seit Langem nur auf die minderjährige Haushilfe. Diese ist kein Kind der Unschuld, sondern des Krieges – und lässt sich auf den Ehemann ein. Und die Frau? Sie lässt es zu – schließlich weiß sie, das ihr Mann ihr Geheimnis kennt. Das Dreiecksverhältnis läuft auf kein Verhängnis hinaus, doch über den Zeilen der Geschichte laufen davon abgesetzt die Schreckensmeldungen aus der Tagespresse. Man muss sich das so vorstellen:

    "Verantwortung auf sich / Zwei junge Frauen wurden des öffentlichen Verstoßes gegen die guten Sitten überführt / Die Jugend vergnügt sich jetzt mit einem neuen Spiel, das "Bestrafung von Kriegsverbrechern" heißt – Wie gefährlich dieses Spiel ist, kam ans Licht, als entdeckt wurde, daß Jugendliche einen Scheiterhaufen entzündet hatten, auf dem …"

    "Meine Hände zitterten vor Angst, während ich beruhigend ihre Brüste mit dem Zeug einschmierte. Denn ich begriff nun allmählich, daß sich alles in der Natur unter demselben Kummer und derselben Angst duckte – der Angst vor der Unabwendbarkeit von Geburt, Leben und Tod. Und wieder kam Besuch ins Haus, und der Mann sagte anzüglich und gehässig: Ja, hinein geht es wie im Spiel, aber heraus kommt es unter Tränen. Ich war sprachlos. Es wurden noch andere Belanglosigkeiten geredet, aber diese eine Bemerkung …"

    "… auf dem in einem in Papier eingeschlagenen Pappkarton ein dreijähriger Junge lag / "Bettnässer" – Ein sechzehnjähriger Junge, der jede Nacht ins Bett genässt hatte, schreibt uns: Ich danke Ihnen für das …"

    Der Dreivierteltakt eines Menuetts wird so zwischen den drei Figuren und den laufenden Nachrichten gehalten. Die Nachrichten bilden einen Mahlstrom der Gewalt: Vergewaltigung, Selbstmord, Kinderschändung, Diebstahl, Totschlag, Pornographie – die Kette der Ereignisse zeichnet das Bild eines alltäglichen Ausnahmezustands, einer rohen Gesellschaft, die nach dem Krieg ihn nur mit anderen Mitteln fortführt. Der Protagonist sammelt diese Zeitungsmeldungen wie ein gebannter Chronist – unfähig zur Teilnahme, fasziniert und erschreckt zugleich. Die Meldungen in dem Buch wurden von Louis Paul Boon zum Teil selbst seit den dreißiger Jahren bewahrt, so der flämische Literaturwissenschaftler Tom Van Imschoot:

    "In seinem allerersten Buch, das er nach seiner Kriegsgefangenschaft 1941 publiziert hat, schreibt Boon über die Faszination eines Mannes für ein junges Mädchen, das ermordet wird. 15 Jahre später veröffentlicht er ein Gedicht, das in seiner Art und Weise die gesellschaftlichen Mechanismen aufgreift, die zum Mord an der ‚kleinen Eva’, wie es heißt, geführt haben. Das Gedicht basierte auf Zeitungsausschnitten aus den dreißiger Jahren, über den Mord an einer Minderjährigen, die Boon gesammelt hat."

    Das minderjährige Mädchen in Menuett ist kein Einzelfall im Werk des flämischen Erzählers. Immer wieder entzündet er an der Faszination eines erwachsenen Mannes für ein Mädchen die Dramatik seiner Geschichten: So handelt sein Hauptwerk, Der Kapellekensweg, davon, wie der Erzähler selbst sich in seine Hauptfigur, ein junges Mädchen, verliebt, und dadurch den Roman nicht beenden kann, der Roman förmlich auseinanderfällt, zu einem einzigen literarischen Experiment. Das ,Lolita-Motiv’ dient zum einen der psychischen Suggestion, zum anderen der sozialen Aufschlusskraft – in Boons Erzählungen sind die Mädchenfiguren immer Teil einer Gesellschaft, deren Brüchigkeit, deren hauchdünne Zivilsation mit ihnen aufscheint. Sie verkörpern eine Utopie der Unschuld, die aber von ihren eigenen Protagonistinnen noch untergraben wird. In Menuett taucht diese Utopie nur als äußerstes Verlangen auf, ohne einen Platz in der Geschichte zu finden – selbst das Neugeborene erscheint nur im Strang jener familiären Verstrickung, durch die es die Welt erblickte. Diese Dramatik lebt natürlich von der hermetischen Zuspitzung, der existentiellen Überhöhung, doch zugleich gibt die nüchterne Berichterstattung über dem Text den Takt an, in dem sich die Figuren bewegen. Diese Nüchternheit, die einem nach wie vor vertraut klingt, wird hier radikal an der Existenz gemessen. Und diese Wechselwirkung öffnet den Text weit über die literarischen Moden seiner eigenen Entstehungszeit, der fünfziger Jahre, hinaus. Tom Van Imschoot meint zu Boons literarischem Erbe:

    "Seit Louis Paul Boon und Hugo Claus gestorben sind, ist sicher eine große Lücke in der flämischen Literatur entstanden. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die literarische Welt selbst verändert hat. Autoren können zwar heute eine viel größere mediale Aufmerksamkeit erregen, aber arbeiten nach meinem Eindruck doch weniger experimentell und stringent an ihrer Poetik. Zur Zeit von Boon und Claus war Literatur neben Film noch das zugänglichste Medium und fand seinen Platz mitten in der Gesellschaft. Mit der gesellschaftlichen Bedeutung ging ein ganz anderer Drang zur Erneuerung einher, gegen die ältere Generation. Das fehlt heute. Anstatt gegen Boon und Claus anzuschreiben, umarmen Tom Lanoye oder Erwin Mortier die beiden. Die moderne Dynamik, durch Brüche neue Akzente zu setzen, wirkt hier nicht mehr. Die Literatur ist marginaler geworden und muss auf andere Art ihre Qualität beweisen."

    Es mag übertrieben klingen, aber es ist noch heute so: Wer Flandern kennenlernen will, muss Boon lesen, in all seiner Bandbreite. Kein anderer flämischer Autor hat die Mentalität, die Landschaft, die Stimmung seiner Herkunft so zwingend, subtil und leidenschaftlich in seiner Sprache zu Wort kommen lassen, einer ebenso rauhen wie geschmeidigen, packenden wie mäandernden Sprache, in ausufernden Romanen und kleinsten Skizzen. Es wäre zu hoffen, dass der Alexander Verlag, in dem Menuett nun erschienen ist, tatsächlich eine Reihe von Boons Werken wieder oder erstmals auf Deutsch präsentieren kann, so wie es im Klappentext zu Menuett bereits in Aussicht gestellt wird. 24 Bände zählt die hervorragend edierte, niederländische Werkausgabe. Davon lässt sich noch vieles ins Deutsche übertragen. Wenn man an dieser Stelle einen Wunsch äußern darf, dann bitte das Märchenbuch "Blaubart im Wunderland" nicht vergessen!

    Louis Paul Boon, "Menuett!"
    Aus dem Niederländischen von Barbara und Alfred Antkowiak
    Alexander Verlag
    152 Seiten, 14,90 Euro