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Wer hat Seehofers Modelleisenbahn gesehen?

Für seinen Text über den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer hatte der "Spiegel"-Redakteur René Pfister den Henri-Nannen-Preis erhalten. Gestern nun wurde er dem Journalisten wieder aberkannt. Pfister hatte eingestanden, dass er nie gesehen habe, wie Seehofer mit seiner Modelleisenbahn spielt. Dabei startete so sein Porträt.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 10.05.2011
    Journalismus besteht zu 50 Prozent aus Nase, zu 30 Prozent aus Stil und zu 20 Prozent aus Wissen. Das galt bis jetzt auch beim Henri-Nannen-Preis, der zu 110 Prozent aus Preisträgern von Gruner+Jahr, Zeit und Spiegel besteht, wobei der Spiegel wiederum zu 25,5 Prozent aus Gruner+Jahr besteht. Aber letzteres tut nichts zur Sache, weil die zwölfköpfige Jury des Henri-Nannen-Preises selbstredend unabhängig ist.

    Sie besteht auch nicht nur aus den Chefredakteuren des Spiegels, der Zeit und des Gruner+Jahr-Produktes Stern, sondern auch aus solch altgedienten Schlachtrössern der investigativen Reportage wie Elke Heidenreich oder Günter Grass' Verleger Gerhard Steidl.

    Dieser erlauchten Gesellschaft muss gehörig der Schreck in die Glieder gefahren sein, als sie bei der jüngsten Preisverleihung aus dem Mund des Gekürten erfuhr, wie Journalismus funktioniert. Nämlich nach der Devise: "Anything goes" – und zwar solange die Fakten stimmen. Dass irgendetwas an René Pfisters ausgezeichnetem Porträt des CSU-Vorsitzenden Seehofer falsch sei, hat niemand behauptet. Anstoß nahm die Jury aber daran, dass Pfister in seiner Reportage etwas beschreibt, was er nicht mit eigenen Augen gesehen hat: Seehofers Modelleisenbahn.

    Aus diesem absurden Detail wurde jetzt ein genauso absurder Skandal, der allerdings eine Menge Erkenntnisse über die Lage des deutschen Journalismus' heute bietet. Denn zum einen stehen die Qualitätsmedien schwer unter Druck: die Auflagen bröckeln, die Werbeeinnahmen brechen ein, hochwertige Texte mit exklusivem Inhalt lassen sich immer weniger finanzieren. Auch schwindet generell das Publikumsvertrauen – nicht nur wegen großer Fälschungsskandale und kleiner, aber alltäglicher Unkorrektheiten, sondern auch, weil das Internet einen ungeheuren Strom an Gegeninformationen bietet, die der Glaubwürdigkeit der sogenannten Leitmedien am allermeisten zusetzen.

    Zum anderen ändert sich die soziale Gestalt des Journalismus gerade dramatisch. Der Zugang zum Beruf verengt sich immer mehr auf vorgezeichnete schulische und akademische Wege. Klassischerweise waren Presseleute ein wilder Haufen von Studienabbrechern und sonst wie angeknacksten Existenzen, die sich darin mit Künstlern vergleichen konnten, dass sie als einzige zwingende Karrierevoraussetzung ihr Talent vorbrachten und sich so über die üblichen bürgerlichen Anforderungen hinwegsetzten.

    Es ist genau dieses "Anything goes", das auch die Arbeit selbst kennzeichnet und das inzwischen mehr und mehr als problematisch erachtet wird. Natürlich schreibt jeder Schreibende auch Dinge, die er nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Die Magie des Schreibens besteht ja gerade darin, trockenen und krümeligen Informationen, egal woher sie stammen, Leben einzuhauchen und jenen Schwung zu geben, den man Sinn nennt. Alles Geschriebene enthält eine große Portion Suggestion. Das beginnt schon damit, dass der Autor, wenn er von einem Ereignis im Präsens berichtet, dieses Präsens fingiert: in Wirklichkeit sitzt er nämlich an irgendeinem Schreibtisch, still und entrückt, keineswegs mitten im behaupteten Getümmel.

    So kommt es generell im Journalismus nicht darauf an, wo einer ist, sondern was einer weiß. Diese simple Tatsache ist zweifellos gefährlich: sie öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. Aber mit der Stechuhr-Mentalität der Nannen-Preis-Jurymehrheit lässt sich das Problem nicht lösen. Der Autor muss keine Rechenschaft darüber ablegen, wie sich Erlebtes und Erfahrenes in seinem Text abgrenzen lassen. Nur richtig muss es unter allen Umständen sein – jedenfalls im Journalismus.