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Wer kommt nach den Zehn?

Wenn es um die Europäische Union und um die Erweiterung geht, sind die Europäer zwiegespalten. Inzwischen findet eine knappe Mehrheit zwar, dass die Erweiterung um die zehn neuen Staaten keine so schlechte Sache ist. Doch wenn die Frage gestellt wird: "Wie stehen Sie zu Brüssel und zur EU insgesamt", sind die Antworten oft alles andere als ermutigend. Vor allem in Deutschland macht sich Beklommenheit breit. Das Volk will derzeit nicht so wie seine Politiker. Entsprechend "alarmiert" ist EU-Erweiterungs-Kommissar Günter Verheugen.

Von Christiane Kaess und Gerhard Irmler |
    Wir haben in Deutschland zum ersten Mal seit Beginn der europäischen Integrationsgeschichte den Zustand, dass die Mehrheit der Bevölkerung sagt, die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union ist keine gute Sache. Das ist wirklich alarmierend. Und das ist das Ergebnis der schlechten Botschaften des Jahres 2003.

    Kein gutes Omen also für die bevorstehenden Europawahlen. Zumal sich die europäischen Volksvertreter aus den alten Mitgliedsstaaten auch noch für ihre recht üppigen Spesen und Pauschalen rechtfertigen müssen. Dies fördert nicht gerade das Engagement der Bürger für Europa.

    Die schlechten Nachrichten, von denen EU-Erweiterungskommissar Verheugen spricht, reißen auch im Jahr 2004 nicht ab. Vor acht Tagen erst stimmten die griechischen Zyprer gegen eine Wiedervereinigung ihrer Insel. Damit treten der Europäischen Union nicht zehn Länder bei, sondern neuneinhalb. Die türkische Bevölkerung Zyperns bleibt außen vor. Und so kann es denn durchaus sein, dass Bulgarien und Rumänien früher in der EU sind als das Mitgliedsland Zypern wiedervereinigt ist - womöglich sogar auch Kroatien, mit dem die EU-Kommission neuerdings Beitrittsverhandlungen empfiehlt. Der Fall Zypern hat die Erweiterungs-Euphorie des Erweiterungs-Kommissars Günter Verheugen nachhaltig gedämpft. Doch schon zuvor war Günter Verheugen merklich leiser und nachdenklicher geworden:

    Wir brauchen jetzt ein Europa, dass sein politisches Gewicht einbringt in die strategische Diskussion über die Lösung globaler Konflikte, und dazu muss es stark und geeint sein. Aber dazu muss es nicht grenzenlos sein. Was die politische Geographie Europas angeht, kommen wir relativ schnell jetzt an unsere Grenzen. Für lange Zeit wird die Westgrenze der früheren Sowjetunion mit Ausnahme der baltischen Staaten die Ostgrenze der Europäischen Union sein, für sehr lange Zeit.

    Also nichts mit einem Beitritt von Moldawien, der Ukraine gar oder Georgien, dessen junger und westlich orientierter Präsident Michail Saakaschwili ein einziges großes politisches Ziel hat, sein Land in die EU zu führen. Und wie steht es mit Albanien oder Mazedonien? Auch dort ist ein EU-Beitritt das beherrschende politische Thema. Wie steht es mit Bosnien-Herzegowina oder Serbien, unbestreitbar ein europäisches Land. Dessen Premierminister Kostunica erklärt den EU-Beitritt ebenfalls zu einem vorrangigen strategisch-politischen Ziel.

    Europa ist unser Weg und unsere Bestimmung, gerade wegen der historischen Situation und der geographischen Lage Serbiens. Ich will Ihnen aber noch einen anderen Grund nennen: Mit der Erweiterung wird Serbien zum Nachbarn einiger EU-Staaten. Allein deshalb ist Stabilität in Serbien von allergrößter Bedeutung.

    In Brüssel und Berlin, in Paris und London, aber auch in anderen europäischen Hauptstädten winken die Politiker ab. Wo käme man hin, wenn jeder Nachbar eines EU-Landes aus dieser Tatsache ein Beitrittsrecht herleiten wollte. Im übrigen sei der Balkan noch lange nicht so weit, an einen Aufnahmeantrag überhaupt zu denken. Ausnahme Kroatien und unter gewissen Voraussetzungen auch Mazedonien.

    Einen Aufnahmeantrag kann im Prinzip jedes Land stellen, das die so genannten "Kopenhagener Kriterien" erfüllt. Als Bedingungen für einen Beitritt hatte die EU 1993 auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen drei Gruppen von Kriterien formuliert.

    1. Das "politische Kriterium": Demokratische und rechtstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte, institutionelle Stabilität sowie Achtung und Schutz von Minderheiten.

    2. Das "wirtschaftliche Kriterium": Eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten.

    3. Der so genannte "Acquis-Communautaire": Die Fähigkeit, Verpflichtungen und Ziele zu erfüllen, die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsen. Das heißt: die Übernahme des gesamten Regelwerkes, des "gemeinschaftlichen Besitzstandes", der 80.000 Seiten an Rechtstexten umfasst.

    Ihre geographischen Grenzen hat die Europäische Union hingegen nie definiert. Theoretisch könnten auch Israel beitreten wollen oder Russland, was der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi in seiner Eigenschaft als amtierender EU-Ratspräsident vor nicht allzu langer Zeit befürwortet hatte.

    Die Frage: "Wie groß ist Europa?" Reicht es vom Atlantik bis zum Ural, wie sich das de Gaulle einst wünschte, oder soll die EU auf maximal 30 Staaten beschränk bleiben, weil sie sonst zu implodieren droht? Eine Frage, die derzeit kein Regierender in Europa beantworten will. Nicht nur wegen des gewaltigen Zündstoffs, der sich dahinter verbirgt, sondern weil es darauf auch keine einfache Antwort gibt. Bereits mit 25 Mitgliedsstaaten hat die Europäische Union eine kritische Größe erreicht.

    Wenn Sie hingucken, was die Menschen wollen, sie wollen ja mehr Europa. Sie wollen ein Europa, dass außen- und sicherheitspolitisch mit einer Stimme spricht. Sie wollen mehr Europa bei der Innen- und Rechtspolitik, also Schutz vor grenzüberschreitender Kriminalität, Menschenhandel, Waffenhandel, Drogen, Terrorismus. Sie wollen mehr Europa, wenn es darum geht, unsere wirtschaftlichen Kräfte zu stärken. Also sollten wir ihnen dieses Mehr-Europa auch geben. Es scheitert nach wir vor am nationalen Egoismus, und wenn wir als Europäer nicht in der Lage sein werden, unser Gewicht einzubringen, dann werden wir eben eines Tages zusammenbrechen, weil ein wirtschaftlicher Riese eben nicht auf Dauer in der Gestalt eines politischen Zwergs daherkommen kann.

    Also mehr Vertiefung statt Erweiterung?

    Wir brauchen jetzt eine Phase der Konsolidierung, der Konzentration auf unsere eigentlichen Aufgaben, und vor allen Dingen brauchen wir jetzt eine Phase, in der wir Europa fit machen für den wirtschaftlichen Wettbewerb in einer globalisierten Welt. Sonst nützt uns die schönste Erweiterung nichts, wenn die wirtschaftliche Basis nicht mehr da ist, um das auch verkraften zu können.

    Mit Sicherheit verkraften muss die EU noch den Beitritt Bulgariens, geplant für 2007, aber auch den Rumäniens. In jüngster Zeit gibt es bei den Rumänen erhebliche Probleme mit der Korruption. Über die ereifert sich der EU-Abgeordnete und Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Europa-Parlaments, Elmar Brok:

    Wir müssen sehen, dass es ja ein besonderes Maß an Korruption ist, und wir müssen darauf achten, dass dieses Krebsgeschwür, das es in unterschiedlicher Stärke überall gibt, sich nicht in der Europäischen Union festfrisst, und auf diese Art und Weise unsere Entwicklungsmöglichkeiten insgesamt gefährdet.

    Auch die Rumänien-Berichterstatterin des Europa-Parlaments, Emma Nicholson of Winterbourne, nimmt kein Blatt vor den Mund:

    Viel ist noch zu tun in Rumänien, um die politischen Beitrittskriterien zu erfüllen. Es geht um die Arbeitsweise des Parlaments, die Beziehungen zwischen Exekutive und Judikative und die Anwendung der Gesetze. Hinter allem muss man Fragezeichen setzen. Es geht um Korruption, die in Rumänien weit verbreitet ist, in der öffentlichen Verwaltung, in der Justiz, in den Ministerien. Dies alles zusammengenommen macht die Anwendung von Gesetzen oft unmöglich. Korruption spielt auch eine Rolle im Zusammenhang mit der Adoption von rumänischen Kindern im Ausland. Ein Moratorium wurde ignoriert und zur Seite geschoben.

    EU-Kommissar Günter Verheugen droht im Falle Rumänien unversehens zu einem "Erweiterungs-Verhinderungs-Kommissar" zu werden, wenn das Land nicht bald seine Hausaufgaben macht - so wie sie die EU Rumänien auferlegt hat.

    Rumänien braucht einerseits die Ermutigung, braucht aber andererseits aber auch eine ganz klare Antwort auf die Frage, was noch geschehen muss. Es geht also um die Reform der Verwaltung, um die Justizreform, um die Korruptionsbekämpfung, und ich sage ausdrücklich, in die Bekämpfung der Korruption muss das politische System einbezogen werden. Also kleine Beamte vor Gericht zu stellen, das reicht nicht aus. Es müssen auch einmal die Großen vor Gericht gestellt werden. Wir brauchen eine überzeugendere Verwaltung der europäischen Mittel, und wir brauchen auch eine bessere Vorbereitung Rumäniens in der Vorbereitung der Verhandlungsposition.

    Den rumänischen Präsidenten Ion Iliescu ficht dies nicht an:

    Natürlich gibt es noch Probleme, und wir sind uns deren bewusst. Ich gehe jedoch davon aus, dass wir an den gemeinsamen Zielen, die wir mit der Kommission und dem Rat erarbeitet haben, festhalten.

    Im Klartext: Rumänien geht ungeachtet der Kritik davon aus, dass es im Jahre 2007 Mitglied der Europäischen Union ist.
    Der Europäische Rat aus den Staats- und Regierungschefs kümmere sich, wie schon im Falle Zypern, wieder einmal um nichts. So beklagt es bitter die Rumänien-Berichterstatterin des Europaparlaments.

    Der Europäische Rat geht weiterhin davon aus, dass in Rumänien alles zum Besten steht und dass der Beitrittstermin 2007 eingehalten wird. Dies erzählt man uns seit Rom im letzten Jahr. In Wahrheit ist dies nicht so.

    Gute Noten erhält dagegen Bulgarien, das einen weiten Weg zurückgelegt hat - von einem Sowjet-Sozialismus düsterer Prägung zu einem durchaus EU-kompatiblen aufstrebenden Land. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen:

    Was Bulgarien angeht, so teile ich die Einschätzung und möchte auch auf meiner Seite feststellen, dass bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden sind.

    Zuvor hatte der Bulgarien-Berichterstatter des Europa-Parlaments, der Brite Geoffrey van Orden bemerkenswerte Fortschritte auf dem Weg nach Europa festgestellt. Nur die Arbeitslosigkeit sei in Bulgarien noch immer viel zu hoch, unter Jugendlichen, älteren Menschen, Frauen, Behinderten und Angehörigen von Minderheiten.

    Das Wichtigste ist, dass der Beitritt Bulgariens nicht mit dem eines anderen Landes verknüpft wird. Dies geht aus meinem Bericht klar hervor. Bulgarien ist Teil des derzeitigen und unwiderruflichen Erweiterungsprozesses. Hier wird das Prinzip der eigenen Anstrengung honoriert.

    Dies freut - verständlicherweise - den bulgarischen Premierminister Simeon Saxecoburggotski, der in perfektem Deutsch antwortet:

    Die Erwartungen sind hoch, was immer etwas bedauerlich ist, weil dann kommen gewiss Enttäuschungen, aber das ist normal. Was wichtig ist, ist, dass wirklich ein sehr guter Prozentsatz der Bevölkerung völlig für die EU wie für die Nato ist.

    Ein Sonderfall in der Erweiterungsdiskussion ist die Türkei. Ein möglicher Beitritt der Türkei zur EU spaltet schon jetzt die politische Klasse Europas in zwei fast gleich große Lager: eine knappe Mehrheit der Europäer ist dagegen. Bundeskanzler Gerhard Schröder will sich, dessen ungeachtet, für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stark machen. Dies hat er dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan erst dieser Tage wieder versprochen, bei der Einweihung der türkisch-deutschen Handelskammer in Köln.

    Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, EWG, hat bereits 1963 mit der Türkei das so genannte "Abkommen von Ankara" zur Gründung einer Assoziation geschlossen. Dieses Abkommen enthält in Artikel 28 auch eine Beitrittsperspektive. Es spreche wenig dafür, dass die Türkei die festgelegten Kriterien für die Aufnahme von Verhandlungen mit der EU nicht erfüllen werde. So formulierte es Bundeskanzler Gerhard Schröder gegenüber seinem türkischen Gast gönnerhaft.

    Dann gibt es überhaupt gar keinen Grund, ein 40 Jahre lang gegebenes Versprechen, nämlich Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, nicht einzuhalten. Die Türkei kann sich insofern auf Deutschland verlassen.

    Auf Frankreich kann sich die Türkei nicht mehr verlassen. Staatspräsident Chirac setzt sich zwar für eine langfristige Beitrittsperspektive ein, nicht aber so seine bürgerliche Regierungspartei UMP. Die ist umgeschwenkt und hat sich in der Türkei-Frage der Mehrheitsmeinung der deutschen Christdemokraten und Christsozialen angeschlossen. Die lehnen einen EU-Beitritt eher ab. Die bürgerlichen Parteien in Europa sind jedoch höchst uneins darüber, wie sie sich gegenüber der Türkei in der Beitrittsfrage verhalten sollen. Der Fraktionschef der Konservativen und Christdemokraten im Europa-Parlament, Hans-Gert Pöttering:

    Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen in unserer Fraktion, ob die Türkei Mitglied werden sollte oder nicht. Wir erwarten von der Kommission, dass Sie keine politisch opportunistische Empfehlung geben, sondern dass Sie das Recht einhalten, dazu sind Sie als Kommission, als Hüterin der Verträge verpflichtet, und an diesem Maßstab werden wir Sie messen.

    Keinen Hehl aus seiner Ablehnung eines Türkei-Beitritts macht der konservative baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel.

    Die Türkei ist für mich kein europäisches Land. Das ist aber nicht ein Problem des Glaubens, das ist eine Feststellung, die geographisch und geschichtlich bedingt ist. Die Antwort auf die geopolitische Situation der Türkei heißt für mich Nato. Ich möchte auch nicht die Intellektuellen in der Türkei, die westlich orientiert sind, schrecken, sondern ich möchte sie unterstützen. Ich bin nicht der Meinung, dass man der Türkei ins Gesicht schlagen darf. Das alles führt mich dazu, dass die Türkei wirklich einen herausgehobenen, auch von anderen herausgehobenen Sonderstatus bekommt, aber ich bin nicht für eine Vollmitgliedschaft.

    Auch die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel spricht sich für einen "Sonderstatus" der Türkei aus und schlägt ihr eine strategische Partnerschaft vor.

    Die Christlich-Demokratische Union ist zum jetzigen Zeitpunkt an dieser Stelle zweifelnd. Dennoch wird dieses Thema in großer Freundschaft mit der Türkei stattfinden um deutlich zu machen, dass wir eine spezielle Partnerschaft wollen, einen so genannten dritten Weg mit der Türkei, weil aus sicherheitspolitischen, geostrategischen Gründen, aus Gründen der Freundschaft durch die Verbundenheit wir auf engste Beziehungen und auf spezielle Beziehungen mit der Türkei angewiesen sind.

    Die türkische Regierung hat derartigen Überlegungen eine klare Absage erteilt. Sie räumt aber gleichzeitig ein, dass noch viel zu tun sei, um Beitrittsverhandlungen aufnehmen zu können. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen hat also Recht, wenn er fordert:

    Stärkung der Unabhängigkeit und der Arbeitsweise der Justiz, Gesamtrahmen für die Ausübung der Grundfreiheiten, der muss so geklärt werden, dass alle Überbleibsel des autoritären Erbes der Vergangenheit verschwinden. Es geht weiterhin um die Angleichung der Beziehungen zwischen der zivilen Gewalt und dem Militär. Es geht um die Lage der Binnenvertriebenen im Südosten des Landes und ihre Rückkehr in ihre Dörfer, und es geht auch um die Frage der Religionsfreiheit, ganz besonders sogar. Ich muss sagen, dass immer wieder uns Nachrichten erreichen, die uns zeigen, dass der Reformprozess nur zögernd angenommen wird.

    Doch fast beschwörend fügt Verheugen hinzu:

    Ich bin, wie Sie wissen, für eine ganz vorurteilslose, offene, auch streitige Debatte über die Grundsatzfrage, ob die Türkei beitreten soll oder nicht. Ich bitte immer nur darum, den Reformern in der Türkei nicht den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

    Der Europäische Rat hat auf seinem Gipfel von Helsinki, im Dezember 1999, die Türkei als Betrittskandidat offiziell anerkannt. Verhandlungen werden erst aufgenommen, wenn die Türkei die "Kopenhagener Kriterien" vom Juni 1993 erfüllt. Die Staats- und Regierungschefs der EU wollen Ende 2004 über den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entscheiden, wenn ein Bericht und eine Empfehlung der Europäischen Kommission vorliegen. Die türkische Regierung misst diesem Zeitpunkt eine ganz besondere Bedeutung zu, ist sich aber durchaus bewusst darüber, dass die Beitrittsverhandlungen selbst längere Zeit in Anspruch nehmen werden. Die Europäische Union hat in mehreren so genannten "Beitrittspartnerschaften" die Ziele und Prioritäten bestimmt, die von der Türkei kurz- und mittelfristig erfüllt werden müssen. Auf dieser Grundlage hat die türkische Regierung ein umfangreiches "Nationales Programm" entwickelt. Es enthält einen Katalog von Einzelmaßnahmen, die notwendig sind um den europäischen Rechtsbestand, den "acquis communautaire" zu übernehmen. Verheugen:

    Die Übernahme des Gemeinschaftsrechts ist der Gegenstand von Beitrittsverhandlungen, nicht die Voraussetzung. Die Bedingungen für die Verwirklichung der Mitgliedschaftsoption der Türkei sind klar und eindeutig definiert. Die Beitrittspartnerschaften, die wir als Instrument unserer Zusammenarbeit entwickelt haben, haben sich außerordentlich gut bewährt, den Reformprozess voranzubringen.

    Bei der praktischen Anwendung der reformierten Gesetze und Verordnungen gibt es noch viele Defizite, beklagt auch Elmar Brok, der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im Europa-Parlament.

    Bei der Erfüllung der politischen Kriterien reicht es nicht aus, sie in den Gesetzgebungsprozess getan zu haben, sondern sie müssen in die Praxis umgesetzt werden. Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte dürfen nicht nur in der großen Nationalversammlung beschlossen sein, sondern sie müssen auch beim Amtsrichter in Ost-Anatolien angekommen sein, und hier habe ich meine Zweifel, ob dieses bis November möglich sein wird.

    Die Argumente gegen einen Türkei-Beitritt sind von höchst unterschiedlicher Qualität: es sind wirtschaftliche, bevölkerungspolitische, christlich- abendländische. Politisch-strategische Ablehnungs-Gründe sind nicht darunter. Geopolitisch betrachtet ist die Türkei für die Europäische Union von höchster Bedeutung. Die Türkei drängt mit aller Macht in die Europäische Union und will nun das Versprechen von einst eingelöst haben: dass sie ein gleichberechtigtes Mitglied in der Europäischen Union sein wird. Die Europäer, kritisiert die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, hätten dies aber nie wirklich ernst gemeint und sich gegenüber der Türkei stets scheinheilig verhalten:

    Was Europa falsch gemacht hat über die letzten 40 Jahre ist, dass man immer wieder Hoffnungen gemacht hat, immer unter dem Motto: es wird ja schon nicht dazu kommen. Und diese Art von Politik ist eine Politik, die kann vergiftender auf die Dauer wirken als eine Politik, die ehrlich sagt, was machbar ist und was nicht.

    Was machbar ist und was nicht, werden die EU-Staats- und Regierungschefs auch am Ende dieses Jahres nicht sagen. Dann, wenn die Kommission die Aufnahme oder vorläufige Ablehnung von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei empfiehlt.
    Um diese Grundsatzfrage hat man sich bislang erfolgreich herumgedrückt, und es spricht nichts dafür, dass sie noch in diesem Jahr entschieden wird. Zumal die Union ja auch nie definiert hat, wo ihre Grenzen liegen.