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Wer leiden kann, muss nicht vernünftig werden

Wir befinden uns in einem Drama, in einem spannenden Drama, dessen Ende noch nicht geschrieben ist. Ob es eine Tragödie wird oder eine Komödie, ist ebenfalls noch nicht ausgemacht. Das Drama trägt den Titel: "Vom Überleben der Gattung", mit der Menschheit als Held der Handlung.

Von Robert Schurz | 28.05.2007
    Dieser Held, blind und getäuscht, wie er ist, betreibt seinen eigenen Untergang. Der Klimawandel, die Überbevölkerung, die riskanten wissenschaftlichen Großprojekte, die Vernichtung der eigenen psychischen Gesundheit sind nur einige der Aspekte des Vernichtungsfeldzuges, die der Mensch gegen sich selbst begonnen hat.

    Die Frage des Dramas ist: Wer kann den Gang des Verhängnisses aufhalten? Muss der Titelheld erst bittere Not erfahren, bevor er umkehrt, und wird es dann zur Umkehr nicht schon viel zu spät sein? Oder werden die Auguren der Vernunft sich rechtzeitig Gehör verschaffen können? Vielleicht erbarmt sich ein Gott und offenbart den tragischen Gang der Dinge.

    Nach den Regeln der antiken Tragödie geht die Krisis, also die Krise der Katharsis, der inneren Reinigung, der Läuterung voran. Die Läuterung wiederum bewirkt eine Umkehr: der Bösewicht wird gut, der Getäuschte sieht endlich seinen Irrtum ein und der Hartherzige wird milde.

    Rainer Maria Rilke fasste das so zusammen: Eine gelungene Tragödie erkenne man daran, dass den Zuschauer das Gefühl überfalle, er müsse von nun an sein Leben ändern.

    Allein schon im antiken Hellas ging die Klage, dass das Theater nur sehr bedingt Einfluss auf die Tugendhaftigkeit der Menschen habe; zwar gab es die Erschütterung sehr wohl, das Publikum stimmte laut in das Wehklagen der Tragöden ein und vielleicht gingen die Menschen auch ein paar Tage verklärt durchs Leben, aber es gab keine nachhaltige moralische Erziehung der Hellenen. Deshalb war schon bei Aristoteles klar: Auf das Mitfühlen, Mitleiden sollte man, wenn man bei den Menschen eine Veränderung erreichen will, nicht alleine setzen.

    Vielmehr wäre auch an die vernünftige Einsicht zu appellieren. Das bürgerliche Trauerspiel realisierte diesen aristotelischen Auftrag: Es sah die Aufgabe der Tragödie darin, Erkenntnisse zu vermitteln, wobei das Mitleid, die sinnliche Erfahrung überhaupt zum Mittel wurde. Die Bühne wurde zur Aufklärung, wobei das sinnliche Moment immer auch Vorbildcharakter haben sollte.

    Es war Lessing, der das bürgerliche Trauerspiel zum Projekt erkor, und nicht zufällig stammt von ihm auch die Schrift: "Die Erziehung des Menschengeschlechts". Dort wird am Beispiel des jüdischen Volkes dargestellt, wie der Erziehungsplan funktioniert. Zunächst straft und belohnt Gott sein Volk. Diese un-mittelbar sinnliche Einwirkung entspricht dem Kindheitsalter der Menschen. Im Jugendalter lernt die Menschheit, sich mit dem ewigen Leben zu beschäftigen, sich also gewissermaßen in der Antizipation späterer Handlungsfolgen zu üben. Wenn ich hier und jetzt gut bin, mag ich zwar hier und jetzt Nachteile haben, allein die späteren Folgen meiner Handlung werden mich belohnen. Kurzum: Wenn ich die andere Backe hinhalte, komme ich ins Paradies. In diesem Stadium wirkt Gott durch die Offenbarung. Im Erwachsenenalter der Menschheit schließlich, wird die göttliche Offenbarung in Vernunft übersetzt.

    Bei Lessing heißt es:

    "Das Wort Geheimnis bedeutete, in der ersten Zeit des Christentums, ganz etwas anderes, als wir itzt darunter verstehen; und die Ausbildung der geoffenbarten Wahrheiten in Vernunftswahrheiten ist schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll. Als sie geoffenbaret wurden, waren sie freilichnoch keine Vernunfts-wahrheiten; aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden. Sie waren gleichsam das Fazit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraussagt, damit sie sich im Rechnen einigermaßen danach richten können. Wollten sich die Schüler an dem vorausgesagten Fazit begnügen: sie würden nie gut rechnen lernen.

    Als moralische Erziehungsanstalt konnte das bürgerliche Drama auch nicht die gewünschte Wirkung entfalten; später war es der so genannte sozialistische Realismus, der an dieser Idee der Bühne als Ort der Erziehung festhielt, aber schon bei Bert Brecht ist eine andere Tendenz zu sehen.

    Die Theorie der Verfremdung verfolgt nicht mehr das Konzept: Einsicht durch Aufklärung, sondern Einsicht durch Provokation. Durch ungewöhnliche Arrangements soll der Zuschauer irritiert werden und auf Grund dieser Irritation mit dem Nachdenken beginnen. Die Provokation hat zweifellos ein aggressives Moment: Wenn Peter Handke in den späten sechziger Jahren das Publikum beschimpfen lässt, so scheint diese Provokation auf die Spitze getrieben zu sein; allein die Dadaisten gingen mehr als fünfzig Jahre früher schon wesentlich weiter, und beschmierten Sitzplätze im Theater mit Leim.

    Sowohl die Beschimpfung des Publikums als auch dessen Misshandlung mit klebenden Sitzflächen zeigt, dass die Provokation als Aggression letztlich darauf aus ist, dem Zuschauer ein Leid zuzufügen. Der Urgestus dazu ist das Wachrütteln oder sogar die Ohrfeige, die zur Einsicht führen soll. In letzter Konsequenz soll der körperliche Schmerz zu einer Läuterung verhelfen, und es dürfte nicht selten die geheime Phantasie diverser Dramatiker gewesen sein, das Publikum mal so richtig zu ohrfeigen.

    Es ist ein alter und bis dato nicht gelöster Streit, was mehr zur Erziehung des Menschengeschlechts beiträgt: Bestrafung oder Belohung. Die empirische Psychologie, deren Menschenbild an Ratten und Tauben orientiert ist, hat dazu zahlreiche Experimente angestellt, und man kam schließlich darauf, dass die Frage in dieser einfachen Form "Belohnung oder Bestrafung" nicht zu beantworten ist. So differenzierte man nach der Art der Aufgabe, nach der Nachhaltigkeit des Gelernten und nach dem Persönlichkeitstyp. Schließlich sah man ein, dass beim Menschen alles doch viel komplizierter ist als bei Ratten und Tauben, da Menschen sowohl Persönlichkeit als auch Einsichtsfähigkeit haben, zumindest der Theorie nach.

    Länger schon als die Psychologie hat sich die Pädagogik mit der Alternative von Belohnung und Bestrafung beschäftigt. Dabei wurde die Effektivität von Strafen zwar immer wieder relativiert, allein kurzfristig wirkt die Androhung von Leiden stärker als das In-Aussicht-Stellen einer Belohnung. Das ist die Idee der Zucht. Das Kind wächst in Furcht und Schrecken auf; das bringt zwar langfristig Nachteile mit sich, aber was ist, wenn die Zeit drängt, und man kurzfristig etwas zu erreichen sucht?

    Seit einiger Zeit sind die so genannten "boot-camps" populär geworden. Jugendliche, auf die mit Belohung und Vernunft kaum mehr eingewirkt werden kann, werden dort einer Behandlung unterzogen, die auf Terror basiert; Angst und Schrecken werden verbreitet, und am Ende kommt ein kleinlautes Bürschchen heraus, das wieder gelernt hat, Vater und Mutter zu ehren, das heißt, institutionelle Autoritäten anzuerkennen.

    Wichtig, dass es sich bei den boot-camps um eine Pädagogik für verdorbene Kinder handelt, die vernünftigen Einsichten nicht zugänglich sind, die aber bereits die Mittel haben, allerlei Schaden anzurichten. Nun könnte man die Menschheit auch als so ein verdorbenes Kind begreifen: Sie ist in der Regel vernünftigen Einsichten nicht zugänglich.

    "Die Apokalypse steht ins Haus. Wir Untiere wissen es längst, und wir wissen es alle. Es gibt eine heimliche Übereinkunft, ein heimliches großes Einverständnis: dass wir ein Ende machen müssen mit uns und unseresgleichen, so bald und so gründlich wie möglich - ohne Pardon, ohne Skrupel und ohne Überlebende."

    So Ulrich Horstmann in seinem Buch "Das Untier-Konturen einer Philosophie der Menschenflucht", das alle Formen des Nihilismus und Kulturpessimismus in der These zusammenfasst, der Sinn humaner Existenz bestehe darin, sich selber den Garaus zu machen.

    Das ist freilich eine einfache theoretische Lösung, denn wenn alle Vernunft nur dazu gemacht ist, das Vernichtungswerk des Menschen an sich selber zu vollenden, so stellt sich die Frage nicht, wie denn Vernunft die Tugend lehren soll.

    Wir sind da, um uns zu vernichten; der Sinn unserer Existenz ist der Untergang des sinnenden Untiers; und die Äonen, die seit unserer Deportation in das Ghetto der Vernunft vergangen sind, haben wir weidlich genutzt, um unser Abtreten schließlich mit höchster wissenschaftlicher Rationalität zu bewerkstelligen.

    Das Leiden kann sich nur durch seine Totalisierung aufheben. Aber im Inferno, der Revokation der Schöpfung, transzendiert sich der kreatürliche Schmerz, hellt sich auf, durchheitert sich im Tier mit der Ahnung, im Menschen mit der Gewissheit, dass das Rad der Generationen, der Wiedergeburten in Qual nun mehr endlich zerbrochen ist, dass das Ungeborene fürderhin ungeboren bleibt, das Leben ungelebt, das Leiden undurchlitten.

    Das ist zwar eine unhaltbare Position, zeigt aber die Verzweiflung an, die einen überfällt, wenn man aus der bisherigen Geschichte der Menschen Hoffung schöpfen will. Es ist immer eine glatte Lösung, wenn man sich auf Untergangsszenarien zurückzieht, aber diese Untergangsszenarien haben immerhin den Vorteil, die Ohnmacht der Vernunft grell zu beleuchten.

    An dieser Stelle ist eine Differenzierung angebracht: Ziel der Tugend oder der Vernunft ist das richtige Handeln. Nun ist es ja nicht so, dass etwa ein Jugendlicher nicht prinzipiell wüsste, dass Raub kriminell ist und ins Gefängnis führen kann; auch die Menschheit weiß, dass sie im Begriff ist, ihre eigene Lebensgrundlage abzuschaffen. Es mangelt also nicht an Vernunft, sondern bloß an der Fähigkeit, die vernünftige Einsicht in der Praxis zu realisieren. Man kann nun sagen: die Vernunft ist nicht stark genug. Also muss sie durch Leidensdruck unterstützt werden, durch die Strafe.

    Aber auch die Erfahrung bestätigt diese Ordnung der Begriffe in uns. "Setzet, dass jemand von seinen wolllüstigen Neigungen vorgibt, sie seien, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: Ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er als denn seine Neigung nicht bezwingen würde." Man darf nicht lange raten, was er antworten würde.

    Der Galgen vor der Tür kann zur Vernunft führen: So zu lesen in Immanuel Kants "Kritik der praktischen Vernunft". In diesem Werk geht es dem großen Aufklärer darum, zu zeigen, wie Vernunft beschaffen sein muss, damit sie Realität hat, also wirksam werden kann.

    Es ist hier nicht der Ort einer vertieften Lektüre, aber das ganze Werk ist durchzogen von latenten Straf- und Leidensandrohungen. Nur vor dem Hintergrund drohenden Übels kann sich die Vernunft entfalten, und es ist sicherlich kein Zufall, dass nach dem Beispiel mit dem drohenden Galgen gleich der berühmte Kategorische Imperativ Kants folgt, nachdem man ja immer so handeln soll, dass diese eigene Handlung zum Gesetz für alle erhoben werden könnte.

    Wenn ich also etwa die Umwelt verschmutze, so müsste ich mich fragen, ob ich leiden würde, wenn jeder Mensch mir gleich täte. Ich müsste diese Frage bejahen und in dieser Leidantizipation könnte ich dann vernünftig und tugendhaft werden.

    Die fehlende praktische Stärke der Vernunft, wenn man so sagen kann, betrifft die Kontrolle der eigenen Bedürfnisse, die immer auf kurzfristige Befriedigung abzielen, auch, wenn das längerfristig zur Katastrophe führt. Vernunft lebt wesentlich von der Fähigkeit, künftiges Leid zu vergegenwärtigen und dadurch die Kraft zu schöpfen, von den unmittelbaren Bedürfnissen zu abstrahieren.

    Das antizipierte Leid muss in einen aktuellen Leidensdruck umgewandelt werden. Die Frage ist nur: wie stark muss dieser Druck sein? Bei der Frage aber, wie groß das Leid sein muss, damit eine Veränderung eintritt, muss neben Leidantizipation und dem Mitleiden auch die Erinnerung an vergangenes Leid in Rechnung gestellt werden.

    Bei dem großen Nachfolger Kants, bei Hegel kann die Vernunft nur ihr Reich auf Erden vollenden, nachdem sie zahlreiche Stufen des Leidens durchlitten hat. In seiner "Phänomenologie des Geistes", wohl Hegels wichtigstes Werk, stirbt die Vernunft quasi tausend Tode, bevor sie frei walten und schalten kann. Bei Kant steht der Galgen vor der Türe, bei Hegel hingegen ist es die Erinnerung, die den Sieg der Vernunft er-möglicht. Am Ende, wenn die Vernunft zum Weltgeist geworden ist, heißt es in der "Phänomenologie des Geistes":

    "Das Ziel, das absolute Wissen oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches verbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beides zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewissheit seines Throns."

    Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, dass die Menschheit dazulernen kann, dass nicht immer wieder die gleichen Fehler gemacht werden. Geschichte bei Hegel heißt Fortschritt, nicht Wiederholung: Ein Krieg soll nie zwei Mal geführt werden. Die Erinnerung der Vernunft ist die Übermittlung vergangenen Leids: Eine Generation soll das, was sie aus ihren Fehlern gelernt hat, weitergeben. Es muss also so etwas wie ein mächtiges Leidgedächtnis geben, damit Hegels Geschichtskonzeption wirkt. Schon früh gab es dagegen Einwände. So hält Schopenhauer, wohl einer der schärfsten Kritiker Hegels, der Idee vom Fortschritt die Idee einer Uhr entgegen:

    "Die Menschen gleichen Uhrwerken, welche aufgezogen werden und gehen, ohne zu wissen warum; und jedes Mal, dass ein Mensch gezeugt und geboren worden ist, ist die Uhr des Menschenlebens aufs Neue aufgezogen, um jetzt ihr schon zahllose Male abgespieltes Leierstück abermals zu wiederholen."

    Direkt auf Hegel und Kant im Kanon der deutschen Aufklärung und der Vernunftsphilosophie fußt das Marxsche Gedankengut, das die Praxisfähigkeit der Vernunft an bestimmte Voraussetzung bindet. Planwirtschaft, Kommunismus ist nichts anderes als das Reich der Vernunft auf Erden, einer zunächst ökonomischen Vernunft, die dann in eine allgemein humane übergeht.

    Die Menschen nehmen ihr Schicksal in die Hand: sie sorgen in vernünftiger Art und Weise für Gerechtigkeit, für das Überleben der Gattung und für das relative Wohlergehen jedes Einzelnen. Dieses Reich soll auf der Basis einer Einsicht errichtet werden, die auf Erfahrung fußt. Die Erfahrung ist die Erfahrung von Ungerechtigkeit: zunehmender Reichtum auf der einen Seite und dazu in Relation zunehmendes Elend auf der anderen.

    Das bloße Elend reicht nicht hin für die Revolution: Zwar kommt es dann zu einem Aufstand, eine Gruppe obsiegt, aber bald beginnt der Verteilungskampf aufs Neue. Für die sozialistische Revolution ist, und das ist ein entscheidender Punkt, ein gewisser gesellschaftlicher Wohlstand von Nöten. Erst wenn die Akkumulation des Kapitals, wie es bei Marx heißt, einen gewissen Punkt erreicht hat, wäre garantiert, dass die kommenden Generationen nicht wieder in Verteilungskämpfe zurückfallen.

    Die Praxisfähigkeit der Vernunft ist hier gebunden an die graduelle Abschaffung von Lebensnot. Unter den Bedingungen des Mangels kann sie nicht walten, nur in der Fülle wäre so Tugend möglich.

    Das Modell ist unangreifbar, denn man kann von einer misslungenen Revolution immer behaupten, dass die Bedingungen eben noch nicht so weit waren. Die russische Revolution etwa war weit davon entfernt, unter den Bedingungen von relativem Wohlstand stattzufinden; es war grausamer Krieg, Hungersnöte herrschten und das Land war kaum fähig, selbst die einfachsten Bedürfnisse seiner Bewohner zu befriedigen.

    Klar, kann man sagen, dass da der Verteilungskampf aufs Neue beginnen musste, dass machtbewusste Intellektuelle oder auch primitive Funktionäre Privilegien an sich rissen, wo es nur ging. Daraus hat man dann das Theorem entwickelt, dass der Kommunismus beziehungsweise seine Idee der Natur des Menschen widerspräche. Das heißt aber letztlich, dem Menschen die Vernunft abzusprechen und auf einen Gott zu hoffen, der es mit den Menschen gut meint.

    Das Interessante dabei ist: Auch Marx traut letztlich der menschlichen Vernunft nicht, denn kann diese nur wirken, wenn ein gewisses Maß an Leidfreiheit erreicht worden ist, dann wird die Vernunft ihrer wesentlichen Funktion beraubt. Diese besteht ja darin, von der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung abzusehen, um langfristige Nachteile zu vermeiden. Sind die dringendsten Bedürfnisse erfüllt, braucht es keine Vernunft mehr. Überspitzt gesagt: Im Kommunismus ist die Vernunft überflüssig geworden. Es bleibt aber der Zweifel, ob der Mensch nicht auch dann zur Unvernunft neigt, wenn er in Wohlstand leben sollte.

    Das ist das Bild des Reichen, der sein drittes Auto kaufen will. Mit Marx würde man sagen: die Gier nach dem dritten Auto ist selber ein Produkt der deformierten Gesellschaft, der Mangelgesellschaft und wird mit dem gerecht verteilten Wohlstand verschwinden. An diesem Punkt schlägt die Marxsche Theorie tatsächlich in Utopie um.

    Eine kommunikationstheoretische Erweiterung dieses Ansatzes bietet Jürgen Habermas, der als optimistischer Ableger der Frankfurter Schule noch auf Vernunft setzt. Die Kraft, praktisch zu werden, kommt dieser Vernunft nur dort zu, wo herrschaftsfreie Kommunikation möglich ist. Grund dieses Optimismus mag der Blick auf die Geschichte sein, der in der Tat zeigt, dass es nicht nur Wiederholungen gibt. Wenn man nämlich die technischen Errungenschaften betrachtet, muss man feststellen, dass ein Lernen, ein Fortschritt: letztlich also Geschichte tatsächlich stattfindet. Das Rad muss nicht jede Generation neu erfunden werden. Bei Kant hängt die Wirksamkeit der Vernunft an der Fähigkeit, Leid zu antizipieren, bei Hegel an der zur Erinnerung. Bei Habermas ist die Umsetzung von wissenschaftlicher Rationalität in Handlung eine Frage der Herrschaft.

    "Diese Dialektik von Können und Wollen vollzieht sich heute unreflektiert, nach Maßgabe von Interessen, für die eine öffentliche Rechtfertigung weder verlangt noch gestattet wird. Erst wenn wir diese Dialektik mit politischem Bewusstsein auszutragen vermöchten, könnten wir eine bisher naturgeschichtlich sich durchsetzende Vermittlung des technischen Fortschritts mit der sozialen Lebenspraxis in Regie nehmen.

    Die Irrationalität von Herrschaft, die heute zu einer kollektiven Lebensgefahr geworden ist, könnte nur durch eine politische Willensbildung bezwungen werden, die sich an das Prinzip allgemeiner und herrschaftsfreier Diskussion bindet."

    So also die optimistische Version nach Habermas: Vernunft kann dann walten, wenn die vernünftige Willensbildung nicht durch Herrschaft deformiert wird. Auch hier ist allerdings die Voraussetzung, dass die dringendsten Bedürfnisse der Menschen weltweit erfüllt sind. Was aber ist tatsächlich geschehen?

    Nun, nachdem ein gewisser Wohlstand auch für breite Schichten geschaffen wurde, haben die Massen das Leid und vor allem: die Ursache des Leidens einfach vergessen und haben sich befrieden lassen.

    Wenn Hegel die Möglichkeit der Geschichte, des Fortschritts an Erinnerung knüpft, so unterschlägt er die Gegenbewegung; das Vergessen oder vielmehr: die Verdrängung. Das aber ist ein entscheidender Punkt: vergangenes Leid kann nur zur Vernunft führen, wenn es erinnert und nicht verdrängt wird. Der Mensch neigt jedoch grundlegend dazu, Leid zu verdrängen, wenn es zu verdrängen geht.

    Unsere Psyche ist, was wohl eine Überlebensnotwendigkeit ist, so beschaffen, dass Leiden, seine Androhung oder das erinnerte Bild von Not in irgendwelche Sphären verbannt wird, die das "Unbewusste" genannt wurden. Der Leidensdruck muss also in gewisser Weise ständig präsent sein, um die Vernunft so zu stärken, dass sie praktisch werden kann.

    Alle ihre Katastrophen hat die Menschheit vergessen: die Kriege, das Waldsterben, diverse Seuchen, weil sie vergangen sind. Und das heißt in einem weiteren Schritt: Der Leidensdruck muss wachsen, denn sobald er stagniert, tritt ein Gewöhnungseffekt ein.

    Man sieht das an der Krankheit AIDS: So lange die Infektionsraten exponentiell gewachsen sind, blieb das Phänomen im Bewusstsein. Jetzt, da die Infektionsrate ein gleichmäßig hohes Niveau erreicht hat, verschwindet diese Präsenz und die Menschen werden wieder unvernünftiger.

    Nicht Not lehrt Tugend, sondern, man muss das präzisieren: wachsende Not. Das ist nun systemtheoretisch gedacht. Jedes System versucht, eine Balance zu halten: Leiden nun ist ein Ungleichgewicht, eine Störung, und wenn das Leid, die Störung nur groß genug und präsent ist, findet eine Ausgleichsbewegung des Systems statt. Das System versucht die Störung zu integrieren, und dabei verändert es sich auch selber.

    Sobald aber eine Störung keine Dynamik mehr aufweist, pendelt sich das System ein und ist nicht genötigt, sich selber zu verändern. Niklas Luhmann, der große Systemtheoretiker, geht davon aus, dass soziale Systeme alles integrieren können, fragt sich jedoch, um welchen Preis.

    "Es ist bekannt, dass alle Planung unzulänglich ist; dass sie ihre Ziele nicht oder nicht in dem Maße erreicht, wie sie es wünscht. Das eigentliche Problem der Selbstplanung sozialer Systeme ist: dass die Planung in dem System, das sich plant, beobachtet wird. Wie alles, was in einem System geschieht, kann auch Planung nur ein Prozess neben anderen sein. Wäre das System nur Planung, gäbe es keine Planung; denn dann wäre nichts übrig, was geplant werden könnte. Jede Planung erzeugt Betroffene - sei es, dass sie benachteiligt werden, sei es, dass nicht alle ihre Wünsche erfüllt werden. Die Betroffenen werden möglichst zu ändern versuchen, was geplant ist. Das System erzeugt, wenn es plant, Vollzug und Widerstand zugleich."

    Planung basiert auf vernünftigem Handeln, und das kann nach der Systemtheorie nie die Gesellschaft als System lenken, da Vernunft oder Rationalität, wie Luhmann das nennt, selber ein Effekt der Gesellschaft ist. Das System kann sich nur selber retten, nicht aber kann es durch die Vernunft gerettet werden, die das System erzeugt. Eines der Mittel, die dabei eingesetzt werden, ist nach Luhmann die Angst. In seiner Analyse der "ökologischen Kommunikation" erscheint Angst durchaus zwiespältig:

    "Angst ist also von den Funktionssystemen aus nicht zu kontrollieren. Sie ist gegen alle Funktionssysteme abgesichert. Angst widersteht jeder Kritik der reinen Vernunft. Sie ist das moderne Apriori. Man kann ihr eine große politische und moralische Zukunft voraussagen. Ein Glück nur, dass die Rhetorik der Angst wahrscheinlich nicht in der Lage ist, wirkliche Angst zu erzeugen."

    Angst, sofern sie als öffentliches Phänomen eine Rolle spielt, kann nie zu vernünftigem Handeln führen, eben weil es sich nicht wirklich um Angst handelt. Die Rhetorik der Angst ist zwar nicht zu integrieren, motiviert also zur ständigen Veränderung, aber diese Veränderungen sind nach Luhmann blind.

    Die Alternativen, die die Angstrhetorik bietet, haben demgegenüber die Eigenart, zwar handlungsnah aber realitätsfern zu sein. Sie blenden in einer kaum zu verantwortenden Weise gesellschaftliche Interdependenzen und Wirkungszusammenhänge aus.

    Sicher, mit Angst lässt sich kein Staat machen, aber die Luhmannsche Unterscheidung zwischen einer Rhetorik der Angst und "wirklicher Angst", wie er es nennt, ist problematisch. Die Rhetorik der Angst kann sich nur aus einer empfundenen wirklichen Angst speisen und hat zwei Funktionen, die Luhmann vergisst: zum einen ist sie gegen die Angst selber gerichtet und zum anderen baut sie der Verdrängung vor. Wer Angst hat, und darüber redet, versucht diese zu entschärfen und gleichzeitig verhindert er damit, dass diese Angst verdrängt wird und sich in anderer, vielleicht destruktiver Form auswirkt.

    Natürlich führt gesellschaftliche Kommunikation von Angst, und Angst ist eine Form von Leiden, nicht zu einer Vernunftspraxis; sie hält aber die Option eines Gegenentwurfes zum System offen. Luhmann weiß von der Ohnmacht einer Rhetorik der Angst; er weiß aber auch um die Begrenztheit rationaler Planung in der modernen Gesellschaft.

    "Sehr anders ist die Ausgangslage für Rationalität, die im System der modernen Gesellschaft und dessen Umwelt erreichbar ist. Einige Funktionssysteme, vor allem wissenschaftliche Wahrheiten und Geld, haben gegenüber allen natürlichen physischen, chemischen, organischen, humanen Verhältnissen eine Auflösungswirkung, die gegebene Interdependenzen unterbricht und damit Kausalitäten freisetzt, die mit dem entsprechenden Planungs- und Rekombinationspotential der entsprechenden Systeme nicht kontrolliert werden können. Die Entlastung, die die Gesellschaft an einer durch Evolution immer schon ausgewogenen Umwelt hatte, wird mehr und mehr gefährdet. Das gilt besonders, weil die Rekombination, etwa von neuen Produkten und neuen Kombinationen von Handlungsmöglichkeiten nicht etwa auf die Wiederherstellung der gestörten Umweltstabilität zielen, sonder auf Neugewinn von kombinatorischen Möglichkeiten."

    Mit anderen Worten: vernünftige Planung ist in unserer Gesellschaft kaum mehr möglich. Doch Luhmann hat einen Trost parat:

    "Der Problemaufriss der Rationalität besagt nicht, dass die Gesellschaft Probleme dieses Formats lösen müsste, um ihr Überleben zu sichern. Fürs Überleben genügt die Evolution."

    Die Hoffnung auf den Automatismus der Evolution beantwortet nicht die Frage, wie dieses Überleben konkret aussehen kann und welches Leid damit einhergeht. Die Integration der gegenwärtig katastrophalen Entwicklung geschieht auf der Basis von Verdrängung oder einer Steigerung der Leidensfähigkeit.

    Es bleibt die Frage: wie stark muss der Schmerz sein, damit er nicht mehr verdrängt werden kann und auch eine Gewöhnung unmöglich ist.

    Die Systemtheorie bleibt hier abstrakt und kann die Frage des Preises der Systemintegration des aktuellen verstörten Weltenlaufs nicht beantworten. Das Fatale ist, dass es neben der Fähigkeit des Verdrängens und des Vergessens auch Prozesse mit Gedächtnis gibt, den Prozess der Zivilisation und der Technologie. Die Aufheizung der Atmosphäre hat Gedächtnis oder konkreter: Es handelt sich um einen kumulativen Prozess.

    Da wächst eine geheime Not, aber die sichtbare und erfahrbare Not wächst nicht kontinuierlich mit, sondern zeigt sich vielleicht erst dann, wenn der Prozess irreversible Ausmaße angenommen hat, und das ist das gegenwärtige Drama. Die Gleichung, dass Not Tugend lehrt, wäre nur dann eine, die aufgeht, wenn das mögliche Ausmaß des Leidens immer Präsenz hätte.

    Das führt dann letztlich zu Aussagen wie: Es müssen immer mittlere Katastrophen geschehen, bevor die Menschheit umdenkt, und das dann auch nur für ein paar Generationen. Das heißt, im speziellen Fall: es müssen durch den Klimawandel ein paar Millionen Menschen sterben, ein paar Kriege geführt werden, ein paar Länder im Meer versinken, bevor wirklich eine radikale Wende zum besseren geschieht, und ein paar Generationen später werden die Menschen erneut ihre Umwelt verwüsten.

    Wie also soll das anfänglich beschriebene Drama der Menschheit weiter- beziehungsweise ausgehen? Ein mögliches Szenario ist die der Diktatur der Vernunft, eine Art Öko-Diktatur, die massive Einschränkungen der Lebensgewohnheiten mit sich brächte.

    Wenn heute eine Regierung die notwendigen Gesetze zur Rettung der Welt erlassen würde, wäre sie binnen einer Wahlperiode abgesetzt. Eine Öko-Diktatur würde sich nicht durch ein Gewaltmonopol zu legitimieren versuchen, sondern durch die Kraft der Vernunft: Das könnte man die Verwissenschaftlichung der Politik nennen; ein Modell, das sich aufdrängt.

    Allein, diese Aussicht führt ebenfalls zu keinem "Happyend", auch diese Version des Drama ist keine glückliche. Ein anderes, wahrscheinlicheres Szenario würde so aussehen: Die reichen Industrieländer drücken zunächst bei sich selber rigide Umweltnormen durch, wobei die unteren Bevölkerungsschichten die größte Last der nötigen Einschränkungen tragen werden. Dann werden diese Normen weltweit durchgesetzt, wahrscheinlich auch mit militärischen Mitteln.

    Dieser Modus der Durchsetzung kann aber nicht mehr vernünftig genannt werden. Die Diktatur der Vernunft führt dann dazu, dass die Menschen mit Waffengewalt zur Vernunft gezwungen werden. Es wird mithin eine weltweite Planwirtschaft weniger multinationaler Konzerne geben, die die Umweltstabilität zu ihren Gunsten verwalten und sich auch kaum mehr den Mantel politischer Kontrolle umhängen werden, wobei die Länder der Dritten Welt, aber auch die Schwellenländer die Verlierer sein werden.

    Diese Version dürfte gegenwärtig die realistischste Prognose sein und es ist, so zynisch das klingen mag, diejenige, die das geringste Leid verursachen wird. Der Titelheld unseres Dramas, die Menschheit, wird dann, ähnliche wie vielleicht Ödipus, unter erschwerten Bedingungen und deutlich lädiert überleben.

    Bleibt eine letzte Version, die allerdings nicht in die Kategorie einer realistischen Prognose fällt: das Wunder. Allein der Aufklärer ist auf das Wunder angewiesen. Er kann geduldig seinem Geschäft nachgehen, muss sich aber auch selber über die geringe Wahrscheinlichkeit seines Erfolges aufklären. Also muss er, um weiterzumachen, an das Wunder glauben. Und dann rettet vielleicht tatsächlich dieses Wunder.