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Wer liest das Buch der Bücher?

Sie ist das Buch der Bücher, das sagen die meisten Deutschen über die Bibel. Auch die, die gar nicht oder nur selten in der Bibel lesen. Eine Studie katholischer Wissenschaftler an der Universität Münster wollte jetzt genau wissen, wer denn überhaupt in der Bibel liest und wie heutzutage biblische Texte an den Mann und an die Frau kommen. Die Forscher veröffentlichten jüngst die Untersuchung "Bibelverständnis in Deutschland".

Von Christiane Raasch |
    Die Bibel: Eine Stimme aus dem Volk.

    "Also zur Bibel fällt mir ein, da ist so viel Stoff drin, s gibt ja sehr viel Schriftsteller, die daraus geschöpft haben. Da gibt es Völkermord, da gibt es Betrug, da gibt es Ehebruch, da ist alles, was dem Menschen möglich ist, nicht fremd. Das ist sozusagen die Ursuppe aller Romane und man kann da irgendwo reinpieken und kann schöpfen, das ist also sehr bildreich Es ist wirklich ein sehr voller Topf."

    Professor Dr. Dr. Karl Gabriel, Direktor des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

    "Für mich persönlich ist die Bibel das Buch, mit dem ich sozusagen meinen Glauben immer wieder vergewissere, in der ich täglich ein Stück lese, mit der ich mich auseinandersetze."

    Die Bibel ist nicht nur die Grundlage seines Glaubens, Karl Gabriel liest sie natürlich auch aus beruflichem Interesse. Er gehört zu den fünf Wissenschaftlern, die jüngst das Projekt " Bibelverständnis in Deutschland" vorgestellt haben. Eine Unterersuchung, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Die Studie ist eine Gemeinschafsarbeit von christlichen Sozialwissenschaftlern wie Karl Gabriel und den Mitarbeitern des Seminars für die Exegese des Neuen Testaments. "Exegese" heißt Auslegung, Erläuterung. Dass Exegeten und Sozialwissenschaftler zusammenarbeiten, das ist ungewöhnlich. Für Karl Gabriel ist allein das schon ein wichtiger Forschungsertrag:

    " Dass wir zeigen konnten, dass zwei Disziplinen, die ziemlich weit auseinanderliegen, Exegese und Soziologie, Sozialwissenschaften, dass sie sehr eng zusammenarbeiten können, dass es da doch große Schnittflächen gibt. Und die Zusammenarbeit war auch sehr fruchtbar."
    Die Fragestellung war: Bibelverständnis, Bibelumgang in unterschiedlichen Milieus in Deutschland, das war die Fragestellung." "

    Wie gehen verschiedene soziale Gruppen, sogenannte "Milieus" mit der Bibel um? Wo sind Sie der Bibel begegnet? In welchen Situationen greifen Sie zur Bibel? Ist die Bibel heute noch zu etwas gut? Das sind einige der Forscher-Fragen, die sie in den unterschiedlichen Gruppen, den "Milieus", gestellt haben.

    "Was findet man vor, wenn man sozusagen in die verschiedenen Milieus hineinschaut, und da gibt es eben Möglichkeiten mit einem qualitativen Forschungsinstrument diese Milieuforschung voranzutreiben, und das am Beispiel eben der Bibel."

    "Qualitatives Forschungsinstrument". Unter "qualitativer Sozialforschung" wird in den Sozialwissenschaften etwa die Erhebung nicht standardisierter Daten, in Form von offenen Interviews und von Feldprotokollen der Forscher verstanden. Das bedeutet unter anderem, dass die Befragten keine Fragebögen erhielten, sondern die Forscher möglichst wenig Richtlinien vorgaben.

    "Und das bedeutete, dass wir Diskussionen gemacht haben mit den Gruppen. Haben sie aufgezeichnet. Haben transkribiert, das heißt also, haben die verschriftlicht, und dann haben wir die Texte gedeutet, also interpretiert."

    Zuvor hatten die Forscher lange darüber diskutiert welche Kreise der deutschen Gesellschaft befragt werden sollten. Ergebnis: sie sollten in einem möglichst großen Kontrast zu einander stehen. Das Spektrum reichte dann auch von Kulturfreunden über den christlichen Verein Junger Menschen bis hin zu einem sozialistischen Jugendclub. Die Forscher unterschieden ihre Testpersonen zudem nach ihrem Alter und dem Bildungsgrad. Jüngere gehörten nach der Einordnung der Sozialwissenschaftler etwa zum "Unterhaltungs- und Selbstverwirklichungsmilieu", Ältere zum sogenannten "Integrations- und Niveaumilieu" oder zum "Harmoniemilieu". Ein Beispiel aus dem "Harmonie-Milieu":

    "Eine Gruppe, die sich zusammenfindet jede Woche am Montag. Die ein Kulturkreis darstellt, in der die Bibel eine große Rolle spielt. Ein Kreis nicht nur von Katholiken. Also bürgerliche Menschen, die Kunst und Kultur gemeinsam betrachten und darunter sozusagen auch die Bibel."

    Für den Kunst- und Kulturkreis stellt die Bibel das Ausgangswerk und Fundament der gesamten Kultur dar. "Kultur" bedeutet in diesem Fall, eine Gesellschaft ruht auf einem Fundament aus gemeinsamer Geschichte und Tradition, auf einem Fundament von gemeinsamen Rechtsvorstellungen und Werten. Die Bibel und die Kultur werden von dem befragten Kulturkreis als so eng verbunden angesehen, dass eine Trennung kaum möglich, erscheint. Die Gruppe "Kultur" sucht beim Lesen der Bibel nicht nach dem Wortsinn, sondern nach dem hinter dem Text stehenden Sinn. Die Bibel ist in alten Zeiten entstanden, darum muss man sie für die Gegenwart übersetzen, sagte die Gruppe Kultur, das muss jeder Leser für sich persönlich tun, vor seinem eigenen Lebenshintergrund.
    Die Bibel: Eine Stimme aus dem Volk

    "Was in der Bibel steht, muss man auffassen eigentlich als Bildnis, als eine grobe Richtschnur, wie man sich vielleicht verhalten sollte. Es sind eigentlich immer nur Bilder dargestellt, die man, wenn es geht, eben auf die heutige Zeit überträgt."

    Ein Bespiel aus den jungen Testgruppen, den jungen Probanden der Forscher, ist eine Evangelikalen-Gemeinde. Der Evangelikalismus ist eine theologische Richtung innerhalb der protestantischen Christen, die fest an die Bibel glaubt, Karl Gabriel:

    " Dort ist die Bibel das Weisungsbuch, das für sie fraglos gilt. Dass sie von den Eltern her tradiert bekommen haben, wo sie auch kein Problem darin sehen, das zu übernehmen. Und das möchten sie dann auf lebendige Weise, möchten sie diese Botschaft der Bibel weitergeben."

    Eine andere der befragten jungen Testgruppen steht der Linkspartei nahe und heißt SOLID. Sie bezeichnet sich als "sozialistischer, antifaschistischer, basisdemokratischer und feministischer Jugendverband". Zuerst fürchteten die Wissenschaftler, die jungen Sozialisten hätten sicherlich keine Lust auf das Thema "Bibel", doch Diplomtheologe Dr. Christian Schramm, auch er war Mitglied des münsteraner Forscherteams, war von der Begegnung mit den SOLID-Mitgliedern angenehm überrascht:

    "Also das war eine der Gruppen, die wir am leichtesten gewinnen konnten, die waren eigentlich sofort bereit da mitzumachen. Waren sehr offen."

    Dass die bekennenden Atheisten für die Studie nicht nur Fragen beantwortet haben, sondern auch willig Bibeltexte studierten und diskutierten, darüber freut sich der junge Forscher.

    Eine der Bibelstellen, die von SOLID gelesen wurden, stammt aus dem Evangelium nach Markus. Das Markusevangelium ist eine anonyme Schrift, der Autor ist unbekannt. Die Textvorlage für die Testgruppen handelt von einer Frau, die als "blutflüssig" bezeichnet wird. Sie ist bereits jahrelang krank als sie Jesus begegnet, und berührt ihn heimlich. Ein Textauszug:

    Und Jesus spürte sogleich an sich selbst, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war, und er wandte sich in der Volksmenge um und sprach: Wer hat meine Gewänder berührt? Er blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte. Da kam die Frau, sich fürchtend und zitternd, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war. Sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sagte zu ihr: Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden! Sei gesund von deinem Leiden!

    Die SOLID-Mitglieder betrachten die Bibel und auch die Geschichte der kranken Frau sehr kritisch. Die Frau würde von einem Scharlatan, damit ist Jesus gemeint, ausgenutzt, so interpretierten sie den Text. Und sie glaubten auch nicht an Wunder:

    "Dass es überhaupt gehen kann, dass jemand durch ne Berührung geheilt wird. Das passt nicht, das geht nicht, das stört uns."

    Die Bibel und ihre Traditionen rufen bei den Mitgliedern der Gruppe SOLID in erster Linie Bilder und Geschichten eines angeblichen Missbrauchs durch die Kirche und die Herrschenden hervor. Bilder von Unterdrückung und Machtbesessenheit, ergab die Studie, Eine Grundlage für das Leben sei die Bibel nicht, glaubt SOLID. Die Gruppe richtet ihre Hoffnung, die Welt einmal besser zu machen, lieber auf die Vernunft. Im Gegensatz zu den jungen Sozialisten sieht der Christliche Verein Junger Menschen einen tiefen Sinn in dem biblischen Text der durch Jesus geheilten Frau, Christian Schramm:

    "Sie liest diese Geschichte als eine Bekehrungsgeschichte. Also dass die Frau abirrt, Jesus findet, sich zu ihm bekehrt und dann geheilt wird."

    Den Mitglieder des Vereins Christlicher Junger Menschen geht es darum, mit der Bibel zu missionieren, sagt Christian Schramm, "die Message von Jesus" rüberzubringen. Auch dem jungen Theologen sagt die Geschichte der geheilten Frau natürlich etwas:

    "Also das kann man, eben sozialgeschichtlich verortet, so lesen, dass es nicht nur um eine kranke Person geht, um eine kranke Frau, sondern eben auch um eine kultisch unreine, und damit von der Kultgemeinde und aus der sozialen Gemeinde, ausgeschlossene Frau. Das steckt auch mit drinnen. Also das kann man so lesen, dass man sich sozusagen in eine Figur, in diese Frau beispielsweise hineinversetzt, und sich ihr auch solidarisiert, auch mit weiteren Ausgeschlossenen. Es ist ja immer gut, wenn man nicht alleine ist, und dann entweder jemanden erfahren hat oder darauf hofft, jemanden zu erfahren, der wie Jesus dann entsprechend diese Reintegration dann leistet."

    Auch der Theologe und Soziologe Karl Gabriel findet, dass die Wundergeschichten aus der Bibel den Menschen durchaus etwas geben können, den heutigen Menschen, die in einer Welt leben, die so sehr von den Naturwissenschaften geprägt ist:

    "Wir können eigentlich gar nicht nur im naturwissenschaftlichen Weltbild - wenn wir das auch manchmal so tun - können wir eigentlich gar nicht leben, das wissen eigentlich auch Naturwissenschaftler. Und dann ist man sehr schnell bei der Frage von wunderbaren Deutungen, die man bestimmten Erfahrungen des Lebens gibt."

    Die Bibel: Eine Stimme aus dem Volk

    "Meine Lieblingsstelle, ist die Bergpredigt. Aus dem Neuen Testament. Da verkündet praktisch Christus das Bild des Christentums, das ich persönlich vom Christentum habe. Sehr humanistisch, sehr sozial, sehr auf die Menschen zugewandt auf den einzelnen Menschen, die Bedeutung des einzelnen Menschen sehr hervorhebend, Ich finde ein Satz kulminiert in der Bergpredigt. Liebe Deine Feinde, wie dich selbst."

    Das Projekt "Bibelverständnis in Deutschland" leistete auf vielen Gebieten Pionierarbeit: Alltagsleser waren erstmals Schwerpunkt der Forschung zur Bibelauslegung. Die Wissenschaftler entwickelten eine eigene Auswertungsmethodik, um die Lesemethoden der Laien unter die Lupe zu nehmen. Sie wollten auch herausfinden ob Laien die Bibel anders lesen als sie selbst. Ob die "Alltagsexegese" und "Forscherexegese" von einander abweichen. "Exegese" kommt aus dem Griechischen und bedeutet Auslegung, Erläuterung. Für die Christen ist damit die Arbeit am Alten und Neuen Testament der Bibel gemeint. "Das sind Geschwister mit großen Ähnlichkeiten", sagte ein Mitglied des Forscherteams über die alltägliche und wissenschaftliche Bibelauslegung. Die Studie habe gezeigt, und das sei wirklich eine Überraschung gewesen, dass auch Laien Bibeltexte nicht planlos, sondern nach bestimmten Methoden auslegten, ähnlich wie die Wissenschaftler. Dass die Art der Hermeneutik zwischen beiden Gruppen ähnlich ist. "Hermeneutik", das ist die Lehre vom Verstehen.

    Heute bedeutet der Begriff etwa sachgerecht, methodisch, zu interpretieren. Ein weiteres Forscherinteresse war: :

    " Wie differenziert und wie auch kontrastreich der Umgang mit der Bibel ist. Wie man liest. Welche Aspekte des Textes, welche Personen, eine Rolle spielen, welche ausgeblendet werden, und wie man das sozial und milieutypisch zeigen kann. Das ist der Teil, der als Forschungsergebnis auch wichtig ist. Doch hoffen wir eben auch, Impulse in die Exegese hinein zu geben, nämlich mit dieser Fragestellung, wer ist eigentlich der Alltags-Bibelleser?"

    Bisher hätten die Forscher vor sich hingearbeitet, die christlichen Texte analysiert und mit der Fachwelt diskutiert, doch um den Alltagsleser hätten sie sich kaum gekümmert und nur wenig über ihn gewusst. So die selbstkritische Aussage des Forscherteams. Das soll sich nun ändern. Man will in Zukunft etwa mit populärwissenschaftlichen Büchern mehr Laien für die Bibel gewinnen. Der junge Theologe Christian Schramm erzählt, was ihm das Lesen in der Bibel gibt:

    "Also mein eigenes persönliches Thema, - wahrscheinlich weil ich selber so unruhig bin- , ist die Ruhe in biblischen Traditionen. Also ich nehme wahr, einen Zwang zum Tempo, zur Beschleunigung und zur Geschwindigkeit, und da finde ich es einfach, für mich, heilsam, wenn ich beispielsweise in der Schöpfungsgeschichte lesen, dass Gott am siebten Tag ruht und durch diese Ruhe sein Werk erst mal vollendet. Da ist so ein Punkt, wo ich es selber gemerkt habe, normalerweise hetzt ich selber von Projekt zu Projekt und habe nach dem Abschluss des einen kaum die Zeit durchzuschnaufen bevor das andere kommt und dann ist es für mich heilvoll, wenn ich dann das lese und denke, aha! Zur Vollendung eines Werkes gehört die Ruhe dazu, die Ruhe danach."