Neun Uhr morgens in einem Altenheim am Stadtrand von St. Petersburg. Dienstbeginn für Stanislaw Gasarja. Etwa 20 Heimbewohner warten an diesem Morgen darauf, gewaschen, gefüttert oder richtig gelagert zu werden. Doch Stas, wie ihn alle im Heim nennen, ist kein ausgebildeter Pfleger. Der 21-Jährige macht seinen Zivildienst in dem Altenpflegeheim:
"Ich bin Zeuge Jehovas, und darum stellt sich mir nicht die Frage: Armee oder Zivildienst. Ich habe mich sofort für den Zivi entschieden, weil ich wegen meiner inneren Überzeugung einfach nicht in der Armee dienen kann. Ich will nicht kämpfen und mit einer Waffe rumlaufen und lernen Leute umzubringen, deshalb mache ich das hier."
Stanislaw und seine beiden Zivi-Kollegen sind echte Bahnbrecher. Denn erst seit dem 1. Januar 2004 gibt es in Russland die gesetzliche Möglichkeit, den Dienst an der Waffe zu verweigern. Dabei ist das Recht auf Zivildienst schon in der russischen Verfassung von 1993 verbrieft. Dass es elf Jahre bis zur Verabschiedung des Gesetzes gedauert hat, ist mit der Einflussnahme unterschiedlicher Interessengruppen zu erklären, sagt Reiner Wedde, der als Anwalt in Moskau arbeitet und das russische Zivildienstgesetz ins Deutsche übersetzt hat:
"Zum einen gibt es natürlich die Militärs, die versuchen möglichst wenig Zivildienstleistende zu bekommen. Es ist auch im Vorfeld geäußert worden seitens des Militärs, dass also das Überschreiten einer bestimmten Zahl zu gesetzgeberischen Änderungen führen müsse, man hat damals von 5.000 pro Jahr gesprochen, mehr sei militärisch nicht zu verkraften. Und die andere Interessengruppe, die sich ebenfalls engagiert hat, waren natürlich Menschenrechtsgruppen, liberale Gruppen, die erstens wollten, dass überhaupt eine Möglichkeit geschaffen wird, und die zweitens wollten, dass eine Möglichkeit geschaffen wird, die auch tatsächlich eine realistische Chance ermöglicht diesen Dienst abzuleisten."
Bislang entscheiden sich jedoch nur wenige Wehrpflichtige für den Alternativen Zivildienst, der in Russland kurz "AGS" genannt wird und für den Begriff "Alternativer Staatsbürgerlicher Dienst" steht. In der Fünf-Millionen-Metropole St. Petersburg etwa sind Stas und seine Freunde bislang die einzigen so genannten ""Alternativtschiki". Selbst in der mehr als doppelt so großen Hauptstadt Moskau verrichten zurzeit gerade einmal fünf junge Männer ihren Dienst in einem Krankenhaus:
"Die Arbeitszeiten sind hier so bis 17 Uhr, 17.30 Uhr, das geht also, halt wie ein normaler Arbeitstag, Wir arbeiten hier als Krankenpfleger, sprich: Pflege der bettlägerigen Kranken, also die, die alleine nicht mehr klar kommen oder alleine auf die Toilette gehen können. Wir füttern die Alten und sorgen ganz einfach dafür, dass alles sauber ist, das ist unsere Arbeit."
Offiziellen Angaben zufolge gibt es in ganz Russland nur rund 500 Zivildienstleistende. Vor allem die Länge des Dienstes wirkt auf viele junge Russen abschreckend, sagt Reiner Wedde:
"Der Wehrdienst beträgt ja in Russland augenblicklich zwei Jahre. Und der Zivildienst beträgt das 1,75-fache davon. Das ist natürlich eine sehr lange Zeit, auch wenn man sich den europäischen Rahmen mal anschaut in den Ländern, in denen es noch Wehrdienst und Zivildienst gibt. Der zweite Punkt, warum das Zivildienstgesetz beschränkt ist, ist das so genannte exterritoriale Prinzip. Das heißt: Die Zivildienstleistenden haben kein Recht ihren Zivildienst in dem Subjekt, also dem Bundesland könnte man sagen, abzuleisten, in dem sie auch gemeldet sind. Das führt dazu, dass, möglicherweise als Zivildienstleistender, wenn man aus Moskau oder Petersburg kommt, eben irgendwo in den fernen Osten Russlands verschickt wird."
Maikop, die Heimatstadt von Stas und seinen Kollegen, liegt zum Beispiel 2.000 Kilometer entfernt von St. Petersburg im Süden Russlands. Auch die drei wurden nicht gefragt, ob sie so weit weg von zu Hause ihren Dienst tun wollen.
Für eine grundlegende Änderung des Gesetzes setzt sich die Gesamtrussische Koalition für einen Alternativen Zivildienst ein. Die Koalition besteht aus über einhundert nichtstaatlichen Organisationen, die Zivildienst-Bewerber beraten und sich für die Rechte der jungen Männer einsetzen. Vor allem das so genannte exterritoriale Prinzip sei brutal und inakzeptabel, sagt der Vorsitzende der Koalition, Sergej Krivenko:
"In Europa ist das schwer zu verstehen, dass diese Vorschrift für uns so hart ist. In Russland haben wir einfach ganz andere Entfernungen. Damit haben im Übrigen auch die zu kämpfen, die in der Armee dienen. Klimatisch, wenn jemand aus dem europäischen Teil nach Sibirien geschickt wird oder umgekehrt, dann wird der da schnell krank."
Aber auch hinsichtlich der Zivildienst-Dauer - dreieinhalb Jahre - ist die Russische Föderation weltweit einsame Spitze. Nur wer einen Hochschulabschluss vorweisen kann, für den halbiert sich der Armeedienst auf ein Jahr, der Zivildienst entsprechend auf 21 Monate.
Jens Siegert vom Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung nennt weitere mögliche Gründe für die niedrigen Verweigerer-Zahlen:
"Und das Dritte ist, dass ohne den Zivildienstleistenden zu fragen er in militärischen Einrichtungen Dienst tun soll. Das heißt nicht, dass er eine militärische Tätigkeit verrichten soll, sondern als Sanitäter arbeitet, oder als Mechaniker, ohne Waffe, aber schon durchaus in Militäreinrichtungen. Und das Vierte ist, dass eine Gewissensprüfung stattfindet, bevor ein Antragsteller anerkannt wird. Es ist recht analog zu dem, was in Deutschland bis Mitte der 80er Jahre der Fall war."
Außer in militärischen Einrichtungen müssen die Alternativschiki auch in der Industrie, im Straßenbau oder als Gefängniswärter arbeiten.
Zuständig für die Organisation des Zivildienstes ist die russische Agentur für Arbeit und Beschäftigung "ROSTRUD" mit Sitz in Moskau. Die Länge des Dienstes sei mit dreieinhalb Jahren optimal, heißt es hier lapidar. Und auch beim heimatfernen Einsatz der Zivildienstleistenden habe sich der Gesetzgeber durchaus etwas gedacht, sagt der stellvertretende Leiter der Abteilung Zivildienst, Boris Demjankov:
"Nehmen wir mal den Süden Russlands, das Gebiet um Krasnodar, Stawropol. Da gibt es einfach wenige Arbeitsmöglichkeiten für die Zivildienstleistenden. Darum schicken wir sie in andere Regionen, wo es Bedarf an solcher Arbeit gibt und wo die Organisationen auch Unterbringungsmöglichkeiten haben für diese Leute. Außerdem bemühen wir uns für Verheiratete und Väter mit Kindern, die älter als drei Jahre alt sind, Einsatzmöglichkeiten in ihrem Heimatort zu finden. Das verbietet das Gesetz nicht."
Was Demjankov jedoch verschweigt, sind die Bedingungen, unter denen viele der Alternativschiki hausen. Stanislav und seine beiden Zivi-Kollegen etwa wohnen auf einem Flur mit den anderen Heimbewohnern. Man hat ganz einfach eines der Zimmer für die drei geräumt. Laut Gesetz müssen jedoch alle Einrichtungen, die Zivis beschäftigen, über separate Wohnheime verfügen. Diese Vorschrift stehe auf dem Papier, werde aber in vielen Fällen nicht eingehalten, sagt Sergej Krivenko.
Ein weiterer Stolperstein bei der Suche nach einer geeigneten Zivildienststelle ist ein Passus im Gesetz, der den Einsatz der Zivis ausschließlich in staatlichen Einrichtungen vorschreibt - Jens Siegert:
"Was ein großes Problem ist, weil die meisten Krankenhäuser, Altenheime und Behindertenheime und so weiter sind in kommunaler Hand, und die kommunalen Einrichtungen gelten bis heute laut Verfassung in Russland nicht als Staatseinrichtung, das sind keine staatlichen Behörden, sozusagen auf der Bezirksebene hört der Staat auf, formal. Das ist ein Problem, das jetzt geändert werden soll."
Der repressive Charakter des Gesetzes, das dann auch noch in vieler Hinsicht missachtet wird, ist aber nur ein Grund für den geringen Anklang, den der Zivildienst bislang bei jungen Russen findet. Auch tradierte soziokulturelle Eigenheiten der russischen Gesellschaft spielen dabei eine wichtige Rolle. So herrscht ein ungebrochener Männlichkeitskult, der in Russland nur schwer vereinbar ist mit einem sozialen Ersatzdienst junger Männer in Krankenhäusern oder Altenheimen:
"Zwar wissen alle Leute, dass es schlecht ist, in der Armee zu sein und gefährlich. Auf der anderen Seite gibt es trotzdem einen allgemeinen Stolz auf diese Armee, und bei Umfragen beantworten über 80 Prozent der Menschen hier ohne irgendwelche Einschränkungen mit Ja, wenn man sie fragt, ob sie meinen, dass das Militär aus einem Mann überhaupt erst einen Mann macht, d.h. wer nicht beim Militär gewesen ist, ist kein Mann. Auf der anderen Seite gehen nur zehn Prozent der jungen Männer eines Jahrganges zum Militär. Das ist eine etwas schizophrene Bewusstseinsspaltung, die aber konstitutiv für das russische Bewusstsein ist."
Der Armeedienst ist tatsächlich gefürchtet und berüchtigt für seine Schikanen und die Brutalität der Vorgesetzten. Jedes Jahr sterben nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mehrere Hundert Rekruten unter ungeklärten Umständen.
"Ein Teil davon durch Unfälle, durch Nachlässigkeit, ein nicht unerheblicher Teil durch Selbstmorde, bzw. auch durch Morde untereinander, und zu den Selbstmorden werden viele der Soldaten getrieben durch ihre älteren Kameraden. Diese Erscheinung hat sogar einen Namen: "Dedovshchina", sozusagen das "Großväterchentum". Es wird von Soldaten, die ein halbes Jahr oder ein Jahr schon gedient haben, geradezu als ihr Recht betrachtet, die neu hinzu Kommenden nicht nur zu unterdrücken, sondern sei praktisch wie Sklaven zu halten. Die müssen sie bedienen, sie werden erniedrigt, sie werden geschlagen, sie werden sexuell missbraucht, also alles Schreckliche, was man sich vorstellen kann, findet dort statt."
Den misshandelten Rekruten und ihren Angehörigen steht seit Anfang der 90er Jahre das Komitee der russischen Soldatenmütter zur Seite, eine Menschenrechtsorganisation, die Missstände öffentlich macht und bei Behörden die Einhaltung der Gesetze einfordert. Für seine Arbeit wurde das Petersburger Büro der Organisation 2004 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet. Auch Zinaida Tropina engagiert sich für die Rechte der Rekruten. Sie ist sich sicher: Die Armee sieht den Zivildienst als Bedrohung, weil die Generäle den Nachschub an Soldaten vor allem für den Tschetschenien-Einsatz in Gefahr sehen:
"Die Militärs wollen, dass sie die Leute unter Kontrolle haben, wollen, dass die Armee auf diese Ressourcen zurückgreifen kann. Darum haben sie ein Zivildienstgesetz durchgeboxt, das praktisch nicht funktioniert. Gleichzeitig läuft eine Einberufungspraxis, die schlimm ist, drakonisch und die praktisch allen Gesetzen zuwider läuft, den Militärgesetzen, der russischen Verfassung, dem russischen Menschenrechtsgesetz. Die agieren da in einem rechtsfreien Raum."
Inoffiziellen Angaben zufolge gehen nur rund zehn Prozent eines Jahrgangs tatsächlich zur Armee. Der Rest findet Mittel und Wege, den gefürchteten Wehrdienst zu umgehen, erklärt Anwalt Reiner Wedde:
"Zum einen gibt es die Möglichkeit, an einem so genannten Militärlehrstuhl sich einzuschreiben. Dann studiert man ganz normal gewisse Vorlesungen mit einem pseudomilitärischen Charakter, also beispielsweise Fremdsprachenkenntnisse zur späteren Verhörung von Kriegsgefangenen, sind so ein Kurs, Erkennung von Panzertypen, und erhält am Ende nach Abschluss des Studiums einen Offiziersdienstgrad und hat sich ansonsten den Wehrdienst erspart. Das ist natürlich für sehr viele Leute eine sehr reale Alternative. Die soll allerdings jetzt eingeschränkt werden. Man will die Zahl dieser Militärlehrstühle in Russland deutlich verkleinern, um eben mehr Leute tatsächlich zum Militär zu bringen. Die zweite Möglichkeit ist, dass man aus bestimmten familiären Gründen, wenn man bestimmte Abschlüsse bereits erworben hat, nicht mehr zum Wehrdienst herangezogen wird."
Und wer das nötige Geld aufbringen kann, der besticht ganz einfach Ärzte, um an ein gefälschtes Attest zu kommen – in Russland ist das schon seit Jahren gängige Praxis. Solche gekauften Bescheinigungen haben zurzeit einen "Marktwert" von umgerechnet ungefähr 2.000 Euro.
Wer sich dann trotz aller Widrigkeiten dennoch für den Zivildienst entscheidet, arbeitet zumeist für einen echten Hungerlohn: Gerade mal 120 Euro pro Monat verdienen Stas und seine Kollegen im St. Petersburger Altenheim. Bestimmt sind die Umstände, unter denen die jungen Russen ihren Alternativ-Dienst verrichten, nicht gerade einfach. Das findet auch Stanislaw. Aber:
"Dafür geht es hier nicht ganz so streng zu wie beim Militär. Wir können uns hier ziemlich frei bewegen, wenn man zum Beispiel in die Stadt gehen will oder Freunde treffen. So eine Freiheit gibt es in der Armee ganz einfach nicht."
Doch so wie Stas denken bislang die wenigsten – dabei hätten soziale Einrichtungen wie das Petersburger Altenheim großen Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften, wie dessen Leitender Arzt Juri Bagradovski bestätigt:
"Als es darum ging: Brauchen wir die Zivis oder nicht, haben wir nicht nein gesagt. Da geht es ja um Pflegedienst, also um schlecht bezahlte, bei uns nicht sonderlich angesehene Arbeit. Und da hatten wir auch Engpässe, da haben wir die drei natürlich gerne genommen. Und unser Direktor sagt, vielleicht kommen sogar noch zwei oder drei. Das hilft uns auf jeden Fall. Die ersten drei Wochen haben wir sie angelernt, wie man füttert, die alten Leute im Bett lagert. Und die drei haben das immer gut mitgemacht."
Jens Siegert von der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau vermutet rund um das Thema "Zivildienst" allerdings auch politische Machtkämpfe hinter den Kulissen:
"Die Leute, die im Arbeitsministerium zuständig sind für den Zivildienst, haben schon durchaus ein Interesse daran, sich dieses Potenzial an Arbeitskräften für den ziemlich darbenden russischen Gesundheitsdienst zu sichern. Sie sind nur in der heutigen politischen Situation in Russland dem Verteidigungsministerium gegenüber nur eingeschränkt durchsetzungsfähig. Das ist, denke ich, eine politische Auseinandersetzung, in der im Moment niemand so richtig gewinnt, aber doch die Militärs die Oberhand haben."
Bezeichnend für das derzeitige politische Klima in Russland ist auch ein neues Gesetz zur Kontrolle von Nichtregierungsorganisationen. Die Staatsduma stimmte erst vor wenigen Wochen in erster Lesung einem Entwurf zu, der russische NGOs unter staatliche Aufsicht stellt. Die Arbeit ausländischer Organisationen könnte dann praktisch verhindert werden. Zwar kündigte Putin kurz darauf nach heftiger Kritik aus dem In- und Ausland an, den Entwurf überarbeiten zu lassen - sollte das Gesetz aber tatsächlich durchkommen, müssten Jens Siegert und seine Kollegen anderer ausländischer Stiftungen ihre Büros in Moskau wahrscheinlich dicht machen. Angesehene Menschenrechtsorganisationen wie "Memorial" und die "Soldatenmütter" würden praktisch in die Illegalität gedrängt, ebenso unabhängige Anlaufstellen für Wehrdienstverweigerer – Rechtsanwalt Reiner Wedde:
"Es ist natürlich auch nicht auszuschließen, dass Bewerber aus Gegenden Russlands, die etwas entlegener sind, dann gar nicht über ihr Recht informiert werden und es deswegen nicht wahrnehmen. Das ist natürlich auch eine Möglichkeit, die verstärkt eintreten kann, wenn diese Organisationen beschränkt werden."
Menschenrechtsorganisationen drängen auf eine Änderung des repressiven Zivildienst-Gesetzes. Denn sonst habe der Zivildienst in Russland keine Zukunft, sagt Zinaida Tropina von den Petersburger "Soldatenmüttern":
"Mit diesem Gesetz wird das nicht funktionieren, das muss auf alle Fälle geändert werden. Ich habe mir angeschaut, wie der Zivildienst zum Beispiel in Deutschland organisiert ist. Bei uns würden sich ja auch mehr dafür entscheiden, doch bei uns werden bei der Einberufung die Gesetze nicht eingehalten."
Dabei haben auch einige russische Politiker längst erkannt, dass das Gesetz in seiner heutigen Form wenig Sinn macht. Dennoch bleibt Anwalt Reiner Wedde eher skeptisch, wenn er die Chancen auf eine rasche Novellierung bewerten soll:
"Also, es gibt bereits jetzt eine ganze Reihe von Gesetzesentwürfen, die insbesondere das exterritoriale Prinzip abschaffen wollen und die die Zeit verkürzen wollen. Das sind allerdings alles Gesetzesentwürfe, die von einzelnen Abgeordneten oder einzelnen regionalen Körperschaften eingebracht worden sind. Die dürften höchstens dann eine Erfolgsaussicht haben, wenn sie irgendwann von der Regierung oder anderen Stellen aufgegriffen werden."
Priorität habe für die Regierung unter Präsident Putin derzeit eine grundlegende Militärreform, an deren Ende eine Berufsarmee stehen soll. Damit wäre dann auch der Zivildienst überflüssig. In gut zwei Jahren - 2008 - berät die Staatsduma darüber, ob der Armee-Dienst dann auf ein Jahr halbiert werden kann. Damit würde automatisch auch der Zivildienst deutlich kürzer: statt dreieinhalb Jahre – dann 21 Monate.
Jens Siegert jedenfalls zeigt sich verhalten optimistisch, was die Zukunft des russischen AGS anbelangt und vergleicht die Situation im heutigen Russland mit den 50er Jahren in der alten Bundesrepublik. Damals habe es dort auch nur wenige hundert Verweigerer gegeben:
"Hast Du gedient? – Es war in weiten Bereichen ein Karrierehemmnis, nicht gedient zu haben. Das ist in Russland immer noch genauso. Die Änderung hat sich eigentlich erst ergeben, wenn man so will, mit der Kulturrevolution, die immer mit dem Jahr ’68 verbunden wird, mit dem Aufkommen der Frauenbewegung, mit dem veränderten Geschlechterrollen-Bild. Ich habe 1980 verweigert, damals waren das noch knapp mehr als zehn Prozent eines Jahrgangs, heute ist es die Hälfte. D.h., das ist eine Entwicklung, die mit der Änderung der Gesellschaft einhergeht. Die russische Gesellschaft ist in dieser Hinsicht eine sehr patriarchalische Gesellschaft."
Ein langsam und mühsam akzeptierter Zivildienst als Etappe auf Russlands Weg zu einer echten Zivilgesellschaft, in der Wehrdienstverweigerer nicht mehr als Memmen und Schwächlinge gelten - das könnte sich als lohnenswerte Perspektive erweisen.
"Ich bin Zeuge Jehovas, und darum stellt sich mir nicht die Frage: Armee oder Zivildienst. Ich habe mich sofort für den Zivi entschieden, weil ich wegen meiner inneren Überzeugung einfach nicht in der Armee dienen kann. Ich will nicht kämpfen und mit einer Waffe rumlaufen und lernen Leute umzubringen, deshalb mache ich das hier."
Stanislaw und seine beiden Zivi-Kollegen sind echte Bahnbrecher. Denn erst seit dem 1. Januar 2004 gibt es in Russland die gesetzliche Möglichkeit, den Dienst an der Waffe zu verweigern. Dabei ist das Recht auf Zivildienst schon in der russischen Verfassung von 1993 verbrieft. Dass es elf Jahre bis zur Verabschiedung des Gesetzes gedauert hat, ist mit der Einflussnahme unterschiedlicher Interessengruppen zu erklären, sagt Reiner Wedde, der als Anwalt in Moskau arbeitet und das russische Zivildienstgesetz ins Deutsche übersetzt hat:
"Zum einen gibt es natürlich die Militärs, die versuchen möglichst wenig Zivildienstleistende zu bekommen. Es ist auch im Vorfeld geäußert worden seitens des Militärs, dass also das Überschreiten einer bestimmten Zahl zu gesetzgeberischen Änderungen führen müsse, man hat damals von 5.000 pro Jahr gesprochen, mehr sei militärisch nicht zu verkraften. Und die andere Interessengruppe, die sich ebenfalls engagiert hat, waren natürlich Menschenrechtsgruppen, liberale Gruppen, die erstens wollten, dass überhaupt eine Möglichkeit geschaffen wird, und die zweitens wollten, dass eine Möglichkeit geschaffen wird, die auch tatsächlich eine realistische Chance ermöglicht diesen Dienst abzuleisten."
Bislang entscheiden sich jedoch nur wenige Wehrpflichtige für den Alternativen Zivildienst, der in Russland kurz "AGS" genannt wird und für den Begriff "Alternativer Staatsbürgerlicher Dienst" steht. In der Fünf-Millionen-Metropole St. Petersburg etwa sind Stas und seine Freunde bislang die einzigen so genannten ""Alternativtschiki". Selbst in der mehr als doppelt so großen Hauptstadt Moskau verrichten zurzeit gerade einmal fünf junge Männer ihren Dienst in einem Krankenhaus:
"Die Arbeitszeiten sind hier so bis 17 Uhr, 17.30 Uhr, das geht also, halt wie ein normaler Arbeitstag, Wir arbeiten hier als Krankenpfleger, sprich: Pflege der bettlägerigen Kranken, also die, die alleine nicht mehr klar kommen oder alleine auf die Toilette gehen können. Wir füttern die Alten und sorgen ganz einfach dafür, dass alles sauber ist, das ist unsere Arbeit."
Offiziellen Angaben zufolge gibt es in ganz Russland nur rund 500 Zivildienstleistende. Vor allem die Länge des Dienstes wirkt auf viele junge Russen abschreckend, sagt Reiner Wedde:
"Der Wehrdienst beträgt ja in Russland augenblicklich zwei Jahre. Und der Zivildienst beträgt das 1,75-fache davon. Das ist natürlich eine sehr lange Zeit, auch wenn man sich den europäischen Rahmen mal anschaut in den Ländern, in denen es noch Wehrdienst und Zivildienst gibt. Der zweite Punkt, warum das Zivildienstgesetz beschränkt ist, ist das so genannte exterritoriale Prinzip. Das heißt: Die Zivildienstleistenden haben kein Recht ihren Zivildienst in dem Subjekt, also dem Bundesland könnte man sagen, abzuleisten, in dem sie auch gemeldet sind. Das führt dazu, dass, möglicherweise als Zivildienstleistender, wenn man aus Moskau oder Petersburg kommt, eben irgendwo in den fernen Osten Russlands verschickt wird."
Maikop, die Heimatstadt von Stas und seinen Kollegen, liegt zum Beispiel 2.000 Kilometer entfernt von St. Petersburg im Süden Russlands. Auch die drei wurden nicht gefragt, ob sie so weit weg von zu Hause ihren Dienst tun wollen.
Für eine grundlegende Änderung des Gesetzes setzt sich die Gesamtrussische Koalition für einen Alternativen Zivildienst ein. Die Koalition besteht aus über einhundert nichtstaatlichen Organisationen, die Zivildienst-Bewerber beraten und sich für die Rechte der jungen Männer einsetzen. Vor allem das so genannte exterritoriale Prinzip sei brutal und inakzeptabel, sagt der Vorsitzende der Koalition, Sergej Krivenko:
"In Europa ist das schwer zu verstehen, dass diese Vorschrift für uns so hart ist. In Russland haben wir einfach ganz andere Entfernungen. Damit haben im Übrigen auch die zu kämpfen, die in der Armee dienen. Klimatisch, wenn jemand aus dem europäischen Teil nach Sibirien geschickt wird oder umgekehrt, dann wird der da schnell krank."
Aber auch hinsichtlich der Zivildienst-Dauer - dreieinhalb Jahre - ist die Russische Föderation weltweit einsame Spitze. Nur wer einen Hochschulabschluss vorweisen kann, für den halbiert sich der Armeedienst auf ein Jahr, der Zivildienst entsprechend auf 21 Monate.
Jens Siegert vom Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung nennt weitere mögliche Gründe für die niedrigen Verweigerer-Zahlen:
"Und das Dritte ist, dass ohne den Zivildienstleistenden zu fragen er in militärischen Einrichtungen Dienst tun soll. Das heißt nicht, dass er eine militärische Tätigkeit verrichten soll, sondern als Sanitäter arbeitet, oder als Mechaniker, ohne Waffe, aber schon durchaus in Militäreinrichtungen. Und das Vierte ist, dass eine Gewissensprüfung stattfindet, bevor ein Antragsteller anerkannt wird. Es ist recht analog zu dem, was in Deutschland bis Mitte der 80er Jahre der Fall war."
Außer in militärischen Einrichtungen müssen die Alternativschiki auch in der Industrie, im Straßenbau oder als Gefängniswärter arbeiten.
Zuständig für die Organisation des Zivildienstes ist die russische Agentur für Arbeit und Beschäftigung "ROSTRUD" mit Sitz in Moskau. Die Länge des Dienstes sei mit dreieinhalb Jahren optimal, heißt es hier lapidar. Und auch beim heimatfernen Einsatz der Zivildienstleistenden habe sich der Gesetzgeber durchaus etwas gedacht, sagt der stellvertretende Leiter der Abteilung Zivildienst, Boris Demjankov:
"Nehmen wir mal den Süden Russlands, das Gebiet um Krasnodar, Stawropol. Da gibt es einfach wenige Arbeitsmöglichkeiten für die Zivildienstleistenden. Darum schicken wir sie in andere Regionen, wo es Bedarf an solcher Arbeit gibt und wo die Organisationen auch Unterbringungsmöglichkeiten haben für diese Leute. Außerdem bemühen wir uns für Verheiratete und Väter mit Kindern, die älter als drei Jahre alt sind, Einsatzmöglichkeiten in ihrem Heimatort zu finden. Das verbietet das Gesetz nicht."
Was Demjankov jedoch verschweigt, sind die Bedingungen, unter denen viele der Alternativschiki hausen. Stanislav und seine beiden Zivi-Kollegen etwa wohnen auf einem Flur mit den anderen Heimbewohnern. Man hat ganz einfach eines der Zimmer für die drei geräumt. Laut Gesetz müssen jedoch alle Einrichtungen, die Zivis beschäftigen, über separate Wohnheime verfügen. Diese Vorschrift stehe auf dem Papier, werde aber in vielen Fällen nicht eingehalten, sagt Sergej Krivenko.
Ein weiterer Stolperstein bei der Suche nach einer geeigneten Zivildienststelle ist ein Passus im Gesetz, der den Einsatz der Zivis ausschließlich in staatlichen Einrichtungen vorschreibt - Jens Siegert:
"Was ein großes Problem ist, weil die meisten Krankenhäuser, Altenheime und Behindertenheime und so weiter sind in kommunaler Hand, und die kommunalen Einrichtungen gelten bis heute laut Verfassung in Russland nicht als Staatseinrichtung, das sind keine staatlichen Behörden, sozusagen auf der Bezirksebene hört der Staat auf, formal. Das ist ein Problem, das jetzt geändert werden soll."
Der repressive Charakter des Gesetzes, das dann auch noch in vieler Hinsicht missachtet wird, ist aber nur ein Grund für den geringen Anklang, den der Zivildienst bislang bei jungen Russen findet. Auch tradierte soziokulturelle Eigenheiten der russischen Gesellschaft spielen dabei eine wichtige Rolle. So herrscht ein ungebrochener Männlichkeitskult, der in Russland nur schwer vereinbar ist mit einem sozialen Ersatzdienst junger Männer in Krankenhäusern oder Altenheimen:
"Zwar wissen alle Leute, dass es schlecht ist, in der Armee zu sein und gefährlich. Auf der anderen Seite gibt es trotzdem einen allgemeinen Stolz auf diese Armee, und bei Umfragen beantworten über 80 Prozent der Menschen hier ohne irgendwelche Einschränkungen mit Ja, wenn man sie fragt, ob sie meinen, dass das Militär aus einem Mann überhaupt erst einen Mann macht, d.h. wer nicht beim Militär gewesen ist, ist kein Mann. Auf der anderen Seite gehen nur zehn Prozent der jungen Männer eines Jahrganges zum Militär. Das ist eine etwas schizophrene Bewusstseinsspaltung, die aber konstitutiv für das russische Bewusstsein ist."
Der Armeedienst ist tatsächlich gefürchtet und berüchtigt für seine Schikanen und die Brutalität der Vorgesetzten. Jedes Jahr sterben nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mehrere Hundert Rekruten unter ungeklärten Umständen.
"Ein Teil davon durch Unfälle, durch Nachlässigkeit, ein nicht unerheblicher Teil durch Selbstmorde, bzw. auch durch Morde untereinander, und zu den Selbstmorden werden viele der Soldaten getrieben durch ihre älteren Kameraden. Diese Erscheinung hat sogar einen Namen: "Dedovshchina", sozusagen das "Großväterchentum". Es wird von Soldaten, die ein halbes Jahr oder ein Jahr schon gedient haben, geradezu als ihr Recht betrachtet, die neu hinzu Kommenden nicht nur zu unterdrücken, sondern sei praktisch wie Sklaven zu halten. Die müssen sie bedienen, sie werden erniedrigt, sie werden geschlagen, sie werden sexuell missbraucht, also alles Schreckliche, was man sich vorstellen kann, findet dort statt."
Den misshandelten Rekruten und ihren Angehörigen steht seit Anfang der 90er Jahre das Komitee der russischen Soldatenmütter zur Seite, eine Menschenrechtsorganisation, die Missstände öffentlich macht und bei Behörden die Einhaltung der Gesetze einfordert. Für seine Arbeit wurde das Petersburger Büro der Organisation 2004 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet. Auch Zinaida Tropina engagiert sich für die Rechte der Rekruten. Sie ist sich sicher: Die Armee sieht den Zivildienst als Bedrohung, weil die Generäle den Nachschub an Soldaten vor allem für den Tschetschenien-Einsatz in Gefahr sehen:
"Die Militärs wollen, dass sie die Leute unter Kontrolle haben, wollen, dass die Armee auf diese Ressourcen zurückgreifen kann. Darum haben sie ein Zivildienstgesetz durchgeboxt, das praktisch nicht funktioniert. Gleichzeitig läuft eine Einberufungspraxis, die schlimm ist, drakonisch und die praktisch allen Gesetzen zuwider läuft, den Militärgesetzen, der russischen Verfassung, dem russischen Menschenrechtsgesetz. Die agieren da in einem rechtsfreien Raum."
Inoffiziellen Angaben zufolge gehen nur rund zehn Prozent eines Jahrgangs tatsächlich zur Armee. Der Rest findet Mittel und Wege, den gefürchteten Wehrdienst zu umgehen, erklärt Anwalt Reiner Wedde:
"Zum einen gibt es die Möglichkeit, an einem so genannten Militärlehrstuhl sich einzuschreiben. Dann studiert man ganz normal gewisse Vorlesungen mit einem pseudomilitärischen Charakter, also beispielsweise Fremdsprachenkenntnisse zur späteren Verhörung von Kriegsgefangenen, sind so ein Kurs, Erkennung von Panzertypen, und erhält am Ende nach Abschluss des Studiums einen Offiziersdienstgrad und hat sich ansonsten den Wehrdienst erspart. Das ist natürlich für sehr viele Leute eine sehr reale Alternative. Die soll allerdings jetzt eingeschränkt werden. Man will die Zahl dieser Militärlehrstühle in Russland deutlich verkleinern, um eben mehr Leute tatsächlich zum Militär zu bringen. Die zweite Möglichkeit ist, dass man aus bestimmten familiären Gründen, wenn man bestimmte Abschlüsse bereits erworben hat, nicht mehr zum Wehrdienst herangezogen wird."
Und wer das nötige Geld aufbringen kann, der besticht ganz einfach Ärzte, um an ein gefälschtes Attest zu kommen – in Russland ist das schon seit Jahren gängige Praxis. Solche gekauften Bescheinigungen haben zurzeit einen "Marktwert" von umgerechnet ungefähr 2.000 Euro.
Wer sich dann trotz aller Widrigkeiten dennoch für den Zivildienst entscheidet, arbeitet zumeist für einen echten Hungerlohn: Gerade mal 120 Euro pro Monat verdienen Stas und seine Kollegen im St. Petersburger Altenheim. Bestimmt sind die Umstände, unter denen die jungen Russen ihren Alternativ-Dienst verrichten, nicht gerade einfach. Das findet auch Stanislaw. Aber:
"Dafür geht es hier nicht ganz so streng zu wie beim Militär. Wir können uns hier ziemlich frei bewegen, wenn man zum Beispiel in die Stadt gehen will oder Freunde treffen. So eine Freiheit gibt es in der Armee ganz einfach nicht."
Doch so wie Stas denken bislang die wenigsten – dabei hätten soziale Einrichtungen wie das Petersburger Altenheim großen Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften, wie dessen Leitender Arzt Juri Bagradovski bestätigt:
"Als es darum ging: Brauchen wir die Zivis oder nicht, haben wir nicht nein gesagt. Da geht es ja um Pflegedienst, also um schlecht bezahlte, bei uns nicht sonderlich angesehene Arbeit. Und da hatten wir auch Engpässe, da haben wir die drei natürlich gerne genommen. Und unser Direktor sagt, vielleicht kommen sogar noch zwei oder drei. Das hilft uns auf jeden Fall. Die ersten drei Wochen haben wir sie angelernt, wie man füttert, die alten Leute im Bett lagert. Und die drei haben das immer gut mitgemacht."
Jens Siegert von der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau vermutet rund um das Thema "Zivildienst" allerdings auch politische Machtkämpfe hinter den Kulissen:
"Die Leute, die im Arbeitsministerium zuständig sind für den Zivildienst, haben schon durchaus ein Interesse daran, sich dieses Potenzial an Arbeitskräften für den ziemlich darbenden russischen Gesundheitsdienst zu sichern. Sie sind nur in der heutigen politischen Situation in Russland dem Verteidigungsministerium gegenüber nur eingeschränkt durchsetzungsfähig. Das ist, denke ich, eine politische Auseinandersetzung, in der im Moment niemand so richtig gewinnt, aber doch die Militärs die Oberhand haben."
Bezeichnend für das derzeitige politische Klima in Russland ist auch ein neues Gesetz zur Kontrolle von Nichtregierungsorganisationen. Die Staatsduma stimmte erst vor wenigen Wochen in erster Lesung einem Entwurf zu, der russische NGOs unter staatliche Aufsicht stellt. Die Arbeit ausländischer Organisationen könnte dann praktisch verhindert werden. Zwar kündigte Putin kurz darauf nach heftiger Kritik aus dem In- und Ausland an, den Entwurf überarbeiten zu lassen - sollte das Gesetz aber tatsächlich durchkommen, müssten Jens Siegert und seine Kollegen anderer ausländischer Stiftungen ihre Büros in Moskau wahrscheinlich dicht machen. Angesehene Menschenrechtsorganisationen wie "Memorial" und die "Soldatenmütter" würden praktisch in die Illegalität gedrängt, ebenso unabhängige Anlaufstellen für Wehrdienstverweigerer – Rechtsanwalt Reiner Wedde:
"Es ist natürlich auch nicht auszuschließen, dass Bewerber aus Gegenden Russlands, die etwas entlegener sind, dann gar nicht über ihr Recht informiert werden und es deswegen nicht wahrnehmen. Das ist natürlich auch eine Möglichkeit, die verstärkt eintreten kann, wenn diese Organisationen beschränkt werden."
Menschenrechtsorganisationen drängen auf eine Änderung des repressiven Zivildienst-Gesetzes. Denn sonst habe der Zivildienst in Russland keine Zukunft, sagt Zinaida Tropina von den Petersburger "Soldatenmüttern":
"Mit diesem Gesetz wird das nicht funktionieren, das muss auf alle Fälle geändert werden. Ich habe mir angeschaut, wie der Zivildienst zum Beispiel in Deutschland organisiert ist. Bei uns würden sich ja auch mehr dafür entscheiden, doch bei uns werden bei der Einberufung die Gesetze nicht eingehalten."
Dabei haben auch einige russische Politiker längst erkannt, dass das Gesetz in seiner heutigen Form wenig Sinn macht. Dennoch bleibt Anwalt Reiner Wedde eher skeptisch, wenn er die Chancen auf eine rasche Novellierung bewerten soll:
"Also, es gibt bereits jetzt eine ganze Reihe von Gesetzesentwürfen, die insbesondere das exterritoriale Prinzip abschaffen wollen und die die Zeit verkürzen wollen. Das sind allerdings alles Gesetzesentwürfe, die von einzelnen Abgeordneten oder einzelnen regionalen Körperschaften eingebracht worden sind. Die dürften höchstens dann eine Erfolgsaussicht haben, wenn sie irgendwann von der Regierung oder anderen Stellen aufgegriffen werden."
Priorität habe für die Regierung unter Präsident Putin derzeit eine grundlegende Militärreform, an deren Ende eine Berufsarmee stehen soll. Damit wäre dann auch der Zivildienst überflüssig. In gut zwei Jahren - 2008 - berät die Staatsduma darüber, ob der Armee-Dienst dann auf ein Jahr halbiert werden kann. Damit würde automatisch auch der Zivildienst deutlich kürzer: statt dreieinhalb Jahre – dann 21 Monate.
Jens Siegert jedenfalls zeigt sich verhalten optimistisch, was die Zukunft des russischen AGS anbelangt und vergleicht die Situation im heutigen Russland mit den 50er Jahren in der alten Bundesrepublik. Damals habe es dort auch nur wenige hundert Verweigerer gegeben:
"Hast Du gedient? – Es war in weiten Bereichen ein Karrierehemmnis, nicht gedient zu haben. Das ist in Russland immer noch genauso. Die Änderung hat sich eigentlich erst ergeben, wenn man so will, mit der Kulturrevolution, die immer mit dem Jahr ’68 verbunden wird, mit dem Aufkommen der Frauenbewegung, mit dem veränderten Geschlechterrollen-Bild. Ich habe 1980 verweigert, damals waren das noch knapp mehr als zehn Prozent eines Jahrgangs, heute ist es die Hälfte. D.h., das ist eine Entwicklung, die mit der Änderung der Gesellschaft einhergeht. Die russische Gesellschaft ist in dieser Hinsicht eine sehr patriarchalische Gesellschaft."
Ein langsam und mühsam akzeptierter Zivildienst als Etappe auf Russlands Weg zu einer echten Zivilgesellschaft, in der Wehrdienstverweigerer nicht mehr als Memmen und Schwächlinge gelten - das könnte sich als lohnenswerte Perspektive erweisen.