Das fängt mit dem gewundenen Titel an: "Wer nicht mit dem Wolf heult". Darin birgt sich mehr als nur die Anspielung an ein Sprichwort. Natürlich ist der Vater Wolfgang gemeint, seit Jahren alleiniger Chef der Bayreuther Festspiele. Gemeint ist aber vor allem auch jener "Onkel Wolf", der in den 20er, 30er & 40er Jahren gerngesehener Festspiel- und Familiengast war und den die übrige Welt weniger unter diesem zärtlichen Pseudonym als vielmehr unter seinem bürgerlichen Namen Adolf Hitler kennt. "Onkel Wolf" nannten ihn die Kinder der Familie Wagner, also vor allem die Brüder Wieland und Wolfgang, die späteren Begründer Neubayreuths, und deren Schwester Verena. Schwester Friedelind hatte sich als einzige der Nähe zu dem Fürchterlichen entzogen und war ins Exil gegangen. Noch posthum wird sie in der Autobiographie ihres verantwortlichen Bruders Wolfgang geschmäht.
Diese Autobiographie wiederum mit dem nicht ganz korrekten Titel "Lebensakte" - es fehlen wohl ein paar wichtige Aktennotizen - erschien 1994 aus Anlaß des 75. Geburtstags von Wolfgang Wagner. Sie ist teils launig, teils abgrundböse geschrieben. Gottfrieds Autobiographie von dem, der nicht mit dem Wolfgang heult, ist mithin als direkte Antwort auf die väterliche "Lebensakte" zu begreifen; nicht von ungefähr liest man auf dem rückwärtigen Umschlag: "Bayreuther Lebenslügen - ein Wagner-Urenkel packt aus".
Damit ist vor allem der Versuch gemeint, die nationalsozialistische Vergangenheit der Familie sorgfältiger zu belegen, als dies bisher von offizieller Seite geschah. Nun wußte man spätestens seit dem hemmungslosen Interview, das Großmutter Winifred in den 70er Jahren dem Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg gewährte, daß die "Hohe Frau", wie sie auf dem Gralshügel genannt wurde, auch da noch auf den "Führer" hielt; aber daß es ein familieninternes Kürzel "USA" gab, das für "Unser Seliger Adolf" stand, erschreckt doch einigermaßen. Gottfried Wagner bringt Dokumente ans Licht, die den Familienzusammenhalt nicht gerade befördern werden. So publiziert er im Kapitel "Der Antisemitismus der Familie Wagner" einen Offenen Brief, den seine Großmutter Winifred am 14.November 1923, also kurz nach Hitlers vergeblichem Münchner Putschversuch, in der "Oberfränkischen Zeitung" abdrucken ließ:
"Ganz Bayreuth weiß, daß wir in freundschaftlicher Beziehung zu Adolf Hitler stehen. Wir waren an den verhängnisvollen Tagen gerade in München und sind die ersten gewesen, die von dort zurückkamen... Seit Jahren verfolgen wir mit größter innerer Teilnahme und Zustimmung die aufbauende Arbeit Adolf Hitlers, dieses deutschen Mannes, der, von heißer Liebe zu seinem Vaterlande erfüllt, sein Leben seiner Idee eines geläuterten, einigen, nationalen Großdeutschland zum Opfer bringt, der die gefahrvolle Aufgabe sich gestellt hat, der Arbeiterschaft über den inneren Feind und über den Marxismus und seine Folgen die Augen zu öffnen, der es wie kein zweiter fertig gebracht hat, die Menschen untereinander zu verbrüdern und zu versöhnen, den schier unüberbrückbaren Klassenhaß zu beseitigen gewußt hat, der Tausenden und Abertausenden Verzweifelnder die frohe Hoffnung auf ein wiedererstehendes, würdiges Vaterland und den festen Glauben daran wiedergegeben hat."
Wie gesagt: dieser Offene Brief erschien im November 1923. Es ist dann noch die Rede von der moralischen Kraft und Reinheit Hitlers und von seiner göttlichen Bestimmung. Wenige Wochen später heißt es in einem privaten Brief des Winifred-Gatten Siegfried Wagner, des Sohnes des Komponisten:
"Jude und Jesuit gehen Arm in Arm, um das Deutschtum auszurotten. Aber vielleicht verrechnet sich der Satan diesmal. Sollte die Deutsche Sache wirklich erliegen, dann glaube ich an Jehova, den Gott der Rache und des Hasses. Meine Frau kämpft wie eine Löwin für Hitler! Großartig!"
Winifred Wagner schickte Freund Wolf auch größere Mengen Schreibpapier in die Haft, die er nach dem Münchner Putsch zu verbüßen hatte. Hitler benötigte das Manuskriptpapier für sein Buch "Mein Kampf".
Seitenweise deckt Gottfried Wagner in seinen autobiographischen Aufzeichnungen solche Zusammenhänge auf, vervollständigt sie durch Gedächtnisprotokolle von Gesprächen, die er mit seiner Großmutter Winifred und mit seinem Vater Wolfgang führte und sieht den Boden zum strammen Nationalsozialismus der Familie im umfassenden Antisemitismus Richard Wagners und dessen Frau Cosima begründet. Vor allem aber erhebt er den Vorwurf, daß dieser Antisemitismus nicht nur nicht aufgearbeitet wurde, sondern unter der Hand bis in die siebenziger Jahre sich fortsetzen konnte. Noch 1969 soll Winifred Wagner in Anwesenheit des Dirigenten Lorin Maazel über diesen gesagt haben: "Obwohl Maazel Jude ist, scheint er doch ganz begabt."
Gottfried Wagner hat, wie er schreibt, schon in früher Jugend mit den Recherchen begonnen. Ihn habe gestört, daß das offizielle Bayreuth sich nach außen hin entnazifiziert gab, während intern, den Vater Wolfgang eingeschlossen, das alte Gedankengut weiterlebte.
Das Buch ist natürlich in hohem Maße polemisch, wie das meiste, was in diesem Familienkreis publiziert wurde und wird. Wär's wohl anders, wundern würd' es friedliche Freunde wie neidige Nicker... Bei näherem Hinsehen scheint es zudem, als gehöre die Auseinandersetzung zwischen den Generationen sowohl zur privaten wie zur künstlerischen Dramaturgie all dessen, was man so unter dem Stichwort "Wagner" subsumiert. Vaterkonflikt und Vaterlosigkeit tauchen tatsächlich auf signifikante Weise bei allen vier Wagner-Generationen und ebenso signifikant als Agens etlicher Wagnerscher Dramen auf.
Doch zurück zur biographischen Aufarbeitung durch die Enkel und nun die Urenkel Generation. Beide Bücher sind über weite Strecken aus grobem Holz geschnitzt; die Autobiographie des Vaters von 1994 womöglich aus gröberem als die aktuelle des Sohnes. Stilisten sind beide nicht. Und im Ton gegen das, was ihnen zuwider, scheinen sie einander näher verwandt als ihnen womöglich lieb. So schreibt Wolfgang Wagner über einen Teil der Presse ich reiße selbstverständlich aus dem Zusammenhang:
"Mir ist bekannt, daß nach vierzehn Tagen alle Veröffentlichungen, auch der blödsinnigste Unfug, in den Rang einer journalistischen Wahrheit gehoben werden."
Sohn Gottfried, nach eigenen Angaben Multimediaregisseur und Publizist, steht ihm in nichts nach, wenn er etwa von den Bayreuther ?Festspielhofschranzen" spricht, was freilich keine üble Wortschöpfung darstellt, oder vom ?versammelten Jasagerchor meines Vater." So wie der Vater wird auch der Sohn ständig von irgendwelchen Journalisten mißverstanden oder gar betrogen. Über Hans-Jürgen Syberberg, über den man allerdings wirklich geteilter Meinung sein kann, äußern sich beide abfällig. Kurz und gut: Es ist nicht ohne Reiz, die beiden Bücher nach Art einer Synopse zu lesen.
Da ergeben sich selbst bei scheinbar weniger wichtigen Details zumindest deutliche Fragezeichen, was die bisherige Historio- oder vielleicht auch Hagiographie der Bayreuther Festspiele betrifft. So schreibt Wolfgang Wagner über die Vorbereitungen zum Jahrhundert-Ring des Jahres 1976 und den Umstand, daß er Anfang 1974 dazu mit dem französischen Regisseur Patrice Chéreau in Verbindung getreten war:
"Schon am 29.Mai erhielt ich von Chéreau ein Exposé, das auf mich einen höchst überzeugenden Eindruck machte und eine erstaunliche Kenntnis der dem ,Ring' zugrundeliegenden Quellen und Stoffe verriet."
Gottfried Wagner war immerhin zwei Jahre später während der Proben Regieassistent in Bayreuth und schreibt über ein Treffen zwischen seinem Vater und Chéreau sowie dessen Dramaturgen Regnault:
"Allen späteren Legenden des Bayreuther Marketings zum Trotz war mein Vater damals keineswegs einverstanden mit dem ,Ring'-Konzept von Chéreau und Regnault, wie es nach dem Medienerfolg der Inszenierung später dargestellt worden ist. Die Stimmung bei diesem Treffen war äußerst gespannt, und wegen des deutsch-patriarchalischen Verhaltens meines Vaters hätte das Projekt auch platzen können. Die knallharten Auseinandersetzungen zwischen Vater und Regnault setzten sich bis Juni 1976 fort. In einem Brief an Regnault schrieb Vater am 11.Juni 1976 über Regnaults bedeutenden Beitrag zum ,Ring' 1976 mit dem Titel ,Richard Wagners theatralische Sendung' unter anderem, die vom Verfasser aufgestellten Thesen seien so mißverständlich, unausgegoren und falsch, daß die Annahme naheliege, er habe letztlich gar nicht begriffen, worum es im ,Ring' gehe."
Der Außenstehende kann natürlich unmöglich entscheiden, welche der beiden divergierenden Darstellungen richtig ist. Doch gibt es eine ganze Reihe anderer Aspekte im Buche des Sohnes, also des Urenkels, die den Leser veranlassen, dem jüngeren Autor einigen Kredit zu schenken. Seine rückhaltlose Kritik dessen, was er "connections" im Kulturbetrieb nennt, die zahlreichen Hinweise auf quasi mafiose Zusammenhänge gerade in der deutschen Opernszene, sein entschiedener Affront gegen den allmächtigen New Yorker Musikboß Ronald Wilford und auf der anderen Seite seine herzliche Sympathie einem so unerschrockenen Journalisten gegenüber wie dem Briten Norman Lebrecht - das alles macht ihn glaubwürdiger als er wohl selbst manchmal denkt.
Vielleicht wird jetzt der geneigte Hörer ungeduldig auf eine Mitteilung warten, welch' großen oder kleinen Wurf diese Autobiographie darstelle, welcher Sinn sich herauslesen lasse, welche Lebenslinie des Autors oder dergleichen mehr. Nun, "Wer nicht mit dem Wolf heult" von Gottfried Wagner ist ein Buch wie Kraut und Rüben. Auch das ist nicht unsympathisch. Hier wird gar nicht erst der Versuch unternommen, das Disparate des Lebens mit jenem Sinn zu überwölben, der seit Hegels Zeiten zu den Biographien gehört wie das Schmalz zur Stulle. Mühevoll ist es freilich schon, das Leben des G.W. nachzuvollziehen.
Da ist die Bayreuther Kindheit. Sie beginnt 1947 und ist geprägt vom ewigen Abgeschoben-Werden in irgendwelche Luxus-Heime und Internate und auch gezeichnet von der offenkundig tiefen Feindschaft zwischen den Brüdern Wieland und Wolfgang Wagner. Es tritt ein mühsamer Weg zum Abitur zutage; das Studium der Musikwissenschaft wird mit einer Dissertation über das Musiktheater von Brecht und Weill abgeschlossen, was seitens der Großmutter Winifred hämische antisemitische Bemerkungen einträgt. Gottfried wird als Opernregisseur tätig; heute beschuldigt er den Vater und alle, die er im Bunde mit diesem wähnt, seine Karriere nach Kräften verhindert zu haben. Später arbeitete er in der Kurt-Weill-Foundation in New York, die er vielleicht ein bißchen sehr idealistisch sieht. Er hält Vorträge in den USA und in Israel über Bayreuth und den Nationalsozialismus; er wird von den Richard-Wagner-Vereinen geschnitten, weil offenbar der Vater und so weiter. Gottfried tritt zum katholischen Glauben über, wohl um seine italienische Frau heiraten zu können, und durchläuft eine dreijährige Ausbildung bei der Deutschen Bank. Die Kollegen sind natürlich meistens mies. Einer entpuppt sich gar als garstiger Gauch; den nennt er "Semmel". Nachdem er dem Kapitalismus erneut den Rücken gekehrt hat, kämpft er ums pure Überleben, betätigt sich sogar als Edel-Schuhverkäufer in Mailand und stellt rückblickend fest, daß immer die anderen an allem schuld sind. Manchmal wird man schon ein bißchen ärgerlich.
Über allem aber das Schlüsselerlebnis: Die Erfahrung dessen, was er die "Bayreuther Lebenslüge" nennt. Gottfried Wagner schildert, wie er in seiner Kindheit im Seitenwagen des väterlichen Motorrads die Schmalfilme mit den Familienszenen fand; und der "Führer" stets mittenmang dabei. Diese Filme, die inzwischen verschwunden sein sollen, bilden den Ariadnefaden im biographischen Labyrinth des Gottfried Wagner.
Den Kontrapunkt sucht er seit etlichen Jahren im Gedenken an die Shoa und in der Versöhnung über den Gräbern. Auschwitz bringt ihn, wie es scheint, mit äußerst vernünftigen Leuten zusammen. Doch es läßt ihn selbst nur mählich klüger werden. So zynisch es klingen mag: Das Neu-Bayreuth der 50er mußte eng mit dem Nationalsozialismus verknüpft bleiben, denn die deutsche Nachkriegsgesellschaft blieb nationalsozialistisch dominiert. Noch immer zögert Gottfried Wagner auch einzusehen, daß weite Bereiche des gegenwärtigen Musik- und Opernbetriebs durchaus von faschistischen Machtmechanismen überzogen sind. Noch immer scheint zudem jeder Wagner unter dem Zwang zu stehen, bedeutend sein zu müssen. Warum sonst greift Gottfried Wagner mit solchem Eifer zu jedem Zeitungsausschnitt über sich und die eigenen Vorträge und Aktivitäten? Warum muß er sich ständig rechtfertigen, wo er doch schon katholisch ist? Sympathisch stimmt, daß er seine Lebensbeichte in ihrer Grundstruktur so dekonstruktivistisch anlegt, daß der latente Zwang zur Größe stets noch auf Energien der Demontage trifft, ein dialektischer Prozeß, der den Leser freilich auch verwirren kann.
Tröstlich ist nicht zuletzt Gottfried Wagners Hinwendung zu Kurt Weill. Der wird ihm zum Gegenentwurf, wenngleich mit den Weill-Erben bekanntlich auch nicht gut Kirschen essen ist. Immerhin: Weill kann man wenigstens einfach an einem verstimmten Klavier zum Gefillte Fisch spielen. Fürs Wagner-Erbe braucht's immer Kapital.
Daß der Autor doch noch mit Vorschlägen zur Reform Bayreuths aufwartet, gehört gewiß zum Widersprüchlichsten, was sich in diesem Buch findet. Es sollten, so meint er, auch Opern von anderen, für Wagner wichtigen Komponisten im Festspielhaus aufgeführt werden. Nun, über - sagen wir den "Ritorno d'Ulisse" von Monteverdi bei verdecktem Orchester könnte man schon diskutieren. "Figaro", "Carmen" oder "La Traviata" verbitte ich mir an diesem Ort; die sind zu helle für Bayreuth. Wagners Kammermusik und Sinfonien gehören ebenfalls kaum in ein Festival, sondern als abschreckende Beispiele ins Lehrbuch. In ihnen tritt der lebenslange Dilettantismus des Tonsetzers denn doch zu deutlich zutage. Gottfried Wagner denkt auch an zeitgenössische Komponisten - vielleicht ließe ja Stockhausen in diesem Punkt mit sich reden. Unter Umständen wäre dann die leidige Frage der künftigen Festspielleitung gelöst; die Stockhausen-Sippe soll ja längst nicht so zerstritten sein wie der Wagner-Clan.
Doch eigentlich möchte man dem späten Sproß des Richard am Ende seines Anti-Wolf eher etwas völlig anderes raten: Da sich ihm schon einmal seine Gedanken wild umherwerfen wie Granitblöcke, sollt' er das zertierende Konzert beschließen und stattdessen die Zeit der Mondmilch nutzen, einen guten Krätzer einsacken sowie eine Flöte zum Munde nehmen und als 64. Veränderung über ein banales Thema entfliehende Töne spielen: Quod Deus vult. Mit dem Walten hat's ein End'!