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Wer schneller lebt, ist früher fertig

Depressionen nehmen zu. Vor allem in Industrie und Schwellenländern. Das legt einen Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensbedingungen nahe. Die Beschleunigung des Lebens und damit der immer raschere Verlust von Vertrautem, Traditionen und Werten, also Dingen die seelischen Halt geben, könnte eine Rolle spielen. Hinzu kommt, dass Depressive Zeit anders erleben.

Von Cajo Kutzbach | 21.05.2009
    Chopin hat sich 1838 mit diesem Regentropfen-Prelude die Enttäuschung über den verregneten Winter in Mallorca von der Seele geschrieben, denn er hatte gehofft, mit Sonne und Wärme seine Tuberkulose zu lindern. Ob seine Niedergeschlagenheit wegen des nasskalten Wetters in eine Depression überging, ist nicht sicher. Vielleicht hat er sich davor durch seine Arbeit geschützt; er komponierte damals viele Stücke.

    Wo eine vorübergehende Niedergeschlagenheit aufhört und eine Depression anfängt, skizziert Professor Thomas Fuchs, Oberarzt der Psychiatrischen Ambulanz der Universitätsklinik Heidelberg:

    "Eine Depression nennen wir einen Zustand, der mindestens 14 Tage anhält und der jeden Tag mit einer überwiegenden Verringerung des Antriebs, der Freude, des Interesses, der Beteiligung an den Dingen einher geht, also wo diese Merkmale der Depression überwiegend vorhanden sind.

    Also ein gewisses Zeitkriterium, aber das eigentlich Qualitative ist eher das Kriterium, dass die Depression keinen so rechten Anlass, keinen eigentlichen Gegenstand mehr hat, sondern sich wirklich verselbständigt hat zu einer globalen Stimmung des Verlustes, des mangelnden Selbstwertes, der mangelnden Zukunftsaussichten."

    Als Facharzt und als Doktor der Medizingeschichte sowie der Philosophie hat sich Thomas Fuchs mit Depressionen befasst. Dabei fiel ihm deren Bezug zur Zeit auf:

    "Die Zukunftsorientierung schwindet. Die Möglichkeit, Dinge hinter sich zu lassen, voran zu schreiten, positiv nach vorne zu blicken geht verloren, und es bleibt ein sehr stark vom gegenwärtigen Erleben vor allem des Körpers geprägter Zustand: Der Körper wird schwer, wird hemmend, wirkt träge, lässt sich nicht mehr in Gang bringen, wirkt eingeengt. Man ist wirklich so etwas geschrumpft in seinen Möglichkeiten, Bewegungsfähigkeiten auf den unmittelbaren Raum des Körpers."

    Das kann so weit gehen, dass jemand nicht mehr in der Lage ist aufzustehen und für sich selbst zu sorgen. Man könnte sagen, dass schwer Depressive den Kontakt zur lebensnotwendigen Gegenwart verlieren. Thomas Fuchs:

    "Diese Gegenwart besteht in einem ständigen Grübeln darüber, was geschehen ist und ein Bedauern, ein Bereuen, ein sich Anklagen über die Ereignisse der Vergangenheit. Also Hemmung nach vorne zu gehen, gleichzeitig immer größere Dominanz, überwiegen der Vergangenheitslast, die wir ja alle mehr oder minder mit uns tragen, die wir aber normalerweise einfach einklammern, übersehen, überwinden, indem wir einfach nach vorne weiter leben."

    Wer nur noch in der unveränderbaren Vergangenheit lebt, keine Gegenwart und keine gestaltbare Zukunft mehr zu haben meint, der kann verzweifeln. Gesunde lösen sich durch trauern von den Lasten der Vergangenheit. Depressiven gelingt es oft nicht zu trauern.

    Depressionen, vor allem, wenn sie nicht behandelt werden, sind eine gefährliche Krankheit. Privatdozent Dr. Klaus Kronmüller, kümmert sich als Oberarzt in der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg vor allem um Depressive.

    "Mehr Menschen sterben durch Suizid als im Straßenverkehr. Das ist eine Tatsache, die man sich nicht so vor Augen führt häufig. Und da sind natürlich noch ganz große Anstrengungen zu machen, um diese Rate zu reduzieren."

    Dazu muss man verstehen, was bei einer Depression geschieht. Das ist schwierig, weil sie weder eine Geisteskrankheit, noch eine rein körperliche Krankheit ist. Thomas Fuchs:

    "Wir wissen ja inzwischen, dass der depressive Zustand keineswegs auf das Gehirn oder bestimmte Areale oder Transmitter-Störungen beschränkt werden kann, dass er den gesamten Organismus erfasst, dass bestimmte neuroendokrine Veränderungen auftreten, Stresshormone vermehrt ausgeschüttet werden, der gesamte Biorhythmus gestört und unterbrochen ist zum Teil, dass das Immunsystem geschwächt ist, so dass also Wechselwirkungen mit körperlichen Erkrankungen auftreten können. Ein Zusammenhang zwischen Herzkrankheit und Depression ist bekannt. Das heißt: Es gibt eine ganze Fülle von Organsystemen, die mit beeinträchtig, mit betroffen sind. Und nur in diesem sozusagen Wechselprozess zwischen Erleben und Körperzustand, Körperzustand und Erleben besteht die Depression."

    Auch die Auslöser der Depression sind vielfältig: Alter, Entlassung, Tod eines geliebten Menschen, oder große Enttäuschung wirken genauso wie ein körperliches Leiden:

    "Es gibt durchaus körperliche Erkrankungen, die sehr stark schwächend sind, etwa auch eine Krebserkrankung, die ganz vom Körperlichen her in eine Depression führen kann, einfach der Organismus so geschwächt, so danieder liegt, ja, dass das sich auch auf die psychische Verfassung auswirkt. Und hier ist gar kein psychosozialer Anlass gegeben, sondern wirklich ein körperlicher Anlass.

    Es gibt aber genauso gut natürlich die Versagens- oder Misserfolgserlebnisse, die Menschen in die Depression bringen. Also die Frage, wo man in diesen Teufelskreis, in diesen negativen Zirkel einsteigt oder hineingerät, ist dann für den Verlauf der Depression eigentlich nicht mehr so entscheidend."

    All das erklärt, weshalb es vor allem für den Hausarzt sehr schwierig sein kann, eine Depression frühzeitig zu erkennen, aber auch, weshalb ihre Behandlung langwierig und von Misserfolgen begleitet sein kann. Wenn zum Beispiel dasselbe Medikament, ein Antidepressivum, bei Amerikanern spanischer Herkunft anders wirkt, als bei jenen mit englischen Vorfahren, dann wird klar, dass obendrein die genetische Ausstattung oder der kulturelle Hintergrund eine Rolle spielen.

    Deshalb ist auch der Ansatz die Krankheit in ihrem Bezug zur Zeit zu betrachten nur einer von vielen Ansätzen. Aber er kann doch Einiges verständlicher machen, auch eine andere Krankheit, die fast das genaue Gegenteil der Depression ist:

    "In der Manie beschleunigt sich das Zeiterleben, gerät der Mensch sozusagen in eine nach vorne drängende Verfassung, die fortwährend schon beim Nächsten ist und die Dinge, die Gegenwart überspringt, und man in Gedanken oder im Tun schon beim Nächsten oder Übernächsten ist.

    Das heißt: Die Orientierung geht gerade von der Vergangenheit weg, alle Verpflichtungen, alle Belastungen, alle Schuld, die einen vielleicht an die Vergangenheit knüpfen oder mit ihr verstricken könnte, wird gewissermaßen weg gewischt. Das lässt man alles hinter sich, man kann zum ersten Mal wirklich befreit kann nach vorne gehen, tun, was man schon immer tun wollte. Ein für die Patienten primär zunächst mal sehr euphorisierender Zustand, der einen ganz nach vorne führt."

    Die Erkrankten leiden nicht unbedingt, aber ihre Umwelt: Sei es, weil sie ständig von ihren großartigen Plänen reden, als seien es bereits Tatsachen, sei es, weil sie sich als unzuverlässig erweisen, da sie sich völlig ungebunden fühlen, oder weil sie ihre Gesundheit ruinieren, wenn sie meinen, keinen Schlaf zu brauchen und über unerschöpfliche Kräfte zu verfügen.

    Abgesehen davon, dass das fast ein Spiegelbild der Depression ist, gibt es noch eine weitere Verbindung: die Bipolare Störung. Klaus Kronmüller:

    "Bipolare Störung meint, dass diese Patienten nicht nur an Depressionen erkrankt sind, die immer wieder kommen, sondern in bestimmten Zeitabschnitten auch manische Symptome haben. Das ist in einem gewissen Sinne das Spiegelbild der Depression mit einer Stimmungssteigerung, mit einer Antriebsvermehrung; die Patienten haben das Gefühl, dass sie nicht mehr schlafen müssen und trotzdem leistungsfähig sind, eine Denkbeschleunigung und solche Symptome."

    Der Laie würde das als ein Schwanken zwischen Schwermut und Größenwahn, zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt bezeichnen. Auf der Zeitachse ist es das Pendeln zwischen Vergangenheit und Zukunft.

    Versuche in Heidelberg zeigten, dass Depressive und Maniker Zeit tatsächlich langsamer oder schneller und damit sehr unterschiedlich erleben. #

    Die Zeit scheint aber bei diesen Krankheiten noch eine ganz andere Rolle zu spielen, denn vor allem die Depressionen nehmen rasant zu. Eine Krankenkasse gibt eine Zunahme um über 50 Prozent in den letzten drei Jahren an, eine andere Studie eine Verzehnfachung seit den 60er-Jahren. Da das Krankheitsbild so unscharf ist, muss man diese Statistiken mit Vorsicht betrachten.

    Der Risikoforscher Professor Ortwin Renn vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart weist darauf hin, dass die Depression in der Regel unterschätzt wird, obwohl sie die häufigste Todesursache bei 20- bis 40-Jährigen ist:

    "Es ist die Selbsttötung, vor den Autounfällen, vor den Haushaltsunfällen, vor den Arbeitsunfällen. Und wenn man dann sieht, dass die Harvard School of Public Health im Prinzip sagt, da um 2020 wird die Depression die häufigste Krankheit in den OECD-Ländern sein, passt das zusammen.

    Und dieser Zusammenhang, dass wir letztlich Depressionen züchten und das einzelne Individuum in dieser überbeschleunigten Gesellschaft überhaupt keinen Halt mehr findet und dann irgend wann mal fragt, was mache ich hier eigentlich? Ja? Und dann aber auch keine Antwort findet, das ist eines der weit unterschätzten Risiken."

    Auch Professor Carl Scheidt, Leiter der psychosomatischen Thure von Uexküll-Klinik des Universitätsklinikums Freiburg, kennt den Zusammenhang von Zeit und Gesundheit:

    "Wir haben durch Forschungskontakte mit einigen asiatischen Ländern, darunter China, aber auch Vietnam und Laos, haben wir immer wieder mit Patienten zu tun gehabt, die unter diesen rasanten Veränderungen der Lebensbedingungen dort erkrankt sind. Und da spielen die Abbrüche in der Tradition eine ganz, ganz wesentliche Rolle. Es scheint hier, dass die soziale Lernfähigkeit der Menschen hinter der Geschwindigkeit des sozialen Wandels in vieler Hinsicht zurück bleibt."

    Wie rasch jemand etwas tut, hängt von seinen Lebensumständen ab, ob er sich Zeit lassen kann wie ein Jäger, der dem Wild auflauert, oder gehetzt ist wie ein Börsenhändler. Thomas Fuchs:

    "Kulturvergleichende Studien in verschiedenen Ländern - vor allem natürlich westlichen Ländern und Entwicklungsländern - zeigen, dass grade in den Mikrohandlungen des Alltags ganz unterschiedliche Zeiten verwendet werden, etwa um eine Briefmarke zu kaufen oder über eine Straße zu gehen - das sind Mikroeinheiten des Verhaltens - die zum Teil bis zum Zehn- oder 20-Fachen voneinander abweichen, wenn man sie in verschiedenen Kulturen betrachtet."

    Seit der Postkutschenzeit hat sich in Europa nicht nur der Verkehr bis zum Überschallflugzeug Concorde beschleunigt, sondern der gesamte Alltag mittels vieler technischer Hilfsmittel bis hin zum Handy und mobilem Internetzugang. Viele essen und trinken bereits beim Gehen oder in Bus und Bahn.

    "Und es ist ja nun nichts Neues, dass wir seit der industriellen Revolution eine rapide Beschleunigung unserer gesellschaftlichen Prozesse erleben, die gewissermaßen das mittlere Maß von Lebensgeschwindigkeit außerordentlich stark verschoben hat in Richtung zum - wenn Sie so wollen - zum manischen Pol.

    Das heißt immer mehr Menschen geraten in einen Rückstand. Wir können ja davon ausgehen, dass die normale organische Ausstattung des Menschen ungefähr dieselbe bleibt in den verschiedenen Kulturen. Das heißt manche Menschen sind besonders fähig sich beschleunigten Tempi anzupassen, während andere da in einen Rückstand geraten, weil sie einfach nicht die Beschleunigungsfähigkeit haben, mit ihrem ganzen Organismus dem nicht nachkommen sozusagen und damit in einen Rückstand geraten."

    Wenn Menschen das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden, wenn sie das Gefühl haben, nicht mehr mit zu kommen, gar zu versagen, dann kann das krank machen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Menschen tatsächlich langsamer werden, wie das im Alter normal ist, oder ob die Gesellschaft immer schnelllebiger wird.

    "Wenn nun sich die Gesamtgeschwindigkeit verschiebt, die die Gesellschaft zeigt in ihren ganzen sozialen Prozessen, dann wird es natürlich zunehmend mehr Menschen geben, die da zurückbleiben und die das sehr häufig als einen depressiven Zustand, als ein Herausgeraten, Herausfallen aus der gemeinsamen Zeit erleben.

    Und die Beobachtungen in den Industrieländern, aber auch in Ländern, die sozusagen den Übergang in eine starke Industrialisierung vollziehen, zeigen, dass offensichtlich die Zahl der depressiven Erkrankungen da auch zu nimmt."

    Wenn rascher Wandel und die Beschleunigung des Alltags depressiv machen können, dann stellt sich für Thomas Fuchs die Frage:

    "Wie weit ist die Beschleunigungsfähigkeit des Menschen als einem natürlich so und so ausgestatteten Wesen tatsächlich zu steigern? Wie weit ist das Leben überhaupt so voran zu treiben und zu beschleunigen, wo sind die Grenzen dieser Beschleunigungsfähigkeit?"

    Dass es da ganz sicher Grenzen gibt, zeigt sich beim Betreten eines dunklen Hauses an einem strahlenden Sommertag: Die Augen brauchen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dabei laufen im Auge chemische Vorgänge ab, die eine gewisse Zeit brauchen. Ähnliches gilt für die Botenstoffe im Gehirn, sie müssen erzeugt werden, dann durch den Körper wandern und schließlich beim Empfänger die gewünschte Reaktion auslösen. Zum Beispiel, wenn wir erröten. Und dann müssen diese nun nicht mehr nötigen Botenstoffe wieder abgebaut werden. Das braucht Zeit.

    Auch die elektrischen Impulse im Gehirn lassen sich nicht scheuchen. Es gibt also durch Physik und Chemie vorgegebene körperliche Grenzen, die man nicht überschreiten kann. Ähnlich ist es bei den Rhythmen. Thomas Fuchs:

    "Es gibt eine ganze Fülle von biologischen Rhythmen, die zunächst mal nicht veränderbar sind, die einfach an die Tageszeit gebunden sind, biologische Rhythmen des Schlafens, Wachens, der Energieverfügbarkeit, der Aktivität. Es gibt auch eine Reihe von Rhythmen, wie die hormonellen Rhythmen, die an Tages- und Monatszeiten gebunden sind, die grundsätzlich auch nicht beschleunigbar sind. Es gibt aber auch die Rhythmen der Stimmung, die Rhythmen der Gefühle, die natürlich etwas - Gefühle insbesondere - etwas schnellerlebig sind, aber trotzdem ja auch physiologischen Anstieg, Höhepunkt, langsames Abflachen aufweisen, der weitgehend fest liegt. Man kann Gefühle nicht beliebig beschleunigen oder auch nicht künstlich aufrecht erhalten."

    Wie bei Musikern der Takt das Zusammenspielen erleichtert, geben diese Rhythmen die nötige Zeit, um mit anderen zusammenzuarbeiten, sie erlauben Kontakte aufzubauen, Vertrauen wachsen zu lassen und Beziehungen zu pflegen, sowohl zu Menschen, als auch zu Gegenständen. Die Psychologen nennen beides "Objekte" der Gefühle.

    "Wenn also die Objekte sich sehr rasch verändern und rasch wechseln, dann wird dieser Zeit benötigende Aufbau einer Gefühlsbeziehung gar nicht zustande kommen, und dann werden die Gefühle gewissermaßen an der Oberfläche bleiben. Es werden sich Bindungen und Beziehungen zu anderen gar nicht so intensiv entwickeln können, und es entsteht eine gewisse Vereinsamung. Die Gefühle können dann andere immer nur so kurz erreichen, es kommt aber zu keinen dauerhaften Gefühlsbindungen. Und das ist natürlich eine mögliche Voraussetzung für depressive Erkrankungen. Denn wir müssen ja es so verstehen, dass Depression immer eine Art Abkoppeln von der Gemeinsamkeit, von der Gemeinschaft mit anderen beinhaltet. Wo also so eine Abkopplung droht, oder tatsächlich sich vollzogen hat, da droht immer auch Depression."

    Freunde, Familie, Kollegen und Geselligkeit tragen zum Gesundbleiben bei, wenn genügend Zeit ist, um die Beziehungen zu pflegen. Das gilt erst recht für Eltern gegenüber ihren Kindern, wie Professor Manfred Spitzer, Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm erklärt:

    "Mütter müssen wissen, dass man mit seinem Kind sprechen sollte. Und Studien an eben depressiven Müttern haben gezeigt, wenn sie nicht mit den Kindern sprechen, sind die Kinder hinterher in ihrer Sprachentwicklung verzögert.

    Wenn man denen dann aber sagt, ihr müsst mit den Kindern sprechen, beim Wickeln und beim Stillen und so weiter, dann sind die Kinder am Ende nicht sprachentwicklungsverzögert."

    Viel wichtiger als der Sprachunterricht ist dabei die Zuwendung, die das Kind bekommt, weil das die Bindung zwischen Eltern und Kind und damit die Bindungsfähigkeit des Kindes fördert. Diese Bindungsfähigkeit entscheidet später mit über die Beziehungen des Kindes, sei es zu Mitschülern, Lehrern oder Familie. Eine gute Bindung macht außerdem robuster. Professor Carl Scheidt:

    "Wir haben heute doch ganz gute Belege dafür, dass die Widerstandsfähigkeit in der Bewältigung mit Stresssituationen, dass diese Reaktionsmuster in den frühen Lebensjahren entscheidend mitgeprägt werden und dass hier gerade die sozialen Früherfahrungen eine ganz wesentliche Rolle spielen."

    Depressive Eltern, denen es schwer fällt aus der Vergangenheit aufzutauchen und sich dem Kind in der Gegenwart zu widmen, schwächen dadurch das Kind in seiner Robustheit und in seiner Fähigkeit Beziehungen einzugehen.

    Aber auch ein robustes Kind wird, wenn es ständig mit Eindrücken bombardiert wird, - sozusagen in Notwehr - oberflächlich. Es ist also besonders für den Nachwuchs wichtig, dass eine Gesellschaft sich um eine Geschwindigkeit bemüht, mit der alle leben können. Thomas Fuchs:

    "Die Gesellschaft muss in sich selber die Polaritäten so ausgleichen, dass sie verschiedenen Menschentypen, Persönlichkeitstypen, Temperamenten, wenn sie so wollen, jeweils ihren Platz anbietet, damit in der Summe eben doch ein Ausgleich möglich ist, der vielleicht für den Einzelnen gar nicht darin liegt immer genau die Mitte zu halten, sondern der Ausgleich kommt dadurch zustande, dass eben dynamische Menschen von gewissermaßen eher phlegmatischen, eher bedächtigen, eher traditionsorientierten Menschen so ausgeglichen werden, dass die Gesellschaft insgesamt ihre Polarität beibehält und nicht Schaden dadurch nimmt, dass sie in eine Richtung gezogen wird, sei es in die manische oder in die depressive."

    Stillstand und Höchstgeschwindigkeit sind auf Dauer ungesund. Wie andere Organismen scheint auch der Mensch nur ein bestimmtes Maß an Geschwindigkeit, an Veränderung zu vertragen.

    "Die Prozesse des Seelischen ähneln hier doch in vieler Hinsicht den Wachstumsprozessen im organischen Bereich. Es muss sozusagen immer etwas auf dem Anderen aufbauen. Wir müssen das Gefühl haben in einer Kontinuität unserer Entwicklung zu stehen, damit eine gewisse Sicherheit, Selbstvertrautheit und Entwicklungsmöglichkeit gegeben ist. Wenn wir das zu schnell gewissermaßen abhaken und zu schnell die Themen und Bereiche wechseln, in denen wir uns bewegen, dann kann sich dieser Wachstumsprozess nicht richtig entfalten. Dann geraten wir wirklich in eine Leere, in ein Leerdrehen, in dem unser Leben, ja seine Substanz nicht aufbauen kann, seine Substanz verliert, indem wir uns ein Stück selbst verlieren."

    Es gibt Menschen, die von Veranstaltung zu Veranstaltung hetzen, aber dennoch von einer tiefen existenziellen Langeweile erfasst werden, weil sie in ihrer eingeübten Oberflächlichkeit gar nicht in der Lage sind das Nahrhafte aus Begegnungen und Erlebnissen zu ziehen.

    Die Zunahme der Depressionen in schnelllebigen Gesellschaften zerstört zugleich deren künstlerischen und kreativen Reichtum, denn gerade die Menschen, die als Melancholiker zu Depressionen neigen, sind mit ihren Fähigkeiten auch das Frühwarnsystem für gesellschaftsgefährdende Entwicklungen. Thomas Fuchs:

    "Es sind Menschen, die oft sehr feinfühlig wahrnehmen können, wenn etwas in eine ungünstige Richtung läuft, wenn die Gesellschaft in eine zu starke Beschleunigung gerät, wenn Traditionen verloren gehen; Menschen, die also - wenn sie so wollen - eine positive melancholische Grundhaltung haben können, die uns manchmal ganz heilsam wäre, wenn wir wieder dazu neigen zu rasch in die Fortschrittseuphorie zu stürmen. Also Menschen, die diese melancholische Grundausstattung mit bringen, sind ungeheuer wertvoll für die Gesellschaft, weil sie etwas bewahren, was mit Erinnerung, was mit Werten, was mit Gemeinschaft zu tun hat und, weil sie sehr feinfühlig für Verletzungen dieser Werte sind.

    Natürlich dürfen sie diese Feinfühligkeit nicht übertreiben und sie sind natürlich in dem Risiko eher depressiv zu reagieren. Und in dieser Verfassung sind sie auch nicht mehr in der Lage für ihre Ziele und für ihre Werte einzutreten, und insofern muss das natürlich nach Möglichkeit verhindert werden. Aber die Grundhaltung eines Menschen, der vielleicht zu Depressionen neigt, ist für die Gesellschaft ungeheuer wichtig."

    Eine Gesellschaft, die einen Teil ihrer Mitglieder ausschließt, oder krank macht, nimmt in Kauf, dass es Schwierigkeiten bei Beziehungen, Partnerschaft, Erziehung, Lernen, oder Kreativität gibt und das Wissen darüber verloren geht, was dem Menschen gut tut und was nicht.