Samstag, 27. April 2024

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Werke von Rachmaninow, Smirnov und Firsova
Russian Émigrés

Sie teilen das gleiche Schicksal: Sowohl Sergej Rachmaninow als auch Dmitri Smirnov und seine Frau Elena Firsova mussten aus Russland emigrieren, weil sie dem politischen System nicht genehm waren. Werke von ihnen hat die junge Pianistin Alissa Firsova auf der CD "Russian Émigrés" eingespielt.

Am Mikrofon: Klaus Gehrke | 02.07.2017
    Der Pianist und Komponist Sergej Rachmaninow sitzt an einem Flügel.
    Floh aus der jungen Sowjetunion: Sergej Rachmaninow (imago stock&people)
    Stürmisch, dramatisch und düster wirkt der Beginn des ersten Satzes von Sergej Rachmaninows zweiter Klaviersonate op. 36; und möglicherweise hatte der Komponist ganz bewusst die Tonart b-Moll gewählt, in der auch Frédéric Chopins zweite Sonate mit dem berühmten Trauermarsch steht. Eine Reflektion auf den Verlust seiner geliebten russischen Heimat ist das Werk allerdings nicht; denn Rachmaninow komponierte es 1913 - rund vier Jahre bevor er das Land für immer verließ.
    Kostbares Juwel in Rachmaninows Werk
    Die Entstehung der zweiten Klaviersonate fiel in eine für Rachmaninow äußerst erfolgreiche Zeit: Als Pianist feierte er weltweit Triumphe. Seine Kompositionen dagegen stießen auf ein zweigeteiltes Echo: Während sie beim Publikum durchweg gut ankamen, lehnten viele Kollegen die Werke als zu konservativ-romantisch ab. Ein tiefer Einschnitt in seinem Leben, den Rachmaninow letztlich nicht überwand, bedeuteten die Auswirkungen der Oktoberrevolution 1917 in Russland: Von den neuen kommunistischen Machthabern fühlte er sich wie viele andere wohlhabende Künstler und Intellektuelle bedroht und verfolgt.
    Als ihn im Dezember des Jahres ein Konzertangebot aus Schweden erreichte, verließ Rachmaninow mit seiner Familie Russland; dass es für immer sein sollte, ahnte er damals noch nicht. In der Folgezeit spielte der Pianist die zweite Klaviersonate oft in Konzerten; 1931 unterzog er das Werk einer eingehenden Revision und nahm einschneidende Kürzungen vor.
    Für ihre Einspielung auf der vorliegenden CD wählte die Pianistin Alissa Firsova jedoch nicht diese Fassung, sondern das Original von 1913. Die vielen überaus wuchtigen und symphonisch wirkenden Passagen im ersten Satz meistert sie mit einer bemerkenswerten Souveränität und Brillanz. Ganz zarte lyrisch verträumte Töne schlägt Alissa Firsova dagegen im zweiten Satz an, der, wie sie im Booklet schreibt, "zu den kostbarsten Juwelen in Rachmaninows Oeuvre" gehört.
    "Vaterlandsverräter" und "Sowjetfeinde"
    Da er in den Augen der sowjetischen Machthaber mit seiner Flucht "Verrat am Vaterland" begangen hatte, wurden Rachmaninows Werke in der jungen UdSSR mit Aufführungsverbot belegt. Auch die 1950 in Leningrad geborene Elena Firsova und ihr zwei Jahre älterer Ehemann Dmitri Smirnov, die Eltern der Pianistin, gerieten 1979 wie ihr Moskauer Hochschullehrer Edison Denissov wegen angeblicher "Sowjetfeindlichkeit" ins Visier des Staates. Und wie Rachmaninow nahmen sie unmittelbar vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Angebot aus London, bei einem Festival aufzutreten, zum Anlass, ihrer Heimat den Rücken zu kehren.
    Smirnows hier eingespielte Klaviersonate Nr. 6 entstand 2008 und trägt den Titel "Blake-Sonate" nach dem englischen Dichter William Blake, dessen Texte der Komponist für mehrere Werke verwendet hatte. Während der erste Satz eine thematische Variationsstruktur aufweist, greift der zweite Blakes Gedicht über einen bedrohlichen Tiger musikalisch auf.
    Pianistin, Dirigentin, Komponistin
    Die Musik Rachmaninows kam in Alissa Firsovas Elternhaus offensichtlich kaum vor; denn als die 16-Jährige 2002 dessen Corelli-Variationen übte, war ihre Mutter Elena ganz erstaunt von dem Werk, welches sie nicht kannte. Immerhin inspirierte es die Komponistin zu dem Stück "For Alissa", in dem sie ein frühes eigenes Lied in Variationen verarbeitet.
    Alissa Firsova, die an der Londoner Royal Academy of Music studierte und 2009 als Pianistin in der Wigmore Hall ihr Debüt gab, ist ebenfalls als Dirigentin und Komponistin tätig. Eines ihrer Werke befindet sich auch auf der CD: das für das Cheltenham Festival 2005 geschriebene Klavierstück "Lune rouge" greift deutlich hörbar spätimpressionistische Klangwelten beispielsweise des späten Debussy auf.
    Ob in Rachmaninows Sonate oder den Werken ihrer Eltern: Die Pianistin besitzt einen überaus kernigen kraftvollen Anschlag, der aber auch sehr zart und lyrisch verträumt sein kann; gleichzeitig sind ihre Interpretationen zupackend und tiefgründig. Das zeigt beispielhaft ihre Lesart der Corelli-Variationen, mit denen Rachmaninow 1931 seine seit der Flucht aus Russland andauernde Komponierblockade überwand. Und man darf durchaus gespannt sein, was Alissa Firsova als nächstes einspielen wird.
    Russian Émigrés: Werke von Rachmaninow, Smirnov und Firsova mit Alissa Firsova (Vivat 109)