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Werkstatt für das 21. Jahrhundert

Im neu eröffneten Festspielhaus Hellerau bei Dresden will Intendant Udo Zimmermann künftig den Akzent auf Musik, darstellende Kunst und Medienkunst setzen. Man wolle Visionen im Sinne einer Werkstatt für das 21. Jahrhundert entwickeln, zugleich aber an die Gründungszeit des Hauses vor rund 100 Jahren anknüpfen.

Moderation: Christoph Schmitz |
    Christoph Schmitz: Heute Abend wird das Festspielhaus Hellerau wieder eröffnet. In der Nähe von Dresden sollte das Leben neu erfunden werden, Anfang 1900. Die Kulturavantgarde wollte nicht nur die ästhetischen Räume ausdehnen, sondern im gleichen Zuge auch Gesellschaft und Individuum aus Verkrustungen befreien. Ein Laboratorium der Humanität sollte auf einem grünen Hügel in der Gartenstadt Hellerau, nahe der sächsischen Metropole, entstehen. Das 1911 errichtete, ebenso sachliche wie lichtdurchflutete Festspielhaus von Heinrich Tessenow sollte die Immobilie des Neuen werden. Bis zum Ersten Weltkrieg blühten dort tatsächlich Anspruch und Wirklichkeit aufs Schönste und zog Künstler wie Kafka, Kokoschka, Rachmaninow, Le Corbusier, Zweig und Rilke an, bevor die Lebensreformbewegung erlosch. Später machten die Nazis eine Polizeischule aus der Immobilie und nach '45 folgten die sowjetischen Kommunisten mit einem Militärlager. Doch nun ist Tessenows reinweißer Sakralraum des Lichts mit großem Aufwand renoviert worden. Gleich wird das Festspielhaus eröffnet und seinem zukünftigen Nutzer übergeben, dem Europäischen Zentrum der Künste. Intendant ist der Komponist Udo Zimmermann. Hellerau steht für avancierte Kultur, verbunden mit gesellschaftlicher Utopie der Moderne. Wollen Sie daran anknüpfen?, habe ich Udo Zimmermann zuerst gefragt.

    Udo Zimmermann: Also die Utopien sind ja etwas sehr Kompliziertes. Ich würde eher sagen: Visionen im Sinne einer Werkstatt für das 21. Jahrhundert. Aber ich bleibe mal bei der Gegenwart, weil ich denke, die Zukunft, die wir immer bestücken mit visionärem Denken und Hinterfragungen hat es eh schwerer. Die Gegenwart ist kompliziert genug. Diese Gegenwart knüpft natürlich an an die Zeit vor etwa 100 Jahren, an die großen Persönlichkeiten wie Dalcroze, an Tessenow selbstverständlich, den Architekten, und bezogen auf das große Festspielhaus, auf Appia, der einer der bedeutenden Bühnenbauer und Bühnenbildner war. Dort ist das geschehen, was wir alle erhofften. Wir haben über den Münchener Architekten Meier-Scupin noch mal eine Verwandlung dieses großen Saales erlebt. Es ist ein lichtdurchfluteter, riesiger leerer Raum. Und bei allen szenischen Modulen oder was wir auch immer dort machen wollen, der Raum fordert nun die Kunst auf, auf ihn zu reagieren. Es gibt keine Bühne mehr, das war die große Erfindung damals, die Bühne wurde abgeschafft bei Appia, es gab nur den Zuschauerraum und den Spielraum. Und diese Zuschauer- und Spielräume können wir zehn- bis zwanzigfach verwandeln. Es ist ein Saal mit der modernsten Technik, die wir eigentlich in Deutschland oder Europa haben. Es gibt eine unglaublich gute Lichtregie. Also alles, was wir brauchen im Sinne eines rekonstruierten Festspielhauses und eines funktionierenden, ist vorhanden. Und ich denke, wir sind jetzt in der Lage, auch mit dem öffentlichen Bewusstsein - Hellerau ist ja weit, weit weg davon, sowohl in Europa wie in Deutschland - doch Kunst zu machen und es beginnt mit William Forsythe und seiner Company heute, die dann, denke ich, die Bewegung bringen wird, dass wir auch im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland, in Dresden, natürlich in Sachsen, natürlich hoffen wir dann: in Europa eine Rolle spielen können.

    Schmitz: Sie wollen die Künste in Hellerau interdisziplinär auftreten lassen. Was wollen Sie - Sie haben es vorhin schon angedeutet - konkret auf die Bühne bringen? Was soll konkret ins Festspielhaus einziehen in den nächsten Wochen, Monaten und vielleicht auch Jahren?

    Zimmermann: Hier soll das Avancierte eine wesentliche Rolle spielen. Hier sollen sich Künstler interdisziplinär - wie Sie gesagt haben - oder interaktiv begegnen. Ich würde am ehesten sagen, das ist die Musik, das ist die darstellende Kunst, das ist die Medienkunst zunächst einmal. Da haben wir bis zum Jahresende fast 63 Veranstaltungen. Es soll der Versuch gemacht werden, diese üblichen Begriffe wie "interdisziplinär" und "genreübergreifend" hier sinnvoll vor Ort sich aufeinander zu bewegen zu lassen.

    Schmitz: Herr Zimmermann, Hellerau also Kunstlabor, als Experimentierbühne. Ist das nicht das Ende der Kunst, insofern so etwas Gefahr läuft, auf die Kommunikation mit dem Publikum zu verzichten?

    Zimmermann: Nein, ich denke, ganz im Gegenteil. Es ist das Theater der offenen Form. Es ist die Möglichkeit, mit einem Raum und mit dem Publikum völlig unkonventionell umzugehen. Und von dorther habe ich überhaupt keine Befürchtung auf das Publikum. Es gibt ja auch schon Potenziale, die hier in Hellerau sind, auch in der Zielgruppe Publikum, die wird natürlich eine junge Generation sein. Und ich habe keine Befürchtung, dass es über die Köpfe weggeht. Das ist nicht der Sinn. Dann wären wir in einer ästhetischen Selbstbefriedigung, die überhaupt keinen Sinn macht. Wir brauchen die Kommunikation. Wir brauchen den Dialog, das Gespräch. Das wird durch Stipendiatenprogramme sein. Das wird sein durch Kolloquien, Symposien. Also die Theorie wird mit der Praxis immer einhergehen. Und ich denke, es wird wirklich ein Ort des Hellerauer Dialogs - das hoffe ich sehr -, wo wir zu szenischen Ereignissen kommen, die wir in einem normalen Stadt- oder Staatstheater ja uns niemals leisten könnten.

    Schmitz: Herr Zimmermann, die Stichworte "Visionen", "Utopien" sind schon gefallen. Hellerau als Werkstatt für das 21. Jahrhundert in gesellschaftsrelevanter Hinsicht, sage ich mal. Ist das nicht auch etwas überholt? Brauchen wir denn noch solche Utopien? Läuft das nicht demokratisch recht gut, ohne dass die Kunst Position bezieht?

    Zimmermann: Ich würde sagen, wir brauchen vor allem die Gegenwart. Ich bin vorsichtig in allem, was die Zukunft und das Visionäre betrifft, weil da sehr viel Leerlauf in allen Diskussionen momentan ist. Da haben Sie ja Recht. Aber was wir brauchen, ist, denke ich, das spannende Kunsterlebnis. Was wir brauchen, ist eine erregende, in jeder Hinsicht aufregende Spielweise mit Stücken, die natürlich in einer gesellschaftlichen Relevanz liegen. Es kann auch ganz und gar nicht anders sein. Ich poche so auf die Gegenwart und halte nicht so viel von Visionen der Zukunft, vor allem, weil auch Kunst zunächst einmal ganz gegenwärtig sein sollte.