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Werktreue und Neudeutung

"Freischütz", inszeniert von Dietrich Hilsdorf am Wiesbadener Staatstheater, zeigt ein Stück deutsche Heimat, jedoch im Vergleich zur Vorlage zeitlich um 300 Jahre verschoben. In trashiger Art und Weise inszeniert der Regisseur nicht die Situation nach dem 30-Jährigen Krieg, sondern das Jahr 1948. Im Fokus steht also der deutsche Nachkriegsalltag mit seinen Volksfesten und Trümmerfrauen.

Von Frieder Reininghaus |
    Immer wieder also soll Freischützenfest sein. Was ist da noch zu machen?

    Mit "werkfremden" Zutaten und erweiterten Auftritten zumindest einiger Figuren haben sie alle operiert. Allerdings mit höchst unterschiedlichem Sinn und Verstand. Falk Richter, einer der nicht mehr ganz jungen Regisseure, der gerade "in" war, ließ den altböhmischen Erbförster Kuno wie den chilenischen General Pinochet ausstatten und das ganze in einer Ausstattung spielen, die an die "Wolfsschanze" erinnerte. Doch das zielte weniger auf kritische Auseinandersetzung mit dunklen Punkten deutscher Geschichte oder die Nachzuckungen von Krieg und Bürgerkrieg (um die es im Stück ja geht), als auf trashiges Entertainment.
    Da hat Dietrich Hilsdorf, einer der altgedienten Haudegen eines von 1968 her kritisch inspirierten Theaters, anderes im Visier und verwies ausdrücklich darauf, dass die Handlung von Friedrich Kind ja nach dem 30-jährigen Krieg spielt:
    "Es ist ein Nachkriegsstück, ist auch nach den Befreiungskriegen geschrieben worden. Wir haben entsprechende Bilder gesucht, die eindeutig machen: es ist ein Nachkriegsstück. Und ich glaube, in dieser rauen Umgebung, wenn dann die Menschen zu Gott beten und singen, dass dann genau diese Musik besonders stark rüberkommt und auch die Rauheit der Musik sehr stark erscheint."
    Dietrich Hilsdorf und sein Team haben die Handlung aus der Zeit um 1648 etwa ins Jahr 1948 verlegt - an einen ideell gesamtdeutschen Ort, der aussieht, wie eine verwunschene Stelle im Harz. Um den Hintergrund des 30-jährigen Kriegs anzudeuten, rezitiert der am Ende als Stellvertreter des deus ex machina auftretende Eremit zur Ouvertüre ein Gedicht von Andreas Gryphius und der Jägerbursch Max, dem in der Wolfsschlucht nicht nur die warnende Verlobte Agathe in einem Todesbild erscheint, sondern auch die verstorbene Mutter als Warnerein, Max nimmt vorab am Sarg letzten Abschied von der geliebten Mama.
    "Wir wollten insgesamt poetisch werden - poetisch auf dem Theater, meine ich, dass ich auf die Theaterbilder - auch die musikalischen - selbst eindringen kann und nicht alles glasklar gezeigt kriege: aha, so soll es sein."
    Dieter Richters brillante Metamorphosen des deutschen Waldes erscheinen durchaus "poetisch" - aber aus den Lichtungen dieses Buchenwalds mit den durchnummerierten Stämmen kommt eben deutsche Geschichte zum Vorschein in einer Weise, die in verschiedenster Weise ja die Rezeptionsgeschichte des Freischütz geprägt hat. Das "Sternschießen" und die Volksfest-Szene des ersten Akts findet in den rauchgeschwärzten Ruinen eines Herrensitzes statt, an dessen Fassade noch die Spuren des Adlers erkennbar sind und des abgeschlagenen Hakenkreuzes; auch die beiden Forsthaus-Bilder werden mit Versatzstücken dieser Architektur bestritten.

    Die weiblichen Mitglieder des Ensembles tragen die Kleidung der Trümmerfrauen oder Mode der späten 1940er Jahre. Und wenn Max die Erinnerung befällt an die "finstern Mächte", die ihn umgarnen, dann sind dies drastische Reminiszenzen an die deutschen Schrecken vor 1945. Diese Theaterbilder sind unmittelbar zu entziffern und wirken vor der Folie der Musik schmerzhaft - womöglich zu scharf. Dietrich Hilsdorf hat diese Schärfe gewollt - und sie führt zu einem rundweg stimmigen Regie-Konzept.
    "Ich bin selbst Jahrgang 1948 und habe ja als Kind die Trümmerlandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg noch sehr deutlich miterlebt - wir haben in den Trümmern gespielt; Die Geschichte des Stückes wird ja auch mitgespielt. Nicht zufällig ist die Dresdner Oper nach der Renovierung mit dem "Freischütz" wiedereröffnet worden - aus dem einfachen Grund, weil, bevor die Dresdner Oper zerstört wurde in dem berühmten Bombenangriff, war das die letzte Oper, die dort gespielt wurde. Auch das ist ja deutsche Geschichte."
    Der böse Bursch Kaspar - das ist einer der Entwurzelten, die von der Ostfront und den Säuberungen hinter der Front zurückgekehrt sind. Sein Hirschfänger ist ein SS-Dolch.
    "Ja, das haben Sie richtig gesehen. Aber das war eher ein Zufall - die Requisite hatte nichts anderes."
    Das Staatstheater Wiesbaden zeigt eine "Freischütz"-Produktion auf absolut beachtlichem musikalischem Niveau, die es mit dem im Stück steckenden historischen Materialismus bitter ernst nimmt. Empfehlenswert wäre, dass sie bei den Festspielen in Bayreuth und Salzburg gezeigt wird - im Kontrast zur postmodernen Beliebigkeit der dort zuletzt zu Tage getretenen Inszenierungen. Naheliegende Frage: Wurde Hilsdorf zu diesen deutschesten aller deutschen Festivals schon eingeladen:
    "Nein, bin ich nicht. Da ich aber im Moment das Gefühl habe, besser zu werden, kann das ja demnächst kommen."