Archiv


Werner Adam: Das Neue Russland. Putins Aufbruch mit schwerem Erbe

Von Jelzin zu Putin - Russlands Aufbruch zu neuen Ufern

Miodrag Soric | 12.03.2001
    "Vorwärts! Wo ist der Mensch, der wahrhaft berufen wäre, der russischen Seele in ihrer eigenen Sprache dieses allvermögende Wort zuzurufen? Wer ermisst alle seelischen Kräfte, Anlagen und Möglichkeiten und die ganze unauslotbare Tiefe unseres Wesens, um uns mit diesem Zauberspruch einem höheren Leben zuzuführen? Mit welchen Tränen der Liebe und der Dankbarkeit würde der russische Mensch sich ihm erkenntlich zeigen! Aber Jahrhunderte kommen und gehen - wir verharren in schmählicher Faulheit und sinnloser Geschäftigkeit unreifer Jünglinge, und Gott will uns den Mann nicht senden, der imstande wäre, das erlösende Wort zu uns zu sprechen."

    So Nikolaj Gogol in seinem Roman "Die toten Seelen". Wird Wladimir Putin diese resignierende Betrachtungsweise russischer Geschichte widerlegen? Ist er am Ende dieser Mann? Mit dieser Frage beschäftigt sich Werner Adam, Leiter des Ressorts Außenpolitik der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", in seinem Buch "Das neue Russland". Miodrag Soric hat es gelesen.

    Werner Adam hat ein Buch vorgelegt, in dem Osteuropa-Kenner wenig Neues finden. Es richtet sich an den Leser, der auf der Suche ist nach Hintergrundinformationen zu den politischen Ereignissen in Russland. Adam gibt einen kurzen Überblick über die Geschichte Russlands , streift die Kulturgeschichte des Landes, beschreibt die Mentalität der Russen, so wie er sie kennengelernt hat. Dann konzentriert er sich auf die jüngste Vergangenheit: von der Machtübernahme des früheren Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow bis zur Wahl des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Das Buch ist flott geschrieben, die Urteile sind meist ausgewogen und seriös. Freilich findet man hier und da auch überraschende Interpretationen der Geschichte, denen nicht jedermann wird folgen können. So schreibt Adam zum Ersten Weltkrieg:

    "Mit einer überstürzten Mobilmachung nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand im Sommer 1914 in Sarajewo und der dadurch bewirkten Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien trug Russland zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bei."

    Jeder, der osteuropäische Geschichte studiert hat, weiß, dass von allen europäischen Großmächten Russland auf den Ersten Weltkrieg am schlechtesten vorbereitet war. Die russische Regierung zögerte vielmehr, als es darum ging, den Bündnisverpflichtungen gegenüber Serbien nachzukommen. Der seinem Wesen nach ohnehin unentschlossene Zar Nikolaj II. wollte diesen Krieg nicht, was nicht von allen Herrschern in Europa gesagt werden kann. Die Mobilmachung der Russen ging schleppend voran. Nicht die Russen, wie Werner Adam schreibt, sondern die Österreicher reagierten überstürzt auf die Ereignisse in Sarajewo. Es war übrigens Deutschland, das Russland den Krieg erklärte - nicht umgekehrt. Werner Adam entdeckt vieles im heutigen Russland, was bereits vor 200 Jahren der russische Historiker Nikolaj Karamsin am russischen Staat kritisierte:

    "Wenn man die Frage, was in Russland vor sich gehe, mit einem einzigen Wort beantworten solle, dann könne dieses Wort nur 'Diebstahl' heißen. Er spielte damit auf den Staat als solchen an: auf die Bestechlichkeit der Beamten, die öffentliche Korruption, auf die Rechtlosigkeit. Die sprichwörtliche Käuflichkeit russischer Staatsdiener war auf ein Verwaltungssystem zurückzuführen, das aus schierem Geldmangel seinen Beamten über Jahrhunderte hinweg keine Gehälter zahlte, sondern von ihnen verlangte, sich aus amtlichen Geschäften tunlichst selbst zu ernähren. Peter der Große wollte das zwar radikal ändern, doch auch sein Vorhaben scheiterte am Geldmangel. Ein österreichischer Gesandtschaftssekretär namens Korb berichtete zu jener Zeit aus St. Petersburg nach Wien, russische Beamte müssten ihre eigenen Kollegen bestechen, um ihren Lohn zu erhalten. Da von einer Staatsidee in Russland keine Rede sein konnte, dienten die Beamten eben nicht dem Staat, sondern versorgten zunächst sich selbst und dann den Zaren."

    Alle Reformer, die im Kreml saßen, hatten große Mühe, das Land zu modernisieren. Auch heute noch sind viele russische Beamte bestechlich. Putin wird daran nur wenig ändern können. Kennzeichnend für das Buch von Werner Adam ist das ausgewogene Urteil des Autors über die Kremlherrscher der letzten 20 Jahre. Adam gehörte bereits in den 80er Jahren zu den wenigen deutschen Journalisten, die nicht an "Gorbimanie" erkrankten, also eine nüchterne Distanz zu Generalsekretär Gorbatschow wahrten.

    "Wer es so weit gebracht hatte wie Gorbatschow, das gaben noch in Moskau sowohl Mitterrand als auch Kohl zu bedenken, der musste vor allem zäh und hart sein, musste bei allem Lächeln über scharfe Zähne verfügen, wie es der Sowjetveteran Andrej Gromyko nach dem Machtwechsel im Kreml mit säuerlicher Miene ausdrückte. Weltfremd waren dagegen jene, die glaubten, Gorbatschow werde sich aus seiner ureigenen Welt der Parteifunktionäre gänzlich lösen und seine sozialistische Erziehung einfach abstreifen können, werde mühelos in der Lage sein, sich zum Demokraten im westlichen Sinne zu mausern. Schließlich war er in einer hierarchischen Ordnung aufgewachsen, in einer kommunistischen Nomenklatura, in der man sich um Patronage bemühen musste, um voranzukommen. Und zu den Förderern Gorbatschows zählten keine Geringeren als der finstere Partei-Ideologe Michail Suslow und der langjährige Geheimdienstchef Andropow."

    Gorbatschow sei kein konsequenter Reformer gewesen, eher ein Zufallsrevolutionär, schreibt Adam. Genauso ist es. Allerdings haben dies im Westen nur wenige so gesehen. Letztlich scheiterte der Reformer Gorbatschow. Das sowjetische Imperium, das er zu retten hoffte, zerbrach. Nicht viel mehr Glück hatte der erste russische Präsident Boris Jelzin. Auch er kam mit dem Vorantreiben von politischen und wirtschaftlichen Reformen nicht sehr weit.

    "Dass Jelzins reformerische Tatkraft zunehmend schwand, war in erheblichem Maße den Folgen seiner Krankheiten zuzuschreiben. In seinen Tagebuchnotizen hatte er schon Anfang der 90er Jahre festgehalten, mit seiner Gesundheit 'sehr leichtsinnig' umgegangen zu sein."

    Die alten und die neuen Eliten bremsten die Reformen in Russland, bemerkt Adam.

    "Es waren diese Eliten, die den Präsidenten in der Kremlfestung mehr und mehr einmauerten und ihm einen "russischen Weg" in die Zukunft einzureden suchten."

    Freilich war der Westen nicht ganz unschuldig an dem neu aufkommenden Misstrauen der Russen gegenüber dem Westen. Hier sei nur das Stichwort "NATO-Ost-Erweiterung" genannt. Man könnte auch das zeitweise rüde Zurückdrängen des russischen Einflusses im Kaspischen Raum und in Zentralasien durch die Amerikaner erwähnen. Die für die Russen schlimmste Erfahrung mit dem Westen war der Krieg der NATO gegen Serbien. Russlands Proteste gegen die sogenannte "humanitäre Intervention" der NATO wurden einfach überhört. Der neue Präsident Russlands, Wladimir Putin, will Russland vor allem als Militärmacht wieder stärken. Werner Adam analysiert:

    "Den amerikanischen Versicherungen, die Pläne zum Bau einer nationalen Raketenabwehr seien rein defensiver Natur und richteten sich keineswegs gegen Russland, schenkte Moskau keinen Glauben. Das unterstrich am Tage der Amtseinführung Putins sein Mitstreiter aus KGB-Zeiten, der Sicherheitsratssekretär Iwanow. In Anspielung auf das russische Trauma der NATO-Intervention im Kosovo warf er den Amerikanern und ihren europäischen Verbündeten vor, gleichzeitig die Rolle des Weltenrichters und des Strafvollstreckers spielen und dabei die Vereinten Nationen ins Abseits stoßen zu wollen. Die westliche Strafaktion gegen Serbien über den Kopf Russlands hinweg war - und das zeigte sich nach dem Wechsel von Jelzin zu Putin mehr noch als zuvor - für die politische und militärische Führung in Moskau zu einer Zwangsvorstellung geworden, in die man nie wieder geraten wollte. Nie wieder werde sich Russland auf der internationalen Bühne noch einmal so demütigen lassen, nie wieder werde es separatistischen Bewegungen wie der in Tschetschenien tatenlos zusehen, nie wieder werde der Westen die Fähigkeit Russlands in Zweifel ziehen können, seinen Großmachtanspruch außenpolitisch und militärisch angemessen zu untermauern."

    Der Autor gibt das Empfinden der Russen gegenüber dem Westen, vor allem das Misstrauen gegenüber den Amerikanern, richtig wieder. Um die Worte des früheren russischen Reformers und Ministerpräsidenten Jegor Gaidar zu zitieren: "Jede Bombe auf Serbien war auch eine Bombe auf die russische Demokratie". All das sind denkbar schlechte Voraussetzungen für die Reformen, die Putin in seiner Amtszeit durchsetzen will. Werner Adam hat ein gut lesbares, außerordentlich informatives Buch vorgelegt. Bedauerlich nur, dass es keinerlei Literaturhinweise enthält. Und auch nach einem Personenverzeichnis sucht man vergeblich.

    Miodrag Soric über Werner Adam: Das Neue Russland. Putins Aufbruch mit schwerem Erbe, Verlag Holzhausen, Wien 2000.