Der Molekularbiologe Jens Reich verfocht im Jahre 1989, bei der Gründung des Neuen Forums hehre Ziele: Die Ideale des Bürgerrechtlers und seiner Mitstreiter von einst orientierten sich an der klassischen Vorstellung vom Volk als Souverän, von der Demokratie als einem Ort der freien Willensbildung und der Mehrheitsentscheidung. Die über vierzig Jahre genährte Sehnsucht nach freier Selbstbestimmung der Bürger über die Geschicke im Staat bestimmte das Weltbild derer, die 1989 mutig gegen die Diktatur der SED aufbegehrten. Viele der idealistischen Protagonisten von einst haben sich aus der Politik zurückgezogen; einige wenige Oppositionelle konnten oder wollten sich in den westlich dominierten Parteien etablieren, erheben dort mehr oder minder lautstark ihre "Stimmen aus dem Osten" und sind zu Sprechern für Bürger und Wähler aus den nicht mehr ganz "neuen Ländern" geworden. Sie vertreten eine zu Jahrestag von Mauerfall und Wiedervereinigung gefeierte Minderheit: die bürgerliche DDR-Opposition der Wendezeit.
"Bürgerliche Opposition schon deswegen, weil sie in einem vermeintlich linken Staat.. und 1968 Traum von Sozialismus abgeschminkt...Theorie verlogen...Dann war das auf der anderen Seite das Wiederentdecken von Werten...Wir haben bewußt...Bürgerrechtsbewegung nicht Bürgerlinksbewegung. Es ging um Freiheitsrechte...Liberalität...Chancengleichheit. Jemand wie ich, der erlebt hat, wie eine Gesellschaft auf den Hund kommt, wenn ihre Freiheitsrechte abhanden..., der ist allergisch, wenn Freiheitsrechte eingeschränkt werden."
Einer der Oppositionellen von damals, der auch heute noch seine Stimme erhebt, ist der Bundestagsabgeordnete vom Bündnis 90/Die Grünen, Werner Schulz. Ihm kommt das Verdienst zugute, dass er das 10. Gründungsjubiläum der Partei mit dem Schrägstrich im sperrigen Namen zum Anlass genommen hat, an die Genese vom Bündnis 90 im Osten und die Annäherung an die Grünen im Westen zu erinnern. Gegen den Willen des eigenen Parteivorstands und mit der Heinrich Böll Stiftung als Mitherausgeberin hat Schulz unter dem schönen Titel "Der Bündnisfall" einen Sammelband zusammengestellt über den Schulterschluss jener ungleichen Partner aus dem ostdeutschen oppositionellen Bündnis 90 und den westdeutschen alternativen Grünen zu einer vermeintlich gesamtdeutschen alternativen Partei. Kein Geheimnis lüftet, wer die ostdeutschen Spuren in auch dieser westlich dominierten Partei im Jahr zehn nach ihrer Gründung als marginal bezeichnet: Der Sachse Werner Schulz, der jüngst zum Überraschungscoup ausholte, als er Platz zwei der Berliner Landesliste seiner Partei für die Bundestagswahl eroberte - gegen profilierte Berliner Grüne wie Christian Ströbele und Andrea Fischer - Schulz also hat seinen politischen Optimismus indes nicht verloren.
"Die Marginalisierung ergibt sich nicht inhaltlich. Ich glaube, die Inhalte vom Bündnis 90 sind in der Gesamtpartei Bündnis 90/Grüne aufgegangen. Also die Fragen Bürger-, Menschenrechte, Demokratie ind Poltik hineinbringen, das erleben wir heute. Da fühlen...Ost...sich gut repräsentiert. Was das Problem ist, ist die personelle Repräsentanz. Also dort.. immer neuralgische Punkte gesehen, dass man gesamtdeutsche Zukunft ohne Ostdeutsche Herkunft nicht bestreiten kann. Das ist ein Defizit in unserer Partei, es gibt einen Mangel an O-Tönen, Ost-Tönen, denn Sie können diese Fragen der gesamtdeutschen Entwicklung nicht mit den Antworten einer westdeutschen Regionalpartei oder mit westdeutschen Biographien allein bestreiten."
Das Verzeichnis der Autoren über den "Bündnisfall" liest sich wie ein who is who des DDR-Widerstands: Jens Reich und Marianne Birthler, Ullmann und Templin, Lutz Rathenow sowie Grit und Gerd Poppe sind vertreten, aktive Politiker, nicht unbedingt mit einem Parteibuch der Bündnisgrünen, aber auch Historiker, Journalisten und Parteienforscher. So unterschiedlich ihre Biographien und ihre Betrachtungen - sie alle erzählen die Geschichte einer bitteren Enttäuschung, von Träumen, Missverständnissen und der nahezu vergeblichen Suche nach einem Grundkonsens zwischen den alternativen Westlinken und den unangepassten Ostwiderständlern. Nun kann niemand verhehlen, dass das Erscheinungsbild der realpolitischen Macher, die im Zweireiher am Kabinettstisch Schröder Platz genommen haben, auch vielen Alt-Grünen bundesrepublikanischer Herkunft fremd, ja verräterisch erscheint. Die Fremdheit zwischen Ost und West innerhalb der Bündnisgrünen aber trägt andere Züge. Petra Morawe, einst Mitgründerin des Neuen Forums, zeigt an einem Beispiel im Umgang ausgerechnet mit deutsch-deutscher Geschichte, wo ihre Kompromissfähigkeit endet, warum ihre Position nicht vereinbar ist mit dem alternativ-linken Habitus westdeutscher Provenienz - und warum sie konsequenterweise im vergangenen Jahr den Bündnisgrünen desillusioniert den Rücken gekehrt hat. Der 17.Juni, den die 1953 Geborene aus Erzählungen ihres Großvaters kannte, galt ihr zu DDR-Zeiten als Beweis, dass es neben dem offiziellen Geschichtsbild der SED auch ein anderes geben muss, eines, das ihr Mut machte und sie dazu anhielt, auch unbotmäßige Fragen zu stellen. Folglich ist ihr die Erinnerung an den 17.Juni gewissermaßen heilig.
Seit einigen Jahren legen auch die Berliner Bündnisgrünen auf dem Friedhof ihre Kränze in die Reihe... zwei, die der Farbenlehre folgend, grüne Kranzschleifen zieren. Eine davon weist die Abgeordnetenfraktion als Spenderin aus, die andere spricht für den Berliner Landesverband. Die Schleife der .... Fraktion ist ohne Aufschrift. Das schriftlose, mit dem "Nichts" bedruckte Band interpretiere ich so: Zum 17. Juni fällt uns nichts ein, und daraus machen wir auch kein Hehl. Diese Offenheit muss man ihnen zugute halten, denn es ist allemal ehrlicher, "nichts" zu sagen als ein indifferentes "In Gedenken". Weshalb messe ich einer unbeschrifteten Kranzschleife so viel Bedeutung bei? .... Diese Leere symbolisiert ein sich inzwischen geschichtslos gerierendes Westberliner linkes Milieu, das stets tonangebend in der Partei wirkte und Verstärkung durch diejenigen aus dem Ostteil der Stadt erhielt, die nach einfachen Lösungen suchen. Die Initiative für den Gedenkort auf dem Friedhof an der Seestraße ging insbesondere von den Aufständischen des 17.Juni aus, die sich vor Verfolgung und Repression in den Westteil der Stadt retten konnten. Dass ein solcher Ort vor 1989 nicht Pilgerstätte der Berliner Alternativen Liste war, bedarf keiner näheren Erläuterung. War doch das Bild vieler aus der Alternativen Liste vom wunderbaren sozialistischen Gesellschaftsentwurf geprägt. Im Unterschied zu den SED-PDS-Mitgliedern und der übrigen ehemaligen DDR-Bevölkerung hätten die Mitglieder der Alternativen Liste nicht verleugnen müssen, dass am 17.Juni ein Volksaufstand in der DDR stattgefunden hatte... Im Gegensatz zu mir hätten sie schon viele Jahre an diesem Stein gedenken können.
Der Passus "im Gegensatz zu mir" prägt viele der oft sehr persönlichen Beiträge in jenem von Werner Schulz klug zusammengestellten Band. Dieser könnte innerhalb der Grünen eine längst überfällige Diskussion auslösen, würde er denn angemessen zur Kenntnis genommen. Die innerparteiliche Auseinandersetzung über enttäuschte Erwartungen, die auch die übrigen westdeutschen Parteien ja gescheut haben, böte eigentlich eine große Chance. Solange sie nicht geführt wird, sind wir weiter angewiesen auf schriftliche Darlegungen über unüberbrückbare Unterschiede beispielsweise zwischen der praktizierten Gewaltfreiheit der DDR-Opposition, die wenig gemein hat mit dem traditionell anti-amerikanischen Pazifismus der Friedens- und Bürgerinitiativen im Westen. Schulz' Autoren erläutern darüber hinaus eklatante Differenzen in der Umwelt-, Industrie- und Verkehrspolitik, die vielfach daraus resultieren, dass die Westlinke emotional nicht beteiligt war an der Wiedervereinigung. Thema in dem durchaus nicht larmoyanten Band ist wiederholt der bis heute offene Wunsch der Bürgerrechtler nach mehr plebiszitären Elementen in unserer schließlich auch verbesserungswürdigen Demokratie. Schulz, der einst als Mitglied des Runden Tisches am Verfassungsentwurf der schließlich doch nicht mehr zu reformierenden DDR mitgearbeitet hatte, verteidigt im Gegensatz zu anderen Autoren seines Bands die Entscheidung zum Zusammenschluss von Bündnis 90 und den Grünen - zur seiner Meinung nach einzigen wirklich dialogfähigen Partei
"Es gibt keine Sehnsucht nach Vergangenheit, eher einen Mangel an Visionen. Das ist eine Chance für uns, für eine Partei, die ein Zukunftsprogramm bis 2020 entworfen hat. Ich will das nicht überhöhen, man sollte sich hüten vor Gesellschaftsentwürfen, die den Anspruch erheben, für immer und die Ewigkeit... ich hab davon genügend mitbekommen in meinem Leben...Bücher über wissenschaftlichen Kommunismus. Da bin ich eher pragmatisch, man sollte über Jahrzehnte Zielvorstellungen haben, die Menschen brauchen.. das sind schon Visionen, ohne Visionen beginnt aber gesellschaftliches Frieren, weil man nicht weiß, wohin der kleine Schritt führt, wenn ...Sehnsucht nach Vergangenheit meine ich nach jeder Vergangenheit, weder DDR, noch rechtsextremistischer Vergangenheit, noch Adenauer-Staat, was da an Besitzstandswahrung läuft .. Blick nach vorn wie beim Autofahren, ... Blick in den Rückspiegel, wissen und aufpassen, dass uns nichts von hinten überrollt. Und dennoch wissen, wo der Horizont liegt."
"Der Bündnisfall. Politische Perspektiven 10 Jahre nach der Gründung des Bündnis '90" ist erschienen in der Edition Temmen, Bremen, hat zweihunderteins Seiten und kostet zwölf Euro 50 Cent.