Donnerstag, 09. Mai 2024

Archiv


Werte, Schwierigkeiten und Utopien in Europa

Im Haus Europa hängt derzeit der Haussegen schief. Fehlende Fachkräfte hier, Massenarbeitslosigkeit dort. Auf einer Tagung in Hamburg diskutieren Experten gemeinsame europäische Werte.

Von Ursula Storost | 11.10.2012
    "Wir leben zusammen mit einer Hoffnung für Gerechtigkeit, für Respekt voreinander, von Verständnis voneinander."

    Stéphane Hessel, 1917 in Berlin geboren, ist heute französischer Staatsbürger. Der fast 95-Jährige war Résistancekämpfer, überlebte deutsche Konzentrationslager, arbeitete als Diplomat bei den Vereinten Nationen. Er weiß, wie wertvoll das geeinte Europa ist.

    "Da ist Emanuel Kant, da ist Rene Descartes, da ist Spinoza. All das bedeutet ein europäisches Denken. Das ist, was wir erhalten müssen."

    Dank des vereinten Europas scheinen die Kriege hier überwunden, sagt Stéphane Hessel. Jetzt müssen wir noch die großen Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich überwinden.

    "Es ist wichtig, dass wir verstehen, Europa nicht nur weiter zu bekräftigen, sondern ihm eine Rolle in der Welt zu verleihen. Eine Rolle für mehr Gerechtigkeit, mehr Verantwortung, mehr "mutural respect", Respekt miteinander."

    Aktuell würde die Spaltung zwischen Arm und Reich in Europa allerdings immer größer, konstatiert Hartmut Rosa, Soziologieprofessor an der Universität Jena. Und das obwohl – oder gerade weil – der europäische Imperativ nach wie vor Wachstum heiße.

    "Die gesamte Steigerungslogik, die ergreift eben im Wesentlichen nicht mehr die ganze Gesellschaft, sondern immer nur einen Teil davon. Und das ist in Europa eben auch ein Problem zwischen manchen Ländern wie zum Beispiel Deutschland, die eindeutige Gewinner der momentanen krisenhaften Entwicklungen sind. Und anderen Ländern wie zum Beispiel Griechenland oder Spanien. Sodass wir diese Spaltung nicht nur innerhalb der einzelnen nationalstaatlichen Gesellschaften haben, sondern europaweit."

    Eine Spaltung, die Integration verhindere und auf Dauer zu schweren Konflikten führen könne, wenn sie nicht mit politischen Mitteln bekämpft werde, warnt der Soziologe.

    "Die Frage ist, ob man zum Beispiel die Griechen oder die Spanier als Konkurrenten ansieht, gegen die wir konkurrieren und wo man eben sehen muss, wer sich durchsetzt. Oder so wie Familienangehörige oder Angehörige in einem Dorf, denen man eben auch hilft, aus solidarischen und Loyalitätsgründen. Und ich glaube, dass wenn man Interesse daran hat, dass Europa zusammenwächst, gedeiht und funktioniert, dass es dann ganz wichtig ist, die Wettbewerbsidee etwas zurückzustellen und solidarische Momente zu stärken, weil nur das der Weg sein kann."

    Man müsse sich vor Augen führen, so Hartmut Rosa, dass ein vereinigtes Europa Handlungsmöglichkeiten habe, die einzelne Nationalstaaten nicht hätten. Die große Aufgabe sei es jetzt, Alternativen zu den dynamischen Wachstumsmodellen zu finden. Die würden nicht nur die Ökonomie dominieren, sondern auch die Kultur und Wissenschaft.

    "Das sieht man schon am Begriff Wissenschaft. Ist die Idee, dass es etwas ist, was immer neu geschaffen werden muss. Was einen dynamischen Horizont hat. Und wenn sie heute Wissenschaftler fragen oder junge Menschen fragen, was sie sich unter Wissenschaft vorstellen, dann stellen sie fest, dass die sagen, immer neue Fragen zu erfinden, neue Projekte auszudenken, neue Antworten zu erhalten. Da stellt man fest, es geht nicht mehr darum, einen Wissensschatz weiterzugeben oder ein absolutes Wissen herzustellen, sondern das ist ein dynamisches System."

    So wichtig die Suche nach neuen Erkenntnissen sei: Es sei doch eigenartig, dass sich heutzutage das Wissen unaufhaltsam vermehrte, es aber immer weniger Gewissheiten gebe.

    "Das ist hochspannend. Weil moderne Kulturen vielleicht die ersten sind, die auf die großen Fragen des Lebens, was ist der Sinn unserer Existenz, was ist ein gutes Leben, was ist die Gestalt eines guten Lebens, aber auch, was sind die Sterne oder das Weltall keine definitiven Antworten mehr geben. Genau genommen geben wir immer weniger Antworten. Wir kommen dazu zu sagen, selbst Zeit und Raum sind relative Dinge. Da sieht man, dass das spannende Ergebnis des Wissenschaftsprozesses die Auflösung von Wahrheit und Gewissheit ist."

    Gleichzeitig gebe es gemeinsame europäische Leitwerte, glaubt Hartmut Rosa. Nämlich Selbstbestimmung und Freiheit.

    "Die Idee, dass wir über die Gestalt, die Form und den Inhalt eines gelingenden Lebens selbst bestimmen können. Als Individuen soll uns niemand vorschreiben, soll uns niemand zwingen, zum Beispiel in die Kirche zu gehen oder aber verbieten, in die Kirche zu gehen. Also, wir wollen selbstbestimmt leben können."

    Selbstbestimmung und der Zwang zu immer mehr Wachstum und Beschleunigung würden sich letztendlich aber gegenseitig ausschließen.

    "Das sieht man insbesondere in der politischen Dimension. Wenn häufig gesagt wird, wir müssen Dinge tun, auch wenn wir sie nicht wollen, weil wir sonst nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Weil sonst das Wirtschaftswachstum zum Erliegen kommt. Da sieht man, dass diese Steigerungsideale von der natürlich manche Schichten stärker profitieren als andere oder überhaupt nur noch manche Schichten profitieren. Aber man sieht deutlich, dass dieser Steigerungszwang heute stärker als Zwang denn als Befreiungsmöglichkeit erfahren wird. Und in dem Sinne unseren Leitwert der Selbstbestimmung, der Freiheit untergräbt."

    Wachstum würde außerdem das individuelle Glücksgefühl nicht steigern, sondern verringern, sagt Hartmut Rosa. Das sehe man an zunehmenden Burn-Out-Erkrankungen. Ein gutes Leben ergebe sich aus Anerkennung. Aus fremder und eigener Wertschätzung der Arbeit. Das hat auch die Journalistin Annette Jensen erfahren. Sie hat ein Buch über alternative Projekte in Europa veröffentlicht.

    "Die Leute haben ja ihre Projekte selbst sich überlegt. Und deswegen identifizieren sie sich sehr stark damit und sie machen einfach Spaß. Sie sind häufig mit Gemeinschaftserlebnissen verbunden. Und zum Beispiel in dem Bioenergiedorf Jünde haben die Leute mir gesagt, es ist viel interessanter in dem Dorf geworden, weil wir unterhalten uns jetzt über unsere gemeinsame Anlage und nicht nur über das Wetter."

    Gefragt sei wieder utopisches Denken, behauptet der Politikwissenschaftler Dr. Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung.

    "Die Finanzmärkte diktieren so sehr der Politik und der Gesellschaft ihre Bedingungen, dass es gar nicht mehr bislang möglich gewesen ist, Gegenentwürfe einer Gesellschaftsentwicklung darzustellen, zu formulieren. Das wird aber dringend benötigt, um deutlich zu machen, wie eine alternative Option für eine Gesellschaftsentwicklung aussehen könnte, in der nicht mehr letztlich die Schere zwischen Arm und Reich sich ständig vergrößert, und in der vor allen Dingen die Unsicherheit zu einem entscheidenden Charakteristikum eines Zeitalters wird."

    Es müsse heute weniger um marktfähige Technologien gehen, als um eine Zukunft, die lebenswert, ressourcenschonend und glücklich machend sei. In Europa sei da im Moment einiges im Argen.

    "Dort sind das ja Hunderttausende von jungen Leuten, die, obwohl sie gut ausgebildet sind, keine Arbeit finden. Die keine Berufsperspektive haben und deshalb auch keine wirklichen Lebensentwürfe starten können."

    Fünfzig Prozent der jungen Spanier sind arbeitslos. Es drohe der Verfall der Mittelschichten, mahnt der Politikwissenschaftler. Und insofern würden sich viele Menschen fragen, was die europäische Integration eigentlich geleistet habe.

    "Und solange niemand in der Lage sein wird, die entfesselten Finanzmärkte zu domestizieren, solange werden diese Probleme aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur anhalten, sondern sich weiter verschärfen."

    Dabei, so Wolfgang Kraushaar, sei es deprimierend, dass sich die Utopien der europäischen Jugend heute eher an der Realität orientieren.

    "Es ist eigentlich ein Kampf um die Gegenwart, nämlich ein normales, erwartbares, sicheres Leben führen zu können. Das scheint mir der Kern des Utopischen heute zu sein."