
Die Luft ist klar und kalt, Raureif bedeckt die Alpwiesen rund um die Nagelfluhkette im Allgäu. Hier oben, auf 1300 Metern Höhe, liegt die Alpe Hörmoos von Michael Schneider. Im Sommer kümmert sich der Bergbauer um das Jungvieh aus dem Tal, pflegt Zäune und Weiden, im Winter brennt er Schnaps. Und zwar nur aus Beeren, Wildkräutern und Heilpflanzen, die auch hier oben auf den Alpwiesen wachsen. Sein wichtigster Rohstoff fürs Brennen aber ist der Gelbe Enzian. Einmal im Jahr, wenn die Blätter schon verdorrt sind, die Kraft der Pflanze also wieder im Boden zurück ist, ruft Michael Schneider all seine Freunde zusammen. "Im Hänger haben wir jetzt die Kisten drin für die Enzianwurzeln, die leeren noch. Und heute Abend sollen sie dann voll sein. Ich darf 500 Kilo graben, wahrscheinlich haben wir dann heute Abend so 400 Kilo."
Michael Schneider stapelt die leeren Kisten in den Hänger, dazu kommt noch eine Kiste mit Bier und Brotzeit – für die ehrenamtlichen Helfer. Jedes Jahr reservieren sie sich diesen Tag im Kalender, auch wenn sie auf ihren eigenen Alpen genug zu tun hätten, bevor der Winter kommt.
Festgelegt wird der Tag nach dem Mondkalender. Das wird im Allgäu traditionell so gehalten - ob man jetzt Brennholz schlägt oder das Vieh auf die Weide lässt. Außerdem gehts immer früh los. "Warum geht man frühmorgens zum Graben?" – "Dass man fertig wird. Wir sind jetzt acht Leute insgesamt, und wir sollten heute Abend fertig sein. Das ist der strengste Tag im Jahr, aber auch der schönste."
500 Kilo Wurzeln darf Michael Schneider auf den Alpwiesen der Allgäuer Nagelfluhkette insgesamt graben - vom Falken bis zum Hochgrat auf 1.800 Metern Höhe. Mehr gestattet ihm die Naturschutzbehörde nicht, denn gelber Enzian gehört zu den geschützten Pflanzenarten. Seine Nachbarn aber sind froh, wenn sich der nicht überall auf ihren Weiden ausbreitet. Denn die Blätter vom Enzian sind so bitter, dass die Tiere sie nicht fressen. Außer sie sind krank. "Das ist ein natürlicher Fraßschutz. Der Enzian ist die bitterste Pflanze in Mitteleuropa, die kann man in vielfacher Verdünnung noch feststellen, die Bitterstoffe." – "Deswegen muss man die auch brennen? Oder kann man die auch noch anders zu sich nehmen?" – "Ich darf die nur verwenden zum Brennen, ich darf sie sonst nicht vermarkten."
Beliebt ist der gelbe Enzian vor allem in der Pharmaindustrie. Angeblich regt er den Appetit, die Verdauung und den Kreislauf an, wirkt gegen Müdigkeit und angeblich auch gegen Fieber. Alles wegen seiner Bitterstoffe. Tatsächlich wirken die auf die Schleimhäute, sobald man eine Wurzel aus der Erde zu holen versucht. "Das merkt man schon beim Graben: Da riecht man den Enzian. Da muss man gar keinen Schnaps mehr trinken. Wenn man dann zum Wurzelwaschen geht, da hat man dann noch richtig die Bitterstoffe an den Fingern dran einige Tage noch."
Der Bergbauer stützt sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Spaten, sticht einen Kreis aus, greift mit seinen großen Händen in die Erde und bricht eine Wurzel heraus, die sich weit in den Boden verzweigt hat. Der Enzian wirkt wie eine Mischung aus Sellerieknolle, Meerrettich und Ingwer, in der Pfahlwurzel hängen noch Erde und Gras und Steine. Beim Graben, erklärt Michael Schneider, muss man darauf achten: "Dass man einfach nur einen Teil rausnimmt - und der Rest bleibt. Und die vielen Wurzelstückchen, die noch drin sind, die Verzweigungen, machen den Wurzelstock neu. Und in zwölf Jahren können wir dann wieder graben bei uns."
Michael Schneider gräbt seit 13 Jahren Enzian, seine Kräuteralpe auf 1.300 Metern ist die höchstgelegene Destille im Allgäu. Ihm macht es Freude, das zu veredeln, was hier oben in den Bergen an Wildkräutern, Blüten, Beeren und Wurzeln alles wächst. Auf den Alpen gehört das Brennen seit jeher zu einer wichtigen Kulturtechnik: Auf diese Weise ließ sich vieles über den Winter haltbar machen. Oder - wie bei der Enzianwurzel - überhaupt erst genießbar.
"Und das Loch wieder zu?" - "Das machen wir wieder zu, das Gras nach oben. Nächstes Jahr sieht man nichts mehr, da wächst es sogar besser." - "Das grüne Zeugs?" – "Lassen wir liegen, das gibt dann Dung fürs nächste Jahr."
Die Wurzeln aus dem Boden zu graben, erfordert viel Kraft. Tief krallen sie sich in der Erde fest - oft unter Baumwurzeln hindurch, Ritzen und Steinspalten hinein. Nie weiss man vorher, wie gross die Wurzel unter der Erde ist. Wohin sie ihren Weg gesucht hat. Und ob es tatsächlich eine Enzianwurzel ist. "Es könnte auch die Wurzel sein von der Fichte. Aber ich glaube es nicht. So wie es ausschaut. Tatsächlich. Das ist eine Wucht von Wurzel, da wird sich der Chef freuen. Ideal. Viel im Boden drin. Michel, schau! Zuerst habe ich gemeint, das ist die Wurzel, aber das ist vom Stock. Da wird der Sack ziemlich schwer, da können wir bald Feierabend machen."
Je dicker die Wurzel, desto älter ist sie meistens auch. Und umso verschrumpelter. Wie bei Bäumen hinterlassen die Jahre Ringe in der Enzianwurzel. "Wenn sie aber eine bestimmte Zahl an Jahren schon hat, dann will sie auch geerntet werden." - "Wie viele Jahre sind das ungefähr?" - "Das ist verschieden. Von 40 bis 60 Jahre alt können die Wurzeln schon sein. Und das macht es eigentlich aus."
Der Bergbauer greift eine alte Wurzel aus seinem Korb, betrachtet sie voller Ehrfurcht und hält sie sich an die Nase. "Das hier ist jetzt eine ganz alte, kräftige Wurzel. Das riecht man schon." - "Ist die so gewachsen, weil sie ihren Weg mehrmals ändern musste?" – "Ja, auf jeden Fall. Weil sie da genau an dem Stein – da musste sie sich halt durchwinden. Phantastisch. Was da für eine Energie dahinter steckt."
Während der Bergbauer die Wurzel bestaunt, kullert das ausgehobene Stück Erde mit Gras den steilen Hang hinunter - auch an ein paar blauen Enzianblüten vorbei. Die zeigen sich nochmal in voller Blüte, bevor alles gefriert. Geduldig stapft Gallus Balz den Hang hinunter, holt den Erdhaufen hoch und drückt die Grasnarbe wieder fest. "Richtig den Berg runtergekullert, so steil ist es." - "Ja, aber so viel Zeit muss sein, dass man das wieder holt und wieder sauber hinmacht. Und im Winter drückt das der Schnee wieder platt. Und dann passt es."
Wenn der Winter kommt, wird der Enzianschnaps gebrannt. Zuerst aber müssen die Wurzeln gewaschen werden. Also steht Michael Schneider am nächsten Morgen wieder um sieben Uhr früh vor seinem Haus, diesmal mit einem großen Schlauch in der Hand - und noch etwas erschöpft vom letzten Tag. "Enzian ist ja Erdung. Das haben wir gestern gesehen. Wir sind ja voll am Boden dran - und am Abend ist man richtig kaputt. Aber man geht richtig zufrieden ins Bett."
Dann aber geht die Arbeit erst richtig los: Jede einzelne Enzianwurzel muss in die Hand genommen, von Erde befreit, geschrubbt, geschält und zerkleinert werden. Bei 400 gesammelten Kilo macht das nochmal drei bis vier Tage, dann kommen die Äpfel dazu, das Ganze muss ein paar Wochen gären. Im Dezember kann Michael Schneider dann die Brennerlaubnis beantragen. Gelingt das Brennen, darf sich der Bergbauer Gallus Balz, wie alle ehrenamtlichen Helfer, eine Flasche Enzianschnaps mitnehmen. Für die ungemütlichen Wintermorgen im Stall. Oder am Schreibtisch.
"Wenn es einem mal nicht so gut geht, dann trinkt man Enzian. Das ist Medizin.Bei mir, wenn ich zum Vieh gehe am Morgen, wenn es wirklich ganz kalt ist, dann nehme ich einen Schluck Enzian. Den ganzen Tag bin ich dann warm und friere nicht. Da sieht man, was für eine Energie dahinter steckt."