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Westflüchtlinge

Wenn es um Flucht und Ausreise in den Zeiten des Kalten Krieges geht, ist allen klar: Der Weg führte von Ost nach West. Aber die historische Wahrheit ist etwas komplizierter: Es gab auch Menschen, die den entgegengesetzten Weg gingen. Diesen Menschen widmen sich zwei Neuerscheinungen.

Von Henry Bernhard | 09.11.2009
    Auch heute noch ist das Thema West-Ost-Wanderung mit einem Tabu belegt, meint der Potsdamer Historiker Bernd Stöver, der eine umfassende Studie zur West-Ost-Wanderung vorgelegt hat: "Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler".

    "Das Bild des Kalten Krieges ist das, dass die Leute in den freien Westen wollen, das die Leute in den freien Westen fliehen – das ist auch so! Aber es sind eben auch 550.000 in die DDR gegangen. Also insgesamt ist es ein Tabuthema gewesen mit einer langen Verzögerung sozusagen, diese Fronten aufzulösen. Das sind die Nachwirkungen des Kalten Krieges, unter denen wir alle zu leiden – oder wie auch immer – haben. Und man muss sich da auch dem Vorwurf aussetzen, dass man irgendwas schönschreiben oder schönreden will."
    Stöver geht der Frage nach, wer wann warum vom Westen in den Osten ging. Dabei macht er sehr deutlich, dass man die Motive vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Phase bewerten sollte. Nach dem Krieg und vor dem Wirtschaftswunder, als auch im Westen Wohnungsmangel und Arbeitslosigkeit grassierten, als die DDR-Verfassung Arbeit und Wohnraum versprach, als die CDU noch vom Sozialismus träumte, als der Wunsch nach einem einigen Deutschland noch erfüllbarer schien als später, war es für viele gar nicht so abwegig, die Bundesrepublik zu verlassen. Allein 1957 gingen etwa 50.000 Menschen in die DDR. Schließlich konnte man ja auch zurückkehren. Der Mauerbau 1961 machte diese Option unmöglich. In den folgenden Jahrzehnten zogen nur noch wenige Menschen in die DDR – zwischen 1000 und 5000 pro Jahr.

    Wer waren diese Menschen? Politisch Verwirrte, Kommunisten, Loser, Verschuldete, Vorbestrafte? Die Liste der Klischees ist so lang wie falsch. Es waren vor allem junge Leute, Männer, noch nicht im Berufsleben Stehende, Wohnungssuchende, Frauen, die zu ihrer Familie zurück wollten. Die meisten der West-Ost-Wanderer waren Rückkehrer: Deutsche, die Wochen oder Jahre zuvor in die entgegengesetzte Richtung übergesiedelt waren. Ihre Probleme waren zutiefst menschlich: Enttäuschte Erwartungen, gescheiterte Ehen und Heimweh plagten die Menschen. Erst die politischen Verhältnisse im Kalten Krieg machten aus einem Umzug ein Politikum.

    "Heute würde man sagen: Es ist im Grunde genommen eine völlig normale Emigration oder Migration gewesen, die nur deshalb unnormal wird, weil sie in den Osten geht, hinter die Mauer geht. Ansonsten, wenn man sich die Motivation anguckt und sie vergleicht beispielsweise mit den Motiven, die Überseeauswanderer hatten – nach USA beispielsweise –, ist es eine völlig reguläre, normale Migration, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, aus privaten Gründen, und erst längere Zeit danach aus politischen Gründen."
    Doch sowohl für die Bundesrepublik als auch für die DDR stand das politische Moment im Vordergrund. Für den Westen waren die Emigranten Verräter, für den Osten waren sie potenzielle Soldaten in der Propagandaschlacht des Kalten Krieges. Die DDR verbreitete im Westen Handbücher, Merkblätter, Taschenbücher in hunderttausendfacher Auflage:
    Unsere Errungenschaften:
    Bei uns wurden die Monopol- und Konzernbetriebe in das Eigentum des Volkes überführt. Bei uns ist es selbstverständlich, dass jeder gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhält. Bei uns finden sie ein großes Netz von Kindergärten, Kinderkrippen und Wochenheimen. Bei uns gibt es keine allgemeine Wehrpflicht, keine Arbeitslosigkeit, keine Faschisten im Staatsapparat.

    Auf die im Westen heftig Umworbenen wartete im Osten jedoch kein sanfter Empfang. Wer aus der Bundesrepublik in die DDR übersiedelte, wurde zunächst interniert, abgeschottet, bespitzelt, abgehört und verhört, über Wochen oder Monate. Draußen vor den Übergangsheimen standen Wachen, mit Maschinenpistolen bewaffnet. Für die DDR waren alle Einwanderer verdächtig: Sie könnten Spione sein, Agenten, oder auch "Asoziale". In der Logik der ostdeutschen Bürokraten umfasste diese Kategorie auch Menschen, die im Osten ihre westliche Freiheitsliebe nicht aufgeben wollten, die aufmüpfig waren und sich nicht in die sozialistische Gleichmacherei einreihen wollten. So schob die DDR nach gründlichen Überprüfungen, bei der die Staatssicherheit die Fäden in der Hand hielt, jeden dritten Einreisewilligen wieder ab! Darunter auch westdeutsche Kommunisten: Sie sollten im Westen die Speerspitze der Revolution bilden!

    "Sie haben in der Regel relativ komplikationslos die Leute auch wieder abgeschoben, die sie nicht wollten. Es gibt Berichte, die ich auch zitiere in dem Buch, dass dann Busse an die Grenze fahren, dann werden die Türe geöffnet, da kommen Leute raus, die werden über die Grenze abgeschoben: "Geht rüber!" Und sie stehen dann im Grunde genommen im Nichts, und sie werden dann vom BGS, also von der anderen Seite, vom Bundesgrenzschutz abgeholt."
    In neun gut recherchierten und spannenden Beispielen aus allen Jahrzehnten der DDR stellt Stöver verschiedene Schicksale von West-Ost-Übersiedlern vor: Zumeist sind es spektakuläre, gut dokumentierte Fälle, zu denen die Archive viel Material hergeben. Da ist zum Beispiel Otto John, der Chef des bundesdeutschen Verfassungsschutzes, der sich 1954 in die DDR absetzt, eineinhalb Jahre später aber enttäuscht zurückkehrt. Da ist der CDU-Politiker Günther Gereke, der mit dem Schritt in den Osten der Wiedervereinigung Deutschlands nachhelfen will. Da sind die beiden desertierten Bundeswehr-Offiziere, die 1960 in die DDR gehen und in die Propaganda für den Mauerbau eingespannt werden. Da ist der Kriminelle Hans Wax, der für die Stasi sprengt, spioniert und raubt. Und da sind natürlich Günther Guillaume und die in der DDR untergetauchten ehemaligen RAF-Terroristen. Geradezu lustvoll gibt sich der Autor den mitunter verwegenen Biografien hin, wie sie nur im ideologischen Wechselbad des 20. Jahrhunderts möglich scheinen. Repräsentativ für die hunderttausendfache West-Ost-Wanderung sind die Beispiele jedoch kaum. Aber gerade an den außergewöhnlichen Schicksalen kann man sehen, welche großen Hoffnungen die DDR in die Übersiedler setzte, wie sehr sie ihnen dennoch misstraute und wie problematisch für die SED-Kader der Umgang mit Menschen war, die schon einmal in einem Land mit bürgerlichen Freiheiten gelebt hatten.

    "Es gibt meterweise Akten über das Verhalten von Westlern, die sich in der DDR so verhalten, als würden sie noch in der Bundesrepublik leben. Ihnen wird dann vorgeworfen, sie seien Faulenzer oder auch Kriminelle usw., weil sie schlicht und einfach so weiterleben, wie sie es vorher auch getan haben, und sich nicht in die neuen Bedingungen, die ihnen jetzt vorgegeben werden, einpassen."
    Einen ganz anderen, engeren Fokus hat der Fernsehjournalist Ulrich Stoll auf das Thema West-Ost-Übersiedlung. Stoll schaut speziell auf die 80er-Jahre, auf das damals einzige Aufnahmelager für Übersiedler in Röntgental bei Berlin. Im Mittelpunkt stehen bei ihm Einzelschicksale ganz gewöhnlicher Bürger. Stoll konzentriert sich ausschließlich auf "Rückkehrer", also Menschen, die irgendwann zuvor die DDR-Richtung Westen verlassen hatten und aus den unterschiedlichsten Gründen zurückkehren wollten. Ihre Motive waren zumeist privater Natur. Stolls Buch "Einmal Freiheit und zurück" setzt auf Reportagen – schließlich basiert es auf seinen Recherchen und Interviews für eine Fernsehdokumentation über West-Ost-Übersiedler. Hier liegen gleichzeitig die Vor- und Nachteile: Einerseits hat Stoll Zeitzeugen interviewt, die sehr berührend über ihre persönlichen Erlebnisse berichten, über Monate im Übergangsheim, die manche in den Selbstmord trieben, über eiskalte Stasi-Leute, über Diffamierungen, Misstrauen und schroffe Ablehnung durch Kollegen.

    Frauke weint, als der Arzt sie zwingt, sich völlig nackt auszuziehen. "Sie müssen verstehen, dass wir Sie auf ihre Arbeitsfähigkeit hin untersuchen." Eine Frau in Zivil tastet ihren nackten Körper ab und beginnt, ihre Kleider gründlich zu durchsuchen. Jeder Rocksaum wird kontrolliert. Die Frau durchwühlt Koffer und Reisetasche und nimmt alles an sich, was Frauke Naumann mitgebracht hat, um sich die Zeit im Lager zu verkürzen: Bücher, Zeitschriften, Strickzeug. Sie weint auch beim Verhör, als der Vernehmer ihr die Fingerabdrücke abnimmt. "Wir lassen uns keinen Kuckuck ins Nest legen", sagt er und packt grob ihre Hände.
    Westflüchtlinge galten den einen als Verräter – auch wenn sie zurückkehrten –, den anderen als Stasi-Spitzel. Nachteilig an Stolls Buch ist die Fernsehdramaturgie, die im geschriebenen Text nicht immer funktioniert. Mitunter geraten in den Reportagen auch die Zeitformen durcheinander. Dennoch ergänzen sich beide Bücher recht gut: "Zuflucht DDR" legt eine wissenschaftliche Grundlage – wer ging wann und warum vom Westen in den Osten? – und schildert meist spektakuläre, außergewöhnliche Fälle. "Einmal Freiheit und zurück" beschreibt vor allem ganz gewöhnliche Schicksale: Menschen, die zueinander wollten, Liebende, Mütter zu ihren Kindern, Kinder zu ihren Eltern. Allesamt waren sie Strandgut und Kanonenfutter im Spiel der Mächtigen im Kalten Krieg.

    Henry Bernhard über Bernd Stöver: "Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler". Erschienen im C. H. Beck Verlag, 384 Seiten zum Preis von 24 Euro 90 (ISBN-10: 3406591000) und Ulrich Stoll: "Einmal Freiheit und zurück. Die Geschichte der DDR-Rückkehrer". Im Christoph Links Verlag, 208 Seiten für 16 Euro und 90 Cent (ISBN-10: 3861535440).