Archiv


Wetterkapriolen am Watzmann

Der Watzmann, seine Frau und die sieben Kinder sind ein sagenumwobenes Bergmassiv. Daher lockt der Berg ambitionierte Bergsteiger wie ausdauernde Bergwanderer an. Deutschlands zweithöchster Berg bietet wunderbare Wanderstrecken - wenn das Wetter mitspielt.

Von Gerd Michalek |
    Es ist 28 Grad warm in Ramsau bei Berchtesgaden - 620 Meter über dem Meer. Die Mittagssonne brennt uns auf den Pelz und wir keuchen in Serpentinen einen steilen Bergpfad hinauf. Unter uns die Wimbachklamm - wo ein reißender Bach zu Tal stürzt und uns keine Erfrischung verschafft. Der 15 Kilo schwere Rucksack drückt, der Schweiß fließt uns in Strömen.
    Bei der ersten Almweide - der lieblichen Stubenalm - zeigt mein Sohn Jens weit nach oben:
    "Man hat das Watzmannhaus schon über sich, das sind noch etwa 800 Höhenmeter, und oberhalb der Hütte kann man schon den Ausläufer des Hochecks, also des vorderen ersten Watzmanngipfels erkennen. Außer ein paar kleinen weißen Schleierwolken ist die Sicht wunderbar."

    Auf 1930 Meter Höhe liegt der wichtigste Ausgangspunkt für alle, die Deutschlands zweithöchstem Berg, dem Watzmann, zu Leibe rücken wollen: das Watzmannhaus.

    Endlich - nach insgesamt drei Stunden Aufstieg haben wir das Plateau der Hütte erreicht. Bruno, der Hüttenwirt, guckt durchs Fernglas und genießt den Blick vom - wie er sagt - schönsten aller möglichen Arbeitsplätze:
    "Richtung Norden schaust du, wenn es klar ist, bis zur Schneekoppe hin. Luftlinie 120 Kilometer. Erst mal der kleine Watzmann, das Hagengebirge, der Hohe Göll, Richtung Westen unser Blaueis, unser Hochkalter, Richtung Norden Untersberg, unsere "Schlafende Hexe", Lattengebirge, dann haben wir drüben Schneidstein, die Reichenhaller Berge, Hochstaufen, Zwiesel. Das waren schon die Berge. Wir haben Gams, wir haben mittlerweile den Steinbock, Schneehühner, wir haben Schneehasen, das Hermelin ums Haus herum, den Auerhahn, wir haben den Birkhahn. Geht recht lustig zu bei uns. "
    Im Inneren der Hütte wird gerade das Abendessen vorbereitet. Brunos fleißige Helferinnen kümmern sich um gut 40 Gäste. Vergleichsweise wenig Watzmann-Anwärter sind an diesem Freitagabend unterwegs. Bruno hat den Profiblick für seine Gipfelstürmer:
    "Es teilt sich insgesamt recht schön auf: 30 Prozent gehen nur zum Haus hin, die anderen 30 Prozent zum Hocheck rauf, wo es noch halbwegs normal zu gehen ist, 20 Prozent gehen zur Mittelspitze und der Rest geht die Überschreitung".

    Je weiter die Tour durchs Watzmann-Massiv führt, desto steiler und gefährlicher wird das Gelände. Am Hocheck, dem Nordgipfel, gibt es nur vereinzelt exponierte Felsstellen mit Seil-sicherungen, für uns eine machbare Angelegenheit. Kniffliger ist die sogenannte Überschreitung. Damit meint Bruno: über alle drei Gipfel des Watzmanns, von Hocheck über Mittelspitze und Südspitze kraxeln und schließlich im Wimbachtal ankommen. Eine sehr lange Berg-Tour, die oft unterschätzt wird. Nicht allein wegen der Nässe, die den Fels am langen Gipfelgrad sehr schmierig machen kann und leicht zu Abstürzen führt. Dazu Uwe Christiansen, der ehemalige Hüttenwirt der Wimbachgrießhütte, die am Ende der hochalpinen Tour liegt.
    "Den Watzmann kennen Sie auf der ganzen Welt. Aber es sind dort sehr viele Leute, die dort oben eigentlich nichts verloren hätten, die da oben nur bis zum Hocheck gehen sollten und es genießen und wieder absteigen. Es kommt dann vor, dass die Leute 14, 17, 18, 19 Stunden über den Berg brauchen - wo man Gehzeit einkalkuliert von zehn bis zwölf Stunden - zu wenig Kondition haben und dann hier angekrochen kommen vor Erschöpfung. Und das ist nicht schön. Die kommen dann nachts ums eins oder zwei hier an. Man wird aus dem Bett geholt."

    Im Watzmannhaus indes ist heute fast ein Ruhetag. Der lokale Wetterbericht hat für den Folgetag ungemütliches Wetter - für Sonntag jedoch Besserung - angesagt. Bei Schönwetterlage gehen die 180 Schlafplätze der Hütte weg wie warme Semmeln. Auch heute sind durchweg Watzmann-Verehrer unterwegs:
    "Es war schon immer so - der Watzmann ruft - deshalb habe ich mir auch auf der Freilichtbühne am Chiemsee die Komödie angeschaut."

    "Weil einfach das Watzmannhaus steht nun mal am Watzmann, und da wächst er einem wie ein Haustier ans Herz!"

    "Ich komme aus Zittau, mein Sohn hat mir diese Watzmanntour zum Geburtstag geschenkt. 'Papa, wir gehen zusammen mal auf den Watzmann.' Ich habe das ganz alte Buch von der Erstbesteigung. '3000 Meter Fels' nennt sich das, eine ganz alte Buchschwarte, und da sind die Erstbesteigung und die ersten 30 bis 40 Jahre beschrieben. Da schöpft man natürlich Motivation, dass mal näher kennen zulernen."

    Viele Gesinnungsgenossen also. Mein Sohn Jens und ich sind offenbar nicht das einzige Vater-Sohn-Duo, das dem Lockruf des Berges folgt: Am Nebentisch lobt ein Vater - diesmal in hessischem Akzent - den Tatendrang des Sohnes:
    "Er sagte, er würde gerne mit mir eine Tour über den Watzmann machen - und hat in mir auch einige Erinnerungen geschöpft, da ich genau vor 30 Jahren schon mal diese Tour tätigen durfte. - Es war oben ein schönes Gefühl, für sich allein zu sein, - von der Natur umgeben - auch mal nichts zu hören, es war sehr beruhigend und erhebend vielleicht auch."

    Gemeinsam reden wir Väter uns mit den Söhnen in Aufbruchstimmung, als gelte es, einer Schlechtwetterfront zu trotzen. Der Kaiserschmarrn der Wirtin schmeckt herrlich. Und alle Berggäste freuen sich, der Hektik des Tales für ein Wochenende entflohen zu sein. Es fällt schwer, im Matratzenlager schnell Schlaf zu finden. Noch dazu, wenn der Wind ums Haus heult.
    Das massive Steinhaus gerät in Schwingung: Mauerwerk, Matratze und Mensch bewegen sich - wie bei einem kleinen Erdbeben. Endlich: Der Morgen kommt, und das Haus steht noch. Die Sonne ist jedoch weg, und ein Regenguss bereitet uns Stirnfalten.
    Eine halbe Stunde steigen wir von Norden her dem Watzmanngrad entgegen. Aufs Hocheck, dem nördlichsten Watzmanngipfel mit 2653 Meter, sollte es heute schon gehen, Regen hin oder her. Auf 2200 Metern: Schneefall am 23. August. Hatte der Hüttenwirt nicht gestern Abend noch von Klimaerwärmung gesprochen?
    "Man kann es da heroben extrem beobachten, finde ich. Die Baumgrenze wandert nach oben. Pflanzen, die du vorher 200 bis 300 Meter weiter unten gesehen hast, haben wir mittlerweile hier oben. Und noch ein Stückel weiter oben Heidelbeeren und andere Sachen, die es früher hier oben nicht gegeben hat. Schon oberhalb der Baumgrenze, aber früher - wenn überhaupt - auf sonnigen Flecken südseitig. Und jetzt haben wir sie auf der Nordseite bis auf Zwo-Zwo rauf!"

    Je weiter wir steigen, desto mehr Schneeflocken bleiben auf dem steilen Gelände liegen. Von den Heidelbeeren im Eis keine Spur! Ab und zu gucken wir an der weiß bestäubten Felsflanke hinunter und entdecken das hessische Vater-Sohn-Gespann. Wir sind keineswegs die einzigen heute am Berg. Ganz anders in den Kindertagen des Alpinismus - einer Zeit der Einzelgänger.

    Vor gut 200 Jahren stieg zum ersten Mal ein Bergbegeisterter - der slowenische Theologiestudent Valentin Stanic - dem Watzmann aufs Haupt - irgendwann im Sommer 1799. Seine Mahnung, die ich in einem alten Bergbuch fand, geht mir durch den Kopf.

    Oft brauchte es beinahe übermenschlichen Muthes, um nicht ein Raub der Zagheit zu werden, denn meistens musste ich auf allen vieren dahin kriechen, wo links und rechts verderbender Abgrund war. In den einzigen Punkt, wo man ist, muss man voll konzentriert sein. Keiner, auch nicht der frommste Gedanke darf stattfinden, sondern jeder Tritt, jeder Finger muss streng dirigiert werden.

    Je weiter wir nach oben kommen, desto dichter werden Wolken und Schneefall. Höchstens dreißig Meter Sicht. Zum Glück zeigt sich ein goldfarbenes Kruzifix, das Gipfelkreuz des Hochecks - Watzmann-"Stufe Eins" - geschafft. Ich könnte in die Hände klatschen - und tue es auch: Unsere Finger sind vom dichten Schneefall klamm gefroren. Wir Deppen haben die Handschuhe im Tal gelassen. Zwanzig Meter hinter dem Gipfel schmiegt sich ein rechteckiger Holzkasten, der ein türähn-liches Rechteck besitzt, an den Fels. Es lässt sich öffnen. Wir treten ein. Eingegraben in ihrem Schlafsack sitzen uns die beiden Dresdner gegenüber:
    "Wir sind in einer etwa Acht-Quadratmeter-Hütte auf dem Hocheck, eigentlich ganz gemütlich, wenn wir nicht so durchnässt wären. Unsere Dresdner Kollegen haben es richtig gemacht. Die haben schöne warme Schlafsäcke dabei. Draußen fünf Zentimeter Neuschnee, Tendenz steigend, schöne Winterlandschaft, wir werden gleich den Rückweg antreten."

    "Wir hatten eigentlich vor, die Querung zu machen, komplett die Mittelspitze und die Südspitze, müssen aber momentan erst mal unterbrechen in dieser schönen Hütte - und warten auf besseres Wetter?"

    Warten auf Besserung? Es ist erst halb elf. Während die beiden Dresdner ihr Kartenspiel auspacken und sich auf einen langen Tag plus Bergnacht in dem unbeheizten Raum einrichten, stapfen wir frierend, und im Steilgelände auf allen vieren, nach unten.
    Die Watzmannhütte hat uns nach eineinhalb Stunden wieder. Auch das hessische, wie das sächsische Vater-Sohn-Duo haben sich nicht weiter auf den schneeglatten Fels vorgewagt, sondern am Hocheckgipfel kehrt gemacht. Allen ist der Nordgipfelerfolg gelungen - wir prosten uns zu. Am Nebentisch hören wir von einem Berliner, was bei schönem Wetter alles möglich wäre.
    "Da kann man sehr viel unternehmen, indem man nicht nur die Modetouren auf den großen Watzmann unternimmt, sondern indem man absteigt ins Kar und die Kinder besteigt oder auch den kleinen Watzmann geht. Und die größte Herausforderung, auch von der Länge her, ist die große Ostwand. Es kommt ja hinzu, dass die Watzmann-Ostwand den Nimbus der gefährlichen Wand hat, mit nahezu 100 Toten. Es gibt Einheimische, die sagen der Watzmann sei kein besonders schöner Berg und es gäbe schönere Berge, da mögen sie Recht haben, mir ist er ans Herz gewachsen. Ich liebe das vierte Kind, das allerdings sehr brüchig ist, wo man jeden zweiten Griff in der Hand hat. Ansonsten ist es halt die Aussicht, vom vierten und auch vom dritten Kind, wo man am Gipfelkreuz lehnend die Beine ins Eisbachtal baumeln lassen kann und auch einen Schwindel-erregenden Blick und einen besonderen Blick auf die Watzmann-Ostwand hat bei klarem Wetter - und noch teilweise auf den Königssee."

    Der Mann vom Wannsee - mit seiner hochalpinen Erfahrung - mag ja Recht haben. Aber Hüttenwirt Bruno auch. Er bringt uns wieder auf den Boden der Realität. Denn was wir erleben, ist ein ganz normaler Bergsommer - mit Sonne, Regen und Schnee.
    "Die größte Unvernunft, das erleben wir recht oft, da wird ein Bergwochenende im Frühjahr geplant, da wird das ganze oft versucht, mit Gewalt durchzuziehen, das hat am Berg nichts verloren. Genau an so Tagen, wo das Wetter nicht mitspielt für eine Überschreitung oder den Gipfel - da passieren die Unfälle. Wie sie hoffen bis zuletzt, also bis zum Frühstück, dass der Wetterbericht doch nicht stimmt und die Sonne scheint, weil sie da sind - und gehen bedröppelt heim. Es gibt nur ganz wenige, und ich verstehe das überhaupt nicht, die sich einen gemütlichen Tag machen."
    Also strecken wir unsere müden Beine auf der Terrasse aus und genießen das Panorama. Der Watzmann reagiert auf Zwang und Ungeduld mit kalter Schulter. Selbst als wir mittags im Sonnenschein ins Tal absteigen, leuchtet auf seinem Gipfel immer noch der Schnee. Doch wir kommen wieder!