Archiv


Wibke Bruhns: Meines Vaters Land. Geschichten einer deutschen Familie

Am 26. August 1944 wurde der Wehrmachtsoffizier Hans Georg Klamroth hingerichtet, der Volksgerichtshof hatte ihn wegen Hoch- und Landesverrats verurteilt im Zusammenhang mit dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli. Klamroth war selbst den Nazis durchaus zugetan gewesen, ein Deutschnationaler aus sog. guter Familie. Seine Tochter Wibke Bruhns, Jahrgang 1938, Fernsehjournalistin und Sternreporterin, hat sich auf Recherche in die Vergangenheit der Familie begeben und versucht herauszufinden, wer ihr Vater war, den sie nur als Kleinkind noch erlebt hatte. Herausgekommen ist ein Buch, das als Geschichte einer deutschen Familie angekündigt wird.

Von Hermann Theißen | 06.04.2004
    Eine Tochter begibt sich nach 35 Jahren auf die Suche nach ihrem verlorenen Vater. Er starb vor 35 Jahren, als sie sechs war, am Fleischerhaken in Plötzensee. Verurteilt im Umfeld des 20. Juli wegen Hoch- und Landesverrats. Ein Schicksal, für das man in der frühen Bundesrepublik allerlei Verwendung fand, tauglich für Heldengeschichten vom "Aufstand des Gewissens", aber auch für Diskreditierung über den Tod hinaus, bei der Hitlertreue Offiziere allen Ernstes den Führereid als moralische Verpflichtung ins Feld führten. Bei den Klamroths in Halberstadt nichts davon: Die Mutter hat über das Schicksal des Vaters geschwiegen, die Tochter nie gefragt.

    Ich hielt ihn mir vom Hals. Ich wollte nichts über ihn wissen.

    Doch dann kommt Wibke Bruhns 1979 von einer Reise nach Jerusalem zurück, wo sie fortan für den stern als Korrespondentin arbeiten wird. Sie schaut sich eine alte Dokumentation über den 20. Juli an und hat plötzlich den damals 45-jährigen Vater vor Augen, wie er "kerzengerade, elend in einem zu großen Anzug" vor dem Volksgerichtshof steht und stumm das Gekeife Roland Freislers über sich ergehen lässt. Elf Tage später wird er tot sein, weiß sie, und dass sie mit der "diffusen Familienübereinkunft des Nicht-Redens" brechen wird.

    Ich will dich nicht über Umwege. Ich will dich. Ich bin dein Kind. In dieser Nacht der Rückkehr aus Jerusalem habe ich mir versprochen: Ich kümmere mich um dich.

    Eine Tochter sucht ihren Vater. Zwar ist Hans Georg Klamroth in den Annalen des Widerstands verzeichnet, und auch auf Gedenktafeln wird seiner gedacht, doch jenseits der Legenden findet die Tochter flammende Begeisterung für den Hitlerismus, stößt sie auf eine großbürgerliche Familientradition, in der die Zurichtung für den Nationalsozialismus bereits betrieben wurde, bevor der sein Programm und seine Partei gefunden hatte. "Haben die alle den Verstand verloren", entfährt es der Autorin immer wieder, etwa wenn sie davon berichtet, dass die Klamroths bereits 1933, also zwei Jahre vor den Nürnberger Gesetzen, einstimmig und ohne Aussprache einen Arierparagraphen in ihre Familiensatzung aufnahmen.

    Hitler ist gerade vier Monate im Amt, und wenn auch die Nazis ein atemberaubendes Tempo vorlegen, kann man nicht erst mal abwarten, ehe man sich zu deren Handlanger macht ohne Not? Großer Gott, ich dachte, ich hätte meinen Ekel und meinen Zorn verbraucht in all den Jahren, mein Entsetzen über die Gleichgültigkeit.

    Solch familiäre Konfrontation blieb bis in die siebziger Jahre die Ausnahme. Die Rebellion gegen die Generation der Nationalsozialisten und Kriegsteilnehmer basierte auf einem Generalverdacht gegen die Eltern. Vor der konkreten Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater oder der eigenen Mutter stand das "Prinzip der kommunikativen Beschweigsamkeit".

    Autoren, die mit diesem Prinzip brachen, haben - wie Bernward Vesper in "Die Reise" oder Christoph Meckel in "Suchbild" - ihre Familiengeschichte zur gnadenlosen Abrechnung mit den Eltern verdichtet. Heute dagegen dominiert eine Haltung, die nach dem Motto "Opa war kein Nazi" Mustern folgt, die Sigmund Freud in seiner Studie "Der Familienroman des Neurotikers" beschrieben hat. Wibke Bruhns entgeht solch einfachen Lösungen. Sie sucht ihr Verhältnis zur deutschen Vergangenheit und die Versöhnung mit dem Vater. Und sie weiß, dass sie beides nur findet, wenn sie die ganze Geschichte erzählt.

    Verstehen will ich, wie entstanden ist, was meine, die Generation der Nachgeborenen, so beschädigt hat. Dazu muss ich zurück in die Geschichte derer, die meine Geschichte geschrieben haben, zurück zu den Altvorderen in der Familie. Ich muss nach Halberstadt.

    Dort beginnt 1790 die Aufstiegsgeschichte der Klamroths mit der Gründung einer "Material- und Viktualienhandlung". Der Sohn des Firmengründers diversifiziert den Betrieb, tritt in das Geschäft mit Saatgut, landwirtschaftlichen Geräten und Düngemittel ein und betreibt ein florierendes Leihhaus. Die Klamroths gehören fortan zu den Honoratioren im Ort, betätigen sich als Mäzene und sind stolz auf ihr Familienwappen. 1896 tritt Kurt Klamroth, der Großvater der Autorin, als Juniorpartner in den Familienbetrieb ein. Ein emsiger junger Mann, den ein Bedürfnis "nach tätiger Zugehörigkeit zur kaiserlich-wilhelminischen Gesellschaft" antreibt.

    Kurt ist der erste Klamroth, der gedient hat, und wenn ich mir früher die albernen Fotos des Großvaters in seiner weißen Galauniform ansah, die schnörkelig handgeschriebenen, mit königlich-preußischen Siegeln verzierten "Besitzzeugnisse" für seine vielen Auszeichnungen, dann habe ich immer gedacht, der hatte einen Knall.

    Hans Georg - Wibke Bruhns sucht Distanz und nennt den Vater immer nur HG - Hans Georg Klamroth wird 1898 geboren. Ein eher ängstliches Kind. "Heulsuse, Feigling und Angeber", nennt ihn die Mutter und hält im Kindertagebuch fest, er sei "eine feige Memme." Dagegen hilft militärischer Drill. Hans Georg ist erst zwei, da lässt ihn der Vater bereits im Garten mit Gewehr und Fahne exerzieren, mit neun stecken die Eltern ihn und den jüngeren Bruder zu Weihnachten in Kürassier- und Ulanenuniformen. Die Lektüre "zersetzender" Schriftsteller wie Heinrich Heine und Gerhard Hauptmann ist verpönt. Eine nahezu täglich verabreichte Tracht Prügel rundet das wilhelminische Erziehungsprogramm ab. Das Ergebnis ist im Ersten Weltkrieg zu besichtigen. Hans Georg kann es kaum abwarten, dem Vater an die Front zu folgen. Mit Ach und Krach schafft er das Notabitur und - das ist ihm und der Familie wichtiger - wird Fahnenjunker, später Fähnrich der Kavallerie. Es dauert allerdings bis 1918, ehe er mit dem ersten Abschuss prahlen kann. Einen russischen Offizier hat er erlegt, und der Brief an die Eltern ist reiner Triumphgesang. Nach dem Frieden von Brest- Litowsk jagt Hans Georg mit seiner Einheit russische Soldaten im Baltikum.

    Genügend Stricke haben wir auch schon bereit, denn von diesen Friedensbrechern, den Judenlümmeln der Roten Garde, wird jeder aufgebaumelt, der das Glück hat, uns in die Hände zu fallen.

    Wer so konditioniert ist, kann nicht heimisch werden in der Republik von Weimar. Doch gehorsam, wie er nun mal ist, absolviert Hans Georg das zivile Ausbildungsprogramm, das der Vater ihm vorschreibt, wird dessen Juniorchef, heiratet die Tochter eines wohlhabenden Unternehmers, zeugt fünf Kinder und - entpuppt sich als Schürzenjäger. Die Revolution verachtet er, findet alles in Ordnung, "was die Sozis schwächt", und begeistert sich an der Ernennung Hindenburgs zum Reichspräsidenten. Von den Nazis hält er sich allerdings fern. Bis 1933, dann ist kein Halten mehr. Im April tritt er der NSDAP bei, wenig später der SS. Auch fürs Geschäft war dieses Bekenntnis zur neuen Zeit nicht schlecht, befindet die Tochter.

    Doch ich denke, der hat nicht seine Seele verkauft um eines praktischen Vorteils willen. Der hat denen seine Seele gerne gegeben, fürchte ich. Er holt nach, was seit 1918 unterbrochen war. "Drei Hurras für Kaiser und Vaterland", die Kriegsspiele (...) und jetzt die "große nationale Erhebung" liegen auf einer Linie.

    Und auf dieser Linie bleiben die Klamroths. Bald leitet die Mutter die Ortsgruppe der NS-Frauenschaft, die älteren Kinder werden ermuntert, beim BdM und in der Hitlerjugend Führungsaufgaben zu übernehmen, der Vater lässt sich sogar vorübergehend ein Hitlerbärtchen wachsen, und am Abend sitzen alle zusammen und schmettern die Lieder der Bewegung. Eine nationalsozialistische Musterfamilie, wie sie im Buche steht. Natürlich ist Hans Georg 1939 dabei, wenn die Wehrmacht Polen überfällt. Nach Hause schreibt er, alles sei "in prima Ordnung".

    Der Pollack läuft wie dumm vor uns her, hat keine Artillerie und keine Flieger. Verluste bei uns gering, unsere Flieger und Panzer sind großartig - alles brennt vor uns, nachts ein schaurig imposanter Anblick."

    Ab 1940 dient Hans Georg Klamroth der deutschen Abwehr in Dänemark. Im Februar 1942 lässt er sich an die Ostfront versetzen und ist dort am mörderischen Geschäft der Partisanenbekämpfung beteiligt, bis er im März 1943 als Abwehroffizier nach Berlin zurückbeordert wird. Wibke Bruhns findet keinen Hinweis, dass er wegen der Kriegsverbrechen in Russland oder seiner Inspektionen im "Mittelbau Dora", wo Tausende von Häftlingen in den Tod durch Arbeit getrieben werden, auf Distanz zum Regime gegangen wäre. Wahrscheinlicher ist, dass auch Hans Georg Klamroth nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad die militärisch aussichtslose Lage erkennt und dies ihn veranlasst, seine "politischen Koordinaten" zu überprüfen.

    Wann hat er verstanden, in welchem Strudel er sich befand? Wann ist Hans Georgs Bewusstsein für das entsetzliche Unrecht dieses Dritten Reiches entstanden, wenn überhaupt?

    Diese selbst gestellten Fragen kann auch die Autorin nicht beantworten. Fest steht lediglich, dass Hans Georg Klamroth spätestens seit dem 10. Juli 1944 von der Verschwörung, an der auch sein Schwiegersohn Bernhard Klamroth beteiligt war, gewusst hat, die Verschwörer aber nicht verraten hat. Wibke Bruhns konnte bei ihrer Vatersuche auf ein umfangreiches Familienarchiv zurückgreifen. Die Klamroths haben gerne und oft Briefe geschrieben, unablässig für sich und die jeweiligen Kinder Tagebuch geführt, akribisch festgehalten, was sie erlebt, verschenkt, gegessen oder gesungen haben. Bedeutsames ist da neben Banalem dokumentiert, zeit- oder familiengeschichtlich Aufschlussreiches neben Geschwätzigem. In "Meines Vaters Land" setzt die Autorin diese Familienmanie fort. Sie breitet ausführlich die vielen Affären ihres Vaters aus, zitiert aus Speisekarten von Familienfesten, wartet mit unerheblichen Details von Taufen, Hochzeiten oder Weihnachtsfeiern auf. Vor allem aber rückt sie sich selber auch dann noch mit ihren Kommentaren in den Vordergrund, wenn das präsentierte Material für sich selber spricht. Das verkommt mitunter zur Attitüde. Dennoch ist dieses Buch ein bedeutsames und aufschlussreiches Werk, macht es doch am Beispiel einer angesehenen Kaufmannsfamilie anschaulich, was die These von der Kontinuität in der deutschen Geschichte nur abstrakt darstellt. In dieser Perspektive ist Hans Georg Klamroths Verstrickung in den Widerstand eine - wenn auch tragische - vor allem aber rätselhafte Episode.
    Meines Vaters Land von Wibke Bruhns. Das im Econ Verlag erschienene Buch hat 395 Seiten für 22 Euro.