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Wider das Kleinbürger- und Spießertum

Sie lehnten alles, wofür die DDR und ihre offizielle Kultur stand, aus Prinzip ab: FDJ und Schule, den staatlichen Antifaschismus, die offizielle Popmusik. In 50 faszinierenden Geschichten erzählen Ulrich Jadke, Holm Kirsten, Jörn Luther und Thomas Onißeit in "Macht aus dem Staat Gurkensalat" von einer DDR, die kein uniform-graues Land war.

Von Uli Hufen | 30.12.2011
    Weimar ist berühmt für Dichter und Denker, Goethe und Nietzsche. Aber auch wegen der Musiker, die hier gelebt haben. Bach und Liszt zum Beispiel. All das interessierte mich auch mit 18 oder 19, Ende der 80er-Jahre. Aber die coolsten Texte und die coolste Musik, die in Weimar 1988 und 89 zu hören waren, klangen so:

    "Einspielung: Timur und sein Trupp "Kamtschatka"."

    Die Band hieß "Timur und sein Trupp" - nach dem gleichnamigen sowjetischen Kinderbuchklassiker - und hatte naturgemäß keine offizielle Auftrittsgenehmigung. Das selbst produzierte Tape wurde von Hand zu Hand gereicht, die wenigen Konzerte, die "Timur und sein Trupp" zu Lebzeiten der DDR gaben, fanden im Halbschatten der Legalität statt. Was die Sache natürlich besser und die Band cooler machte. Die beiden Sänger hießen Holm Kirsten und Jörn Luther, waren drei, vier Jahre älter als ich und Bekannte von Bekannten. Teil der Weimarer Bohemeszene aus Punks, Künstlern, Bergsteigern, Studenten, Musikern, Nichtstuern und Stasi-Spitzeln. Die eine Hälfte dieser Leute hatte Ausreiseanträge laufen, die andere dachte darüber nach. Jeder hatte Freunde oder Bekannte, die schon im Westen lebten. Zu denen, die 1988 schon im Westen waren, und deren Namen schon allein deshalb einen guten Klang hatten, gehörten zwei alte Freunde von Kirsten und Luther: Uli Jadke und Thomas Onißeit. Gemeinsam haben die vier jetzt ein faszierendes Buch geschrieben über ihre Jugend, über Weimar und über die späte DDR: "Macht aus diesem Staat Gurkensalat. Eine andere Jugend, Weimar 1979-1989."

    Die andere Jugend von Kirsten, Luther, Onißeit und Jadke war eine Jugend, die alles, wofür die DDR, ihre offizielle Kultur und die älteren Generationen standen, aus Prinzip ablehnte: FDJ und Schule, die gängigen Lebensentwürfe der Kleinbürger und Spießer - womit praktisch die gesamte Bevölkerung gemeint war -, den staatlichen Antifaschismus, die offizielle Popmusik, alles. Auch das aus ihrer Sicht öde Provinzkaff Weimar. Durchdachte Begründungen waren dafür nicht nötig, das alles verstand sich von selbst. Mir ging das ähnlich. Es war eher eine Bauch- als eine Kopfsache, wir alle waren jung und zogen es vor, zumindest radikal zu denken. Die DDR war verlogen und langweilig, fertig. Was man aus solchen weitverbreiteten Überzeugungen machte, war eine ganz andere, individuellere Sache. Zum Handeln gehört mehr Mut als zum Denken.
    Jadke, Onißeit, Kirsten und Luther verehrten Dada, Punk und die Surrealisten, schnitten abends westliche Musiksendungen im Radio mit, zogen auf der Suche nach Ablenkung und Unterhaltung durch die Kneipen, Cafés und Studentenclubs der Stadt und tranken alles was Alkohol enthielt. Brave Bürger, Eltern und Lehrer provozierten sie mit schwarzgefärbten Militärklamotten, faschistoiden Seitenscheiteln und Sicherheitsnadeln. Sie drehten Super-8-Filme, veranstalteten Kunsthappenings und träumten davon, Stinkbomben in Intershops zu werfen und die Türschlösser beim Wehrkreiskommando mit Kleber zuzuschmieren.

    Richtig berühmt waren die Vier in Weimar deshalb, weil sie 1983, mit 17, 18 Jahren den Sprung vom Träumen zum Handeln gewagt hatten. Im Oktober 1983, kurz vor dem Tag der Republik, dem Nationalfeiertag der DDR, zogen die Vier mehrmals nachts durchs schlafende Weimar und hinterließen an den schönsten Mauern der Stadt Graffitis. Die Idee und diverse Slogans kamen aus einem Bericht des Schweizer Schriftstellers Reto Hänny über Jugendproteste in Zürich.

    Wir waren durch Lektüre gewappnet, wir hatten nicht nur Hänny gelesen, wir hatten Dada in uns aufgesogen, uns durch die Werke der frühen Anarchisten gequält und durch den ganzen literarischen Mist diverser linker Kleinverlage aus der Bundesrepublik, die ihr Programm auf Grund des politischen Gleichklangs mit den DDR-Staatssozialisten auf der Leipziger Buchmesse ausstellen durften, wo wir uns hemmungslos bedienten. Nachts, vor den verfallenden Hausfassaden der Weimarer Innenstadt, entschieden wir uns dann spontan. Schlagt zurück! - Na klar, wir waren gerade dabei. Wehr dich! - Das lag uns ebenso am Herzen und nun hatten wir damit begonnen. Alle Macht der Phantasie! - Wir lebten ohne Zweifel im fantasielosesten Land der Welt. Diese und viele andere Parolen fanden ihren Weg an die Hauswände. Geradezu rauschhaft hielten wir nach geeigneten Flächen Ausschau. Einer stand immer Schmiere, während die anderen sprühten. Jörn hat das Statement unserer jugendlichen Überheblichkeit gesprüht, stellvertretend für uns alle an die Adresse der Stasi gerichtet: Das kriegt Ihr nie raus, wer das war!

    "SS20 - Nein Danke!", "Schwertfische zu Flugscharen", "Fuck for Peace", "Pitti lebt!" und natürlich: "Macht aus diesem Staat Gurkensalat" - Es war eine famose Mischung aus Schwachsinn, Politik und Rüpelei, die die vier und zwei weitere Freunde an die Weimarer Wände krakelten. Weil die DDR aber ein humorloser Staat mit humorlosen Straforganen war, fanden sich die jugendlichen Übeltäter bald in Untersuchungshaft wieder. Nicht wegen staatsfeindlicher Aktivitäten, sondern wegen Rowdytum. Onißeit wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, Jadke und Kirsten zu fünf. Luther kam mit zwei Monaten U-Haft und einem Jahr auf Bewährung davon. Politische Häftlinge mochte man aus den Rabauken nicht machen, aber Strafe sollte sein. Mit dem unterschiedlichen Strafmaß versuchte die Stasi, Misstrauen zwischen den Freunden zu säen.

    Auf dem Cover von "Macht aus diesem Staat Gurkensalat" prangen die Fotos, die sich die Polizeimaschine nach der Verhaftung von den vier jungen Männern machte. Die Fotos sind ein Blickfang, sie sind eine Anklage gegen einen Polizeistaat. Und sie behaupten, dass die Haftmonate Ende 1983, Anfang 1984 der Dreh- und Angelpunkt im Leben der vier Autoren waren. Das allerdings könnte in die Irre führen. Die Haft war ein Schock - ohne Frage. Aber das Untersuchungsgefängnis in Erfurt war nicht Bautzen und die größten Qualen bestanden, nach allem, was man liest, in schlechtem Essen, Langeweile und nervigen Zellennachbarn mit strengem Geruch. In jedem amerikanischen Krimi werden Häftlinge brutaler behandelt. Ich erwähne das nicht, um die DDR zu rechtfertigen. Ich erwähne das, weil das größte Problem der späten DDR nicht darin bestand, dass sie ein erbarmungsloser Polizeistaat war. Das Problem der späten DDR bestand darin, dass sie ein dämliches Land war, das von dämlichen Leuten auf dämliche Weise regiert und kontrolliert wurde. Zuweilen brutal, aber vor allen Dingen und immer wieder: dämlich. Darum, vor allen Dingen darum, war die zentrale Forderung von Jadke, Onißeit, Luther und Kirsten goldrichtig: "Macht aus diesem Staat Gurkenstaat."

    Die andere, vielleicht wichtigere, weil nach wie vor weniger bekannte Lehre, die der aufmerksame Leser aus dem Buch ziehen kann, ist folgende: In der späten DDR lebten viele interessante Leute, die sich unabhängig vom System und ohne besondere Angst vor dem System mit interessanten Dingen beschäftigten. Die jüngst erschienenen Bücher über illegale Reisen junger Ostdeutscher kreuz und quer durch die Sowjetunion zeigen das, "Macht aus diesem Staat Gurkensalat" zeigt das auch. Die DDR, aus der all diese Leute kamen, war kein uniform-graues Land.

    Zum Schluss eine Frage, die sich mit wachsender Dringlichkeit stellt, je länger man in den 50 kurzen Erzählungen liest, aus denen "Macht aus diesem Staat Gurkensalat" besteht, und je klarer wird, wie viel die vier Autoren gemein hatten mit gleichaltrigen Rabauken, die zur selben Zeit in Düsseldorf, Zürich und Kreuzberg lebten und mit ganz ähnlichem Hass auf ihre Stadt, ihr Land und ihre Gesellschaft blickten. Derselbe Lebenshunger, dieselbe nervöse Intelligenz, dieselbe Freude an Drogen und Punkrock, Provokation und Rebellion, Lärm und Unordnung. Den Unterschied, natürlich, machte die Stasi, den Unterschied machte die Härte der Strafe. Der Staat, der diese sinnlos harten Strafen verhängte, war ein schlechter Staat. Aber lag darin, bei allem Schmerz, nicht vielleicht doch auch etwas Gutes, ein Vorteil? Ganz im Sinne der russischen Dichterin Anna Achmatowa? Als der zukünftige Nobelpreisträger Joseph Brodsky 1962 wegen Nichtstuerei verhaftet wurde und für einige Monate ins Arbeitslager musste, sagte Anna Achmatowa: "Jetzt machen sie unserem Rothaarigen eine Biografie!" Boris Taigin, der Brodsky in den 60er-Jahren im Untergrund verlegte und selbst gesessen hatte, sagte es kurz vor Ende seines Lebens so: "Damals war das Leben interessanter, es gab mehr Verbote!" Uli Jadke, Thomas Onißeit, Holm Kirsten und Jörn Luther sagen das so explizit nicht. Aber irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass sie ihre Jugend im Weimar der 80er-Jahre nicht würden tauschen wollen gegen eine andere in Münster oder Stuttgart. Ich kann das verstehen.

    Ulrich Jadke, Holm Kirsten, Jörn Luther, Thomas Onißeit: Macht aus dem Staat Gurkensalat. Eine andere Jugend. Weimar 1979 – 1989. Hrsg., bearbeitet und mit einem Vorwort versehen von Rüdiger Haufe. Verlag Wolf Jobst Siedler jr., 2011, 19,95 Euro