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Wider das Synchronisieren

Eine universale Verkehrssprache ist eine wünschenswerte Sache. Leider geht das nicht ohne den Bedeutungsverlust aller anderen Sprachen. Dieses Gerechtigkeitsproblem verhandelt der Wirtschaftsphilosoph Philippe Van Parijs ausführlich – um am Ende für Englisch als Lingua franca zu werben.

Von Mirko Smiljanic |
    Philippe Van Parijs kennt sprachliche Vielfalt aus seinem Alltag. Der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph lehrt ökonomische und soziale Ethik an der französischsprachigen Katholischen Universität im belgischen Louvain, arbeitet als Gastprofessor an der amerikanischen Harvard-Universität und pflegt als Intellektueller Kontakte in alle Welt. Beim Abendbrot, wenn er denn mal zu Hause in Belgien ist, herrscht babylonisches Sprachengewirr.

    "Zu Hause spreche ich immer Englisch mit meiner Frau, immer Niederländisch mit meinen zwei größeren Kindern und Französisch mit meinen zwei anderen Kindern, und Französisch ist auch die Sprache, die meine Kinder miteinander sprechen. Es ist noch komplizierter, weil wir auch ein Jahr in Italien gewohnt haben, und meine vier Kinder sprechen auch Italienisch, sie waren da in einer italienischen Schule."

    Spanisch komme auch nicht zu kurz, erzählte Philippe Van Parijs in einer vom Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlten Diskussionsrunde, seine älteste Tochter sei mit einem Mexikaner verheiratet. Da ist es verständlich, wenn Van Parijs sich eine von allen genutzte Verkehrssprache wünscht, eine Lingua franca. Nun zeigt schon ein oberflächlicher Blick, dass sie mit dem Englischen längst existiert. Deutsch ist in Europa zwar die häufigste Muttersprache; doch die Zahl derer, die Englisch "gut oder sehr gut" beherrschen, ist mehr als doppelt so hoch. Tendenz: dramatisch steigend! Das findet Philippe Van Parijs grundsätzlich gut, weil eine gemeinsam Sprache Voraussetzung ist für Verständnis und Verständigung. Aber: Die Dominanz einer Sprache führt automatisch dazu, dass alle anderen Sprachen an Bedeutung verlieren. Dieses Gerechtigkeitsproblem stellt Van Parijs in den Mittelpunkt seines Buches. Kein feuilletonistisches Geplauder, sondern wissenschaftlich fundiert arbeitet er in sechs Kapiteln inklusive teilweise langer Fußnoten die Vorteile der Lingua franca "Englisch" heraus. Da ist zunächst einmal die Frage nach der politischen Dimension einer Sprache.

    "Eine Sprache ist eine zentrale Komponente einer Kultur und darum auch einer Nation, eines Volkes, eines Ethnos in einem nicht rationalen Sinn."

    Schweden identifizieren sich über die schwedische Sprache mit ihrer Nation, Deutsche über die deutsche – wobei es da aber schon fragwürdig wird: Anfang des 19. Jahrhunderts war Deutschland da, wo deutsch gesprochen wurde, heute ist dieser Schluss falsch. Die ethnische Dimension einer Sprache steht für Van Parijs aber ohnehin nicht im Mittelpunkt, weit wichtiger ist ihre zweite Funktion.

    "Sprache ist wichtig für ein Volk als Demos, als politische Gemeinschaft, politische Gemeinschaft muss ein Ort sein, an dem man debattieren kann, Argumente formulieren, Argumente hören, Argumente widerlegen, und das kann man natürlich nur, wenn man einander versteht."

    Philippe Van Parijs sorgt sich in gewisser Hinsicht um die Zukunft Europas. Nur wenn seine Bürger aktiv in politische Prozesse eingreifen können, könne sich der Wert eines gemeinsamen Europas herausbilden. Dieses Argument hat seine Berechtigung, erleben wir doch zurzeit, dass Europas Bürger Brüssel und Straßburg eher ablehnend gegenüber stehen inklusive einer starken Tendenz zum sprachlichen Separatismus. Gesamteuropäisch wäre es also sinnvoll und gerecht, wenn möglichst alle Bürger Englisch verstünden und sprächen. Wie aber kann man das erreichen? Natürlich, indem Englisch an Schulen und Universitäten Pflichtfach wird, aber auch mit flankierenden Maßnahmen, etwa einem generellen Verbot, englischsprachige Filme zu synchronisieren.

    "Das Synchronisationsverbot würde sicherstellen, dass die originale Tonspur hörbar bleibt und somit die Möglichkeit der Überprüfung besteht, ob Passagen – mit oder ohne Absicht – in der Übersetzung weggelassen oder verdreht wurden. … Sinn und Zweck der vorgeschlagenen Maßnahme ist es, weiten Teilen der Bevölkerung dazu zu verhelfen, dass sie sich besser in einer Sprache ausdrücken können, in der sich verständigen zu können immer entscheidender für sie wird. Jeder Versuch, den Vorschlag im Hinblick auf die Meinungsfreiheit zu inkriminieren, kann daher getrost beiseitegeschoben werden."

    Und weil das Einschwören eines heterogenen 500-Millionen-Einwohner zählenden Kontinents auf eine gemeinsame Verkehrssprache hohe Kosten verursacht, beschäftigt sich Van Parijs auf vielen Seiten mit der Frage, wer das alles bezahlen soll. Sein – sehr europäischer – Vorschlag: Wir brauchen eine Sprachensteuer, einen Soli, der von den englischsprachigen Ländern an den Rest Europas fließt.

    "Ein Land wie das Vereinigte Königreich kann sich zweifellos darauf einstellen, einen jährlich Beitrag von 500 Euro pro Kopf zahlen zu müssen. Dieser Beitrag wird im Laufe der Zeit steigen oder sinken, je nachdem wie schnell das gesamte Lernvolumen relativ zur vorhersehbaren Abnahme seiner Pro-Kopf-Kosten wächst."

    Es sind solche Vorschläge, mit denen Van Parijs das wichtige Thema der europäischen Sprachenpolitik ins Reich der Utopien und Visionen driften lässt. Mal abgesehen von den kultur-philosophischen Argumenten gegen Englisch als Lingua franca: dass der kulturelle und ökonomische Vorsprung Europas im Vergleich zu anderen Weltregionen auch auf seine Sprachenvielfalt zurückgeführt werden kann; dass Sprachen keineswegs nur schlichte Kommunikationsinstrumente sind, sondern individuelle Zugänge zu unterschiedlichen Weltansichten bieten; dass die Dominanz des Englischen vergleichbar wäre mit einer Rückkehr ins Mittelalter: oben wird Latein gesprochen, unten die Volkssprachen; oben Englisch, unten regionale Sprachen, die aber in der Wertigkeit abfallen.

    Man muss nicht mit allen Ideen Philippe Van Parijs‘ einverstanden sein, lesenswert ist sein Buch aber allemal. Es ist ein origineller, quergedachter Beitrag in einer Debatte über Europas Zukunft. In letzter Konsequenz geht es um die Frage, wie Englisch und regionale Sprachen gleichwertig nebeneinander stehen können.

    Philippe Van Parijs: "Sprachengerechtigkeit - für Europa und die Welt."
    Suhrkamp Verlag, 445 Seiten, 34,95 Euro
    ISBN: 978-3-518-58595-5