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Wider die Sexualisierung der Gesellschaft

Die Thesen der jungen Journalistin Myrthe Hilkens haben in den Niederlanden Wellen geschlagen. Ihr Buch "McSex – De Pornoficatie Van onze Samenleving", auf deutsch: "Die Pornofizierung unserer Gesellschaft" versteht sich als Gegenthese zu einer mediendominierten Welt, in der es immer weniger Privatheit und Intimsphäre gibt, aber immer mehr Sexualisierung und pornographische Zurschaustellung.

Von Kerstin Schweighöfer | 16.02.2009
    Sie haben so viele Freiheiten und Chancen wie keine andere Generation vor ihnen: Für die jungen Frauen, die heute heranwachsen, ist die Pille eine Selbstverständlichkeit. Sexuell können sie sich ebenso frei entfalten wie im Beruf. Und auch auf Engelmacherinnen sind sie nicht mehr angewiesen, denn es gibt die Möglichkeit, der legalen Abtreibung.
    Aber hat die sexuelle Revolution der 60er Jahre tatsächlich die ersehnte Befreiung gebracht? "Nein!" sagt die niederländische Publizistin Myrthe Hilkens:

    "Vom Korsett der Kirche, die in den prüden 50er Jahren die Moralvorstellungen prägte, haben uns unsere Mütter zwar befreit. Aber wir haben uns ein neues Korsett anlegen lassen – das der Sex- und Schönheitsindustrie."

    In ihrem ersten Buch prangert die 30-Jährige die Pornofizierung der Gesellschaft an. Mit Freiheit habe Sex nichts mehr zu tun - und mit Liebe, Treue oder Intimität schon gleich gar nicht. Für die Kinder der sexuellen Revolution sei Sex zu einem billigen Massenkonsumartikel geworden:

    "Ein pappiger Happen aus einem der vielen Fastfood-Restaurants, die allemal gleich aussehen. Es ist schnell, billig, es befriedigt kurzfristig, aber hinterher will man nur eines: schnell wieder weg."

    "Mc Sex" lautet denn auch der Titel ihres Buches, in dem sie Gespräche mit Kindern und Jugendlichen auswertet, wissenschaftliche Untersuchungen, Zeitungsberichte und persönliche Erfahrungen.

    Eindringlich beschreibt sie, wie sich Elemente aus der Pornoindustrie in unsere Alltagskultur eingeschlichen haben und wie sich die Töchter und Enkeltöchter der Feministinnen von damals zum Lustobjekt degradieren: Auf Reklamepostern für Unterwäsche sind Frauen mit Halsband zu sehen, Aerobic-Studios bieten Stangentanzen an. Junge Frauen zwängen sich in Push-up-BHs, entfernen jedes Körperhaar, und mit Hilfe der kosmetischen Chirurgie lassen sie sich sogar den Schambereich zurechtstutzen.

    In Amsterdam ist Sex für junge Mädchen ein ganz gewöhnliches Tausch-, Macht- und Zahlungsmittel geworden. Manche tun es für ein Handy, andere schon für einen Drink. In Discos und Clubs wird nicht mehr bloß getanzt, sondern auch Live-Sex auf der Bühne geboten. Und in Rotterdam kam es zu Gruppenvergewaltigungen, wobei sich weder Täter noch Opfer – die jüngsten gerade einmal 13 Jahre alt – überhaupt darüber bewusst waren, dass es um Vergewaltigung ging.

    "Sex ist nicht mehr intim und individuell. Für die heranwachsende Generation ist er etwas Kollektives geworden, das man über das Internet oder über Fotos und Filme auf dem Handy teilt."

    Das Internet ist laut Hilkens auch einer der Hauptverantwortlichen für diese Entwicklung. Porno habe dadurch ein weltweites frei zugängliches Podium bekommen. Jeder zweite niederländische Jugendliche, so ergab eine Untersuchung, hat vor seinem 18. Lebensjahr mehr als 100 Pornofilme gesehen. Jeder fünfte war jünger als 12, als er damit erstmals konfrontiert wurde.

    Verantwortlich seien aber auch Musiksender wie MTV mit aggressiven Videoclips aus der HipHop-Szene, in denen weltbekannte Rapper – umgeben von unterwürfigen, halbnackten Frauen – frauenfeindliche Texte singen und damit Millionen verdienen.

    Eine ganze Generation sei dadurch mit einem völlig realitätsfremden Bild von Frauen und Sexualität herangewachsen. Hilkens fordert deshalb die Einführung des Faches "Medienerziehung" an den Schulen. Dazu hat sie zusammen mit vier anderen Niederländern ein Manifest verfasst, das bereits von mehr als 10.000 Mitbürgern unterschrieben wurde:

    "Die Kinder, die in dieser explizit sexuellen Gesellschaft heranwachsen, brauchen entsprechende Begleitung. Wir müssen ihnen klar machen, welche kommerziellen Interessen hinter den manipulierten Bildern stehen."
    Zwar ist das Buch auf den letzten Strecken ermüdend, verbissen zieht die Autorin gegen Porno und die Unterdrückung der Frau ins Feld. Kritik blieb nicht aus. Aber mit ihrer zähen Unermüdlichkeit ist es ihr und ihren Mitstreitern gelungen, eine gesellschaftliche Diskussion auszulösen: Ausgerechnet die in vielen Ländern als zu liberal verschrienen Niederländer debattieren über Moral und die Grenzen der sexuellen Freiheit. Die niederländische "EMMA" rief zu einer neuen sexuellen Revolution auf. Das Unterrichtsministerium lässt untersuchen, welche Rolle die Medien bei der Sexualisierung der Gesellschaft spielen. Und das Gesundheitsministerium will die Jugendlichen mit einer vier Millionen Euro teuren Kampagne wehrbarer machen und vor sexuellen Zwängen schützen.

    Kerstin Schweighöfer über das Buch "Mc Sex – De Pornoficatie Van Onze Samenlevin" von Myrthe Hilkens. Es ist im L.J. Veen Verlag, Amsterdam, erschienen und kostet 17,90 €.