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Wider die Vermehrungspropaganda

Kirchenführer, Politiker, Verbandsvertreter und Medien haben sich zu einer regelrechten Fortpflanzungskampagne zusammengefunden und rufen die Deutschen auf, sich zu vermehren. Dass immer mehr Kinder bereits heute in Armut aufwachsen, dass es für sie keine Aufstiegschancen gibt, scheint dabei kaum jemanden zu interessieren. Dieser scheinheiligen und ideologisch aufgeladenen Debatte begegnet der im Januar verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich mit den Methoden der empirischen Sozialforschung und der Ideologiekritik.

Von Gabriele Gillen |
    "Danke", möchte man rufen, "Danke!", sich eine Flasche Wein unter den Arm klemmen und den Autor des Buches auf der Stelle besuchen und so augenzwinkernd mit ihm plaudern, wie er schreibt. Wir hätten einiges zu kichern beim Besprechen des Dramas, das nun seit gut fünf Jahren auf dem gesellschaftlichen Spielplan steht: genannt "die große deutsche Familiendebatte", eine Art Marienhof für die Mittelschicht. In immer neuen Folgen werden alle denkbaren existentiellen Fragen verhandelt. Die Frauen. Die Männer. Die Frauen gegen die Männer. Die Karriere gegen die Mutterschaft. Die Karriere und die Mutterschaft gegen die Hausfrauen. Die Familie. Das Aussterben der Familie. Die sinkende Geburtenrate. Der Preis der Moderne, sprich: Verantwortungslosigkeit und Vereinzelung. Und vor allem: Geburt und Tod der deutschen Mittelschicht.

    Doch leider lebt Karl Otto Hondrich nicht mehr. Im Januar ist er im Alter von 69 Jahren gestorben und hat uns allein gelassen mit dieser ominösen Debatte über ominöse Werte, über die sich immer noch niemand zu langweilen scheint, obwohl doch allmählich alle gängigen Argumente ausgetauscht sind. Erst der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher oder der so genannte Medienwissenschaftler Norbert Bolz, dann die Tagesschau-Talkshow-Blondine Eva Herrmann oder Ex-"Mona-Lisa" Maria von Welser usw., alte Männer und mittelalte Frauen, kinderarm oder kinderlos, ausnahmslos aus der Schicht der materiellen wie karrieremäßigen Profiteure der jungen Bundesrepublik beweinen plötzlich den Untergang von Familie und Solidarität - oder beschwören den drohenden Kollektivtod der Deutschen, der Nation, ach: der Zivilisation. Unter dem Stichwort Geburtenrückgang geht es wahlweise um Horden von pflegebedürftigen Alten, mangelnde Arbeitskräfte oder kollabierende Sozialsysteme, um mit späterem Unglück bestrafte Kinderlose, durch Karriereambitionen fehlgeleitete Muttertiere oder gleich den Untergang der deutschen Kultur. Die Einen befürchten das Ende von Nächstenliebe, Geborgenheit und selbstgebackenem Apfelkuchen, die Anderen ein Selbstmordattentat der gebärstreikenden Akademikerinnen auf unsere westliche Wertegemeinschaft. Denn, wir alle kennen die böse Zahl, die Reproduktionsrate der deutschen Frau liegt derzeit bei 1,3. Oder vielleicht auch 1,4. Zu niedrig jedenfalls. Denn merke:
    2,1 Kinder pro Frau,
    sonst droht der biologische Gau.

    Doch was bleibt von den alarmistischen Horrorszenarien, wenn sie einer kritischen Prüfung unterzogen werden?

    Diese Frage hat sich Karl Otto Hondrich gestellt und - um es gleich zu sagen - die gängigen Untergangsszenarien auf ökonomischer, sozialer und kultureller Ebene elegant widerlegt.

    Beispiel Geburtenrückgang: Für Hondrich ist er ganz natürlich, ein Merkmal jeder modernen, individualisierten und liberalen Gesellschaft; eine weltweite Tendenz, in welcher die Industriestaaten den aufsteigenden Entwicklungsländern nur vorangegangen sind. Niedrige Geburtenraten seien die logische Folge der niedrigen Kindersterblichkeit und der längeren Lebensdauer. Zudem: Je höher die wirtschaftliche Produktivität einer Gesellschaft, desto niedriger ihre biologische Reproduktionsrate und je mehr Möglichkeiten der freien und individuellen Entfaltung Menschen hätten, desto weniger selbstverständlich entschieden sie sich für das Kinderkriegen.

    Wenn die Gesellschaft keine Kinder hervorbringt, dann hat das einen gesellschaftlichen Sinn. Die Gesellschaft braucht die Kinder nicht, die nicht geboren werden. Sie fragt sie nicht nach.

    Zum Beispiel die so genannte Überalterung. Für Hondrich ist das Älterwerden der Gesellschaft keine Dekadenzerscheinung, sondern,

    eine großartige Errungenschaft moderner Kultur: eine notwendige Begleiterscheinung von Wohlstand, Bildung, Freiheiten, sozialen Absicherungen, Medizin, Hygiene, Ernährungswissenschaft ...

    Wollen wir, fragt er ironisch, auf diese Fortschritte und auf die gewonnenen Jahre verzichten?

    Wollen wir) lieber jung sterben, als alt werden? Wer selbst ein langes Leben führen möchte, sollte aufhören, Vergreisung wie einen Vorwurf zu behandeln.

    Kapitel für Kapitel entkräftet Hondrich die verbreiteten Befürchtungen. Ein etwaiger Arbeitskräftemangel zum Beispiel sei durch die vermehrte Einbeziehung von Frauen, Migranten oder eben den jetzt frühzeitig aussortieren Älteren leicht zu kompensieren. Entscheidend aber sei, dass man gar keinen reichlichen Nachwuchs mehr brauche. Technisierung, Rationalisierung und funktionale Differenzierung sorgten dafür, dass ein Einzelner immer mehr für das Bruttosozialprodukt leisten könne. Diese "Produktivitätsspirale" mache es auch finanzierbar, dass immer mehr Rentner immer weniger Rentenbeitragszahlern gegenüberstehen.

    Hondrich zeigt uns, was soziologische Aufklärung leisten kann, wenn sie sich von politischen Zielvorgaben und Interessen unabhängig macht. Er ist ebenso sachlich wie querköpfig, ebenso gründlich empirisch wie lächelnd gelassen. Und bietet auf diese Weise zahllose Denkanstöße und Argumente für die derzeitige Debatte, besonders für jene, die schon länger ahnen, dass den demografischen Ängsten ein zweifelhafter antimoderner Zug innewohnt und dass sich unter dem Deckmantel der Zukunftssorge vielfach konservative Ideologien und die Sehnsucht nach der guten alten Hausfrau verstecken. Wenn Hondrich in seine Argumentation selbstverständlich Migranten und Migrantenkinder als Arbeitskräfte oder künftige Zahler in das Sozialversicherungssystem einbezieht, entlarvt er wie nebenbei die nationalistischen Züge der Demographiedebatte. Und wenn er ebenso selbstverständlich die notwendige und mögliche Fürsorge für die vorhandenen Kinder betont, beschämt er hoffentlich jene, die sich vor allem um die Gebärfreudigkeit der gebildeten Mittelschichten sorgen und die Kinder der "Unterschicht" offenbar für eine wenig wertvolle Zukunftsinvestition halten. Warum sonst hat die große Koalition, angeführt von der aus edlen Kreisen stammenden Ursula von der Leyen, das Erziehungsgeld für die Armen halbiert, um stattdessen das neue Elterngeld auch an die Mittelschicht zu zahlen?

    Eine Haltung, die Hondrich unmissverständlich kritisiert.

    Die Selbstlenkungskräfte der Gesellschaft, auch in der Geburtenfrage, anzuerkennen, statt ihnen durch politische Zielvorgaben, die unweigerlich interessen- und wertgebunden sind, zuvorkommen zu wollen, führt wie von selbst zu einer liberalen Haltung.

    In einem Kapitel seines Buches widmet sich Hondrich der spannenden und an Veränderungen reichen Geschichte der Familie. Durch die Beobachtung, wie sich Systeme, in diesem Fall die Familie, immer wieder stabilisieren, wie sie ihre Probleme lösen, trotz weniger Mitglieder oder vielleicht sogar wegen des Sinkens der Geburtenrate, denn "weniger ist mehr", zum Beispiel mehr Zeit und mehr Zuwendung, durch diese Beobachtung kommt Hondrich zu einer ebenso plausiblen wie einfachen Schlussfolgerung: Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Familie modernisiert. Sie hat erstens immer mehr Funktionen ausgelagert (Produktion, Schutz, Krankenpflege ... ) und zweitens dadurch erst Individualität ermöglicht. Was nach Ansicht Hondrichs zu einer "Qualitätssteigerung" innerhalb des Systems Familie führte, denn ihr einziger verbleibender Leitwert, der sie zudem von anderen Systemen unterscheide, sei "Liebe und sonst nichts". Und anders als Herr Schirrmacher oder Frau Hermann mit ihrer Küchen-und-Heim-Idylle lässt Hondrich dabei die wirkliche Welt zu: Die Familie mit dem Leitwert Liebe, in der verlässliche Bindungen gesucht und häufig gefunden werden, darf auch erweitert gedacht werden: die homosexuelle Ehe, das Patchwork, die fröhliche Wahlverwandtschaft mit familiärer Qualität, die Alten-Wohngemeinschaft.

    Doch wo die Sehnsucht nach den lebenswichtigen stabilen Bindungen zur stilisierten Sehnsucht wird, zum heilen "Vater-Mutter-Kind-bis-dass-der Tod-uns-scheide-Ideal", da sind wir bei Ursula von der Leyens Formel vom "konservativen Feminismus", der selbstredend in "glücklichen Familien" münden soll. Ein Modell, das weder durch massenhafte glückliche Erfahrungen in den alten Familienmodellen noch durch die gesellschaftliche wie demographische Entwicklung gedeckt ist. "Weniger sind mehr", sagt Hondrich. Das gilt auch für Ideologien.

    Karl Otto Hondrich: Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist
    Campus Verlag, Frankfurt 2007, 280 Seiten, Euro 19,90