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Widersprüche, Obsessionen, Lebenslügen

"Eines Nachts" heißt der neue Roman des gebürtigen Dänen Peer Hultberg; ein Titel, der bescheiden, wie beiläufig daherkommt, gewissermaßen in Gestalt einer grauen Katze. "Eines Nachts" könnte man als einen "Familienroman" bezeichnen, sofern es um das Beziehungsgefüge zwischen nahen Verwandten geht.

Von Sabine Peters |
    Das Ende des Tages, das Anbrechen der Nacht bis zum erneuten Sonnenaufgang ist eine Zeitspanne, die als sehr ambivalent erfahren wird. "Nacht" gilt in der Literatur seit Homer als die Zeit des Bösen, Gefährlichen, Irrationalen. Andererseits wird die Nacht auch als ein Raum der Ruhe, des Trostes, als eine Zeit der Wahrheit jenseits banaler Alltagsgeschäfte verstanden. "Eines Nachts" heißt der neue Roman des gebürtigen Dänen Peer Hultberg; ein Titel, der bescheiden, wie beiläufig daherkommt, gewissermaßen in Gestalt einer grauen Katze. Und es liegt nahe, von hier aus zu Johnsons "Katze der Erinnerung" hinüberzudenken, die in dem Roman "Jahrestage" einmal als unabhängig, unbestechlich und ungehorsam beschrieben wird. Gedächtnis, Erinnerung und Bewusstsein funktionieren nicht nach den Kategorien von Logik, Kausalität und Chronologie. Dieses Wissen durchzieht Peer Hultbergs gesamtes Werk, und es bestimmt in hohem Maß auch die Formen, die er für seine Stoffe findet. Immer geht es darum, den Bewusstseinsstrom in seinem einmal zögernden, dann wieder wild springenden Fluss nachzubilden.

    "Eines Nachts" könnte man als einen "Familienroman" bezeichnen, sofern es um das Beziehungsgefüge zwischen nahen Verwandten geht. Dieser Familienroman wird allerdings nicht chronologisch, anhand von markanten Höhepunkten erzählt. Und wenn man in Thomas Manns "Buddenbrooks" auf ein Wiedererkennen gleichbleibender Figuren vertrauen darf - auf Tony Buddenbrooks bebende Unterlippe ist immer Verlas - so findet man bei den Charakteren Hultbergs Nuancierungen, Verschiebungen, die ein Individuum sehr vielfältig und widersprüchlich wirken lassen. Peer Hultberg braucht auch weder Missernten noch den finanziellen Ruin, um Scheitern und Zerstörung in einer Familie darzustellen; "große" und überwältigende Situationen haben ihn nie sonderlich interessiert.

    Und so zieht Rudolf Loften abends los, um einen Einkauf zu erledigen, ein gesetzestreuer, respektabler Bürger, bei dessen Anblick, so redet er sich ein, kein Polizist jemals auf den Gedanken käme, ihn zu verhaften. Geht er nicht gerade, ohne zu schwanken? Wie stolz ist er auf seinen aufrechten Gang. Rudolfs Schwester Birgit, eine ledige Klavierlehrerin, befindet sich abends in gereizter Stimmung. Soeben hat sie einen jungen Mann, einen miserablen Schüler, wegen schlechten Spielens verhöhnt und vor die Tür gesetzt. Der Besuch ihres ehemaligen Partners wirft seine Schatten voraus. Die dritte im Geschwisterbund ist Kit, glücklich verheiratet, zwei Kinder; neben der Familie ist ein liebevoll gepflegter Rosengarten ihre größte Freude. Und schließlich ist da Paul Loften, Vater der drei erwachsenen Geschwister. Seine kranke Frau bittet ihn, er möge ihr heute Abend nicht "gute Nacht" wünschen. Vier Hauptfiguren, Durchschnittsmenschen, die von Peer Hultberg aus wechselnden Distanzen dargestellt werden: Mal ganz von außen, mit dem neutralen, rein registrierenden Blick eines unbeteiligten Betrachters. Mal aus der Nähe, aus dem Blickwinkel der ganz und gar verstrickten jeweiligen Angehörigen, und schließlich aus der Eigenwahrnehmung des jeweiligen Helden. Wenn Birgit abends ihren Bruder Rudolf im Park mit seinem Einkauf sitzen sieht, wer trifft da wen?

    " Wenn es jemanden gab, den Rudolf Loften in diesem Augenblick nicht zu sehen wünschte, dann seine Schwester ... Sie wirkte gesund, gut aufgelegt, bester Laune, es war Glanz in ihren Augen, war sie seit dem letzten Mal nicht auch etwas molliger geworden? "Du hast zugenommen", stellte er trocken fest und registrierte schadenfroh, wie das Lächeln verschwand. Und gleich darauf ... nach einer wohlkalkulierten Pause: "Hast du was davon gehört, wie es Mutter geht?", und dann sah er auch das Gutgelaunte verschwinden. Sie sah die boshafte Feindseligkeit in seinen blutunterlaufenen Augen, selbstverständlich hätte sie ihn in Ruhe lassen sollen ... Wie lange er wohl getrunken hatte, er war unrasiert, schmutzig, er wirkte zerlumpt, es klebten Erdkrusten an seiner Hose ... und es ist naiv von ihm zu glauben, er könne sie mit ihrer Mutter und deren Krankheit treffen, oder hat er es nur gesagt, weil die Eltern längst das einzige Thema sind, das sie gemeinsam haben ... "Mutter ging es wie gewöhnlich, ... übrigens konnten sie nicht verstehen, dass du dich so lang nicht gemeldet hast", und daran wird er jetzt zu kauen haben. Das ist gelogen, dachte Rudolf, das sagt sie, weil sie es mir heimzahlen will. Die Kinderschlägerei hatte angefangen, und er weiß wie immer nicht genau, wer von ihnen den Ball ins Feld gespielt hat. ... Er muss vielmals entschuldigen, was war das für ein Quatsch, so halbbesoffen dazusitzen und Wodka aus der Flasche zu trinken wie irgendein Penner, und sie hat das Gefühl, sie hat den Nagel auf den Kopf getroffen, denn als sie sich bei den Eltern erkundigt hatte, ob sie kürzlich von Rudolf gehört hätten, war, so kam es ihr vor, die Antwort ausweichend gewesen, und dabei war er immer Mutters Liebling gewesen, ... (("was zum Teufel glotzt du?", fragte Rudolf, ... sie konnte gern gehen, ihr ewiges Moralisieren, schon seit sie Kinder waren; ihre ältliche, jugendliche, altjüngferliche Frischfröhlichkeit. Weißt du, dass du zwei tiefe Falten auf beiden Seiten der Mundwinkel hast?, wollte er fragen, aber er wusste, sie wusste es, und vielleicht war es auch nicht besonders wichtig für sie, deshalb sagte er statt dessen, "ich finde, es ist lange her, dass du ein Konzert gegeben hast".)) "

    Durch die ständig wechselnde Perspektive entsteht eine produktiv verstörende Uneindeutigkeit, die verhindert, dass der Leser seine Sympathien einer einzigen Figur zuwendet. Der Hickhack zwischen Bruder und Schwester führt dahin, dass Birgit Rudolf seinen Einkauf, die glückbringende Flasche Schnaps aus der Hand schlägt; triumphierend holt er eine zweite aus der Tasche und johlt hinter ihr her. Szenenwechsel, das stille Haus der Eltern. Paul Loften hat begriffen, dass seine Frau sich heute Nacht das Leben nehmen wird, denn die Schmerzen ihres Krebsleidens sind unerträglich geworden, und als Ärztin weiß sie den Ausweg. Paul wird den größten Teil der Nacht durchwachen, von widersprüchlichen Gefühlen hin- und hergerissen. Szenenwechsel, Schwenk ins Haus der gutsituierten, bürgerlichen Tochter Kit. Der Anruf ihrer Schwester, man müsse unbedingt etwas wegen des versoffenen Rudolf unternehmen, und möglichst die Mutter informieren, auch, um die von ihrem Leiden abzulenken, hat Kit verärgert. Also erklärt sie ihrem Mann, sie wolle mit ihren Gefühlen ins Reine kommen. Sie werde mit dem Auto losfahren, die Nacht über allein draußen verbringen, um schließlich den Sonnenaufgang anzusehen. Er kann das verstehen. Was er nicht weiß: Kit hat diesen Ausflug monatelang geplant und minutiös vorbereitet. Im Auto versteckt, verwandelt sich die ehrbare Gattin in eine billige, vulgär aussehende Nutte, die im Vergnügungsviertel der Stadt nach einem Freier suchen wird. Mit diesen vier Ausgangssituationen hat Hultberg die Weichen für seinen Roman gestellt.

    Was ist ein Ich? Der stolze Ausdruck "Individuum", Einzelnes, Unteilbares, legt nahe, man habe es hier mit einem in sich geschlossenen Ganzen zu tun. Dem Menschenbild der Moderne entspricht eher die Vorstellung, das Ich gleiche vielmehr einem Flickenteppich. "Ich" als ein Gewebe, als ein "Gespinst", das sich fortwährend verändert. Wenn nicht einmal seine Vergangenheit eine feststehende, unveränderliche Größe ist, wie soll es fähig sein, seine Gegenwart verantwortlich, selbstbewusst, vernünftig und zielgerichtet zu gestalten? In den "Jahrestagen" sagte Uwe Johnsons Hauptfigur Gesine von sich, sie wolle nur tun, was sie auch in Erinnerung ertrage. Ein ethischer Anspruch, so bescheiden wie hochfliegend. Hultbergs Helden können sich selbst, ihre Erinnerungen, ihr Tun und Denken oft nicht ertragen. Als säße ihnen eine übergroße Katze im Nacken. Sie sind Getriebene, die nicht verstehen, warum sie so handeln, wie sie es tun.

    Widersprüche, Obsessionen, und immer wieder Lebenslügen sind das Thema von Hultbergs Werken. (( Das bedeutet, dass hier auf subtile Weise ständig auch Gewalt zur Sprache kommt. Der Roman "Präludien" schilderte eine exemplarische bürgerliche Kindheit am Beispiel Frédéric Chopins; eine scheinbar liberale Erziehung wurde als subtile Form von Dressur, von Zurichtung kenntlich gemacht. Ein anderes Werk, das monumentale "Requiem" portraitierte eine anonyme Menschenmenge: 537 Monologe von ganz normal verstörten Zeitgenossen, ein Konzentrat aus den Drehungen und Windungen, wie sie das Bewusstsein westlicher Mittelstandsmenschen zustande bringt.)) Was sich in den verdichteten Ausbrüchen heutiger Individuen zeigt, sieht nicht allzu schön aus: Unerfülltes Glücksverlangen, fixe Ideen, Prestigedenken, Missgunst, Schadenfreude, Selbstmitleid, Eitelkeit, Verunsicherung, und immer wieder Hass und Selbsthass. Dabei ist Peer Hultberg alles andere als ein Misanthrop, das führt einem auch der Roman "eines Nachts" eindringlich vor Augen.

    Rudolf hat in seinen nächtlichen Räuschen im Wohnzimmer eine bizarre Werkstatt errichtet, wo er ein Grabmal aus Ton gestaltet. Dort liegt ein königlicher Vater begraben, und er muss durch eine im Backofen gebrannte tönerne Bombe wieder und wieder zerschmettert werden. Rudolf verletzt sich bei seinem betrunkenen Werkeln am Herd die Hand; er wird sich zur Unfallstation schleppen müssen und macht einen regelrechten Schlachtplan, wie das zu bewerkstelligen ist. Er muss sich waschen und rasieren. Dabei fürchtet er sein Spiegelbild, die blutunterlaufenen Augäpfel, die Tränensäcke, die aufgedunsenen Wangen, den toten Blick. Aber dann widerfährt ihm etwas Unerwartetes.

    " Und seine Augen da drinnen reagieren auf seine Augen da draußen. Ihr Ausdruck ist verständig und forschend. Es sind Augen, die begreifen, Augen, mit denen man in Kontakt kommen, Augen, mit denen er als Mensch in Verbindung treten kann, wie die Position seines Kopfes auch ist, las sie also gern blutunterlaufen sein, las also die blaugraue Iris voll dicken, roten Adern erscheinen; die Pupille war schwarz, tief, rein und öffnete den Weg zu einer Welt, die die einer menschlichen Seele war. Und ihm, ihm allein ist es beschieden, durch sie hineinzugehen, hinein, durch die dunkle, kreisrunde Öffnung, wo er das Abenteuer eines Menschen in einem menschlichen Universum erleben wird, das weiß er. ((Rudolf Loften hat dagestanden und ekstatisch seine eigenen rätselhaften Augen betrachtet. In seiner Ergriffenheit vergisst er die schmerzende Hand. Er begreift, was der Blick da drinnen ihm mitteilen will, und als er dumpf und verhangen wird, ist er nicht enttäuscht, sondern fühlt, wie richtig das war, denn er hatte ja die Botschaft, die ihm gesandt worden war, erhalten. Also konnte er mit seinem Vorhaben ruhig weitermachen.)) Und er lässt Wasser in die Wanne ein, schält sich aus den Sachen, sein ungewaschener Körper stank und klebte, er manövriert einen Seifenrest durch alle Vertiefungen des Körpers und fährt ein paar Mal damit durchs Wasser, das grau von menschlichem Schmutz und Schaumbadfett ist, während er die lädierte Hand in melodramatischem Gestus über den Wannenrand hält, um dann aufzustehen, aus dem schwappenden Wasser zu steigen, graziös auf Zyperns grüne Badematte zu treten, mit einem schamhaften, blauen Badelaken um die Lenden. Er ist neu, geläutert. ... Zwar sind seine Adern, sein Hirn, der ganze Körper voller Alkohol, aber das war nicht mehr zu spüren, es ist verwandelt in einen Zustand leuchtenden Dunstes, amalgamiert zu einer Euphorie, die sich in einem funkelnden Ziel draußen konzentrierte und konkretisierte - in der Unfallstation. "

    Der schnelle Wechsel zwischen Präsenz und Imperfekt, die langen, mäandrierenden Sätze, die Assoziationsfetzen von der grünen Badematte zur Insel Zypern, all diese sprachlichen Mittel bringen eine Dynamik und Bewegung in den Text, die dem langsamen Verrinnen der nächtlichen Stunden entgegensteht. Rudolf wird sich auf der Unfallstation vor einer Zwangseinweisung fürchten. Birgit inszeniert eine groteske Gesellschaft, bevor sie allein in Selbstmitleid versinkt. Der Vater wird sich fragen, ob er etwas so Banales tun darf wie Kaffee trinken, während seine Frau stirbt. Und Kit findet schließlich eher zufällig einen Amerikaner, mit dem sie es treiben wird. Neben diesen äußerlichen Handlungen spielen sich die inneren Dramen ab. Das Faszinierende an diesem Roman ist die innere Rede, die hier zum Fließen gebracht wird. Widerstände tun sich auf, Floskeln versperren den Weg oder geben ihn auch manchmal frei, und schließlich bricht der Exzess aus. Dem Satz Ludwig Wittgensteins, wovon man nicht sprechen könne, davon müsse man schweigen, diesem Satz widerspricht Peer Hultbergs Text: Wovon man nicht sprechen kann, davon wird hier geschrieen, gestammelt, gedruckst, gesungen, ja, psalmodiert. ((Der 1935 geborene Autor schreibt seine Romane und Theaterstücke auf Dänisch, auch wenn er seit vielen Jahren in Deutschland lebt. Das Eintauchen in die Ursprungssprache, mit der er nicht mehr in täglichem Kontakt ist, führt zu einem sehr bewussten Schreiben, das wohl einige Ähnlichkeit mit dem Komponieren hat: Gezielt gesetzte Pausen als Haltepunkte, Engführungen, Verflechtungen, Steigerungen. Laute, schrille, leise Töne.))

    Hultbergs Werke, die unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis und dem Hubert-Fichte-Preis gewürdigt wurden, lassen sich kaum einer der gängigen aktuellen literarischen Strömungen zuordnen. Aber wer mehr als eins seiner Bücher gelesen hat, weiß: Mit jedem neuen Text dieses Autors betritt man einen eigenen Kontinent. Die Bewohner des Hultbergschen Kontinents haben ihre Masken abgenommen, sie machen sich ohne jede Rücksicht Luft und werden auf diese Weise zwar enthüllt, aber nie denunziert. Die Figuren, die sich hier artikulieren, lassen an die schmerzverzerrten Gesichter des Malers Hieronymus Bosch denken. Oder man kann sich an die Musik Gustav Mahlers erinnern: Hier wie da wird das Banale und Hässliche, das Brutale und Verlogene in die Musik bzw. in den Text hineingenommen. Und hier wie da entsteht ein ästhetischer Überschuss, ein unerschöpflicher Reichtum an Imagination. Es entsteht eine Schönheit, deren Herzzerreißendes darin liegt, dass die Bewohner des Kontinents Hultberg vom Erbärmlichen zum Erbarmen kommen.

    Kit, die glückliche Mittelstandsmutti, die sich in eine billige ordinäre Hure verwandeln will, ist alles andere als einverstanden mit ihrer fixen Idee. Allein auf einer Parkbank sitzend, quält sie sich mit der Frage herum, ob sie geistesgestört ist. Peer Hultberg verzichtet allerdings konsequent auf eine bedeutungsschwere Analyse, er psychologisiert nicht. Der Autor weigert sich, die Rolle des Schamanen und Magiers einzunehmen, der das Rätsel löst, warum die Eine sich verkauft, der Andere einen königlichen Vater vernichtet. Der Gestus ist schlicht der des Zeigens, ein Zeigen, das zu einem Anerkennen wird. Das gibt dem Roman bei allem Schrecken, der hier ja doch verhandelt wird, seine eigenartige Leichtigkeit. ((Anders gesagt: Als Feldforscher im inneren menschlichen Kontinent verlangt Hultberg sich eine Haltung der "Gleichgültigkeit" ab. Sie ist keinesfalls mit Indifferenz zu verwechseln, sie bedeutet buchstäblich wörtlich ein aufmerksames "wahr-nehmen".))

    Am Ende der Nacht, bei Tagesanbruch, treffen zwei Wracks aufeinander, Bruder und Schwester.

    " Sie bleibt entsetzt stehen. Er trägt zwar saubere und fast neue Sachen, aber trotzdem ist ein großer Klecks Zahnpastaschleim auf sein dunkelgrünes Hemd gelaufen ... Am schlimmsten ist der ausdruckslose, irgendwie wilde, verstörte Blick, ... . und ihr toter, wahrnehmungsloser Ausdruck ... ((Erst als sie in einem beinahe fragenden Ton "Rudolf" gesagt hat, ist es, als ob er ein wenig aufwacht. Aber keiner von beiden rührt sich. Sie stehen einander gegenüber, betrachten einander, und Kit spürt auf einmal, dass ihre alte Welt endgültig gesprengt und in einem Universum reinen Menschseins aufgegangen ist ... .)) Rudolf Loften merkte, dass ihm eine Gestalt näher kam ... Eine Figur steht unsicher auf hohen Korksohlen ... Ihr Make-up ist verwischt, um ihren Mund ist überall billiger Lippenstift, und eine künstliche, schwarze Wimpernreihe flattert ... vom Lid. ... Und als er ihre Stimme "Rudolf" sagen hört, ... so voller Wiedererkennen und Verstehen, da weiß er, wie er sein Gedicht anfangen wird: "Hermes, Vermittler zum Jenseits, Beschützer der väterlichen Macht, ich bitte dich, sei mein Retter und Mitkämpfer, denn ich befinde mich auf der Erde, ich bin zurückgekehrt." ... Er weiß, sie wird antworten: "O du freudvolle menschliche Gestalt, die vierfach meine Freude ausdrückt ... in dir finde ich meinen treuen Bruder, der mir die Ehre wiederbringt, die man mir schuldet" "

    Dieser hohe Ton ganz am Ende des Romans artikuliert ein Aufheben im dreifachen Sinne: Aufgehoben im Sinne von "konserviert", von "aufbewahrt" ist die Versehrtheit, die Beschädigung von Bruder und Schwester. "Aufheben" meint weiterhin das Negieren, das Durchstreichen eines Sachverhalts: Etwas ist erlassen worden, die Last von Hass und Selbsthass ist ihnen abgenommen worden. "Aufheben" bedeutet schließlich das Emporheben: Bruder und Schwester sind aufgehoben durch die Achtung, die sie vor sich selbst und dem Gegenüber empfinden. Nach allem, was die vier Figuren an Banalitäten, Kleinem und Kleinlichem geäußert haben, ist Hultbergs Rückgriff auf den klassischen griechischen Tonfall eines Äschylos am Ende ein gewagter Wurf, ein kühner Aufschwung. Es ist die Stunde der Wahrheit, die hier anbricht, am Ende der Nacht. Also eine klassische positive Entwicklung, eine Saulus - Paulus - Geschichte? Ach was. Alles ist, wie es war, nur um ein Winziges verschoben. Alles ist an seinem Platz. Der Roman "eines Nachts", der so nüchtern daherkommt, der unter der Hand hellhörig macht für Zwischentöne, lässt einen nicht mehr los. Ein Buch, das vor Leidenschaft vibriert.

    Peer Hultberg: Eines Nachts. Roman. Aus dem Dänischen von Angelika Gundlach. Jung und Jung-Verlag, 250 Seiten, 24 Euro