Sagen wir es gleich am Anfang freiheraus: Ja, in diesem Land gibt es Armut, und sie breitet sich immer weiter aus.
Mit diesem bekenntnishaften Satz beginnt das Buch von Nadja Klinger und Jens König. Ja, es gibt Armut in Deutschland. "Geben wir es doch endlich zu!", klingt da mit. Die beiden Journalisten werfen der deutschen Gesellschaft vor, ihre Armen zu verleugnen, sie nicht wahrhaben zu wollen. Der behaupteten Ignoranz begegnen sie mit einem bewährten Mittel: der journalistischen Reportage, der Beschreibung des Einzelfalls. Etwa dem der Stenotypistin aus Leipzig, die seit 1990 arbeitslos ist.
"Die Heizung in ihrer Wohnung steht auf 15 Grad. Aber nur im Wohnzimmer, die anderen Räume sind wie Kühlschränke. Das Wasser mit dem sie duscht, verwendet sie noch zum Spülen in der Toilette. Wenn sie eine Platte am Herd abdreht, bleibt die noch zehn Minuten so heiß, dass das Essen weiter kocht. [ ... ] Für höchstens 35 Euro kauft sie in der Woche Hausrat, Hygieneartikel, Lebensmittel ein. Die Abokarte für die Straßenbahn kostet jeden Monat 36,70 Euro. Sie ist Luxus. [ ... ] (Sie) leistet sie sich, um sich in der Gesellschaft zu bewegen."
Zwölf Armutsgeschichten aus ganz Deutschland erzählen Klinger und König, unaufgeregt, lakonisch. Es geht um Menschen, die kein Geld mehr für den Telefonanschluss haben, die keine Krankenversicherung besitzen, um Kinder, die sich in einem ganzen Sommer nur zweimal den Eintritt ins Freibad leisten können. Es sind keine Elendsberichte und doch Berichte über das Elend, arm zu sein in einem reichen Land. Armut in Deutschland ist etwas Anderes als Armut in Afrika. Und doch ist es Armut, betonen König und Klinger. Eine klare Definition des Begriffs ist unmöglich. Statistisch gilt als arm, wer unter einer bestimmten Einkommensgrenze liegt. Doch das allein sagt noch nichts, findet Jens König:
"Armut bemisst sich nicht nur nach der Frage viel oder wenig Geld, also nach dem Phänomen, wer ist oben, wer ist unten, sondern auch von der Tatsache, wer ist drin, wer ist draußen. Der Fachbegriff dafür heißt Exklusion. Von Wohnung über Einkommen, über Arbeit, Kultur, Gesundheit: Hat ein Mensch in der Gesellschaft die Chance, an diesen wichtigen Gütern teilzuhaben oder nicht? Und wenn er es nicht hat, dann ist er in dieser Gesellschaft draußen, er ist, wie wir sagen, abgehängt."
Tatsächlich handeln die beklemmendsten Textpassagen von diesem Ausschluss, der der materiellen Not folgt. Wer seine Freunde verliert, weil er sich keine gemeinsame Freizeitaktivität, kein Bier in der Kneipe mehr leisten kann, der erlebt seine Armut als Ausgrenzung. Die beiden Autoren wollen den Blick für diese Armut schärfen und die Klischees der Gesellschaft in Frage stellen. Die Armen in ihrem Buch entsprechen nicht dem Zerrbild vom zum Alkoholismus neigenden, verwahrlosten Unterschichtenmenschen. Das Spektrum der Porträtierten reicht vom Obdachlosen über die arbeitslose Verkäuferin, die ständig auf Jobsuche ist, bis hin zum gut verdienenden Wirtschaftswissenschaftler, der sich mit Immobilien verspekuliert hat und durch die monatliche Schuldentilgung fast erdrückt wird. Armut, soll das zeigen, kann jeden treffen
"Er zog in die kleine, billigere Wohnung in Nordend. Sie liegt an einer stark befahrenen Straße. Auch ohne dass er das Fenster öffnet, spürt er die schlechte Luft. Er hat so gut wie nie ferngesehen. 'Ich war ein aktives Mitglied der Gesellschaft', sagt er. 'Ich brauchte keine aufgearbeitete Wirklichkeit.' Jetzt muss er sich auf den Fernseher als Informationsquelle beschränken. Er hat sein Tageszeitungsabonnement gekündigt sowie die kirchliche politische Zeitschrift. Er fühlt sich schlechter informiert. 'Es ist ein schmerzhafter Verlust von Lebensqualität. Ich lebe jetzt in einem ganz anderen Teil der Gesellschaft', sagt er."
Klinger und König sprechen von einer neuen Armut in Deutschland. Neu an ihr sei, dass sie heute auch Menschen der Mittelschicht erreiche. Und neu sei die Geschwindigkeit, mit der ein Mensch mittlerweile in Armut stürzen könne. Hier kommt Hartz IV ins Spiel. Zwischen die Fallgeschichten haben der taz-Journalist und die freie Autorin drei Essays eingefügt, in denen sie sich mit den Ursachen und der Bekämpfung von Armut auseinandersetzen. Darin heißt es:
"Wenn man später einmal Historiker fragt, wann die alte Bundesrepublik zu Ende gegangen ist, werden sie sagen: mit Hartz IV."
"Hartz IV ist eine Zäsur in dem Sinne, dass das kollektive Aufstiegsversprechen nicht mehr eingelöst werden kann. Die alte Bundesrepublik ist natürlich mit der Ansicht groß geworden, dass jeder es schaffen kann. Und wenn er mal durch einen bösen Wechselfall des Lebens abrutscht, dann wird er jederzeit aufgefangen. Und diese Auffanglinie gibt es nicht mehr mit Hartz IV, die Leute stürzen relativ schnell nach unten. Wir glauben, dass die Grundsicherung zu niedrig ist und dass die ganze Philosophie, die an Hartz IV hängt - "Wir müssen in jedem Fall wieder Arbeit finden" - dass diese Philosophie in die Irre führt, weil Vollbeschäftigung nicht mehr herbeiregiert werden kann."
So fordern die Autoren einerseits mehr Geld für Arme, aber auch ein umfassendes Umdenken in der Armutspolitik. Eine Politik des Respekts sei nötig, also Maßnahmen, die es Menschen auch ohne Arbeit ermöglichten, würdevoll und gesellschaftlich integriert zu leben. Der beste Schlüssel zur Armutsbekämpfung sei zudem die Bildung. Außerdem müsse die mittelschichtenorientierte Politik ihren Fokus auf die Unterschicht lenken. Nadja Klinger und Jens König tun genau dies in ihrem Buch, ohne plump zu emotionalisieren. Sie versuchen auch nicht, die Porträtierten zu beschönigen oder nur als unschuldige Opfer darzustellen, verschweigen nicht den Teil persönlicher Verantwortung bei jedem Armutsschicksal. Da sind Frauen, die zu früh zu viele Kinder mit unzuverlässigen Männern bekommen. Menschen, die leichtsinnige Bürgschaften gewähren und dadurch Schuldenberge anhäufen. Doch genau das ist eine Stärke des Buchs, denn es macht deutlich, dass Not immer gleich schlimm ist, egal wie sie entstand. Und es zeigt, dass die Gesellschaft im Eigeninteresse helfen muss, will sie den sozialen Zusammenhalt bewahren - zumal dann, wenn Kinder mit betroffen sind. Ein besondere Schwierigkeit bei der Recherche, sagt Jens König, bestand darin, die soziale Kluft zu den Porträtierten zu überwinden
"Wir, die wir uns mit den besten Absichten diesen Menschen genähert haben, merken, dass wir immer noch eine Sperre in uns haben. Wir wollen es besonders gut machen, wir wollen diese Menschen nicht verletzen und verletzen sie daher vielleicht schon aus diesem Grund. Diese Kommunikation zwischen der scheinbar normalen Welt und der Welt armer Menschen ist äußerst kompliziert. Die ist auch uns nicht immer gelungen. Dazwischen gibt's eine Grenze. Diese Grenze kann man eigentlich kaum überschreiten, dessen muss man sich bewusst sein."
Das Buch ist zweigeteilt, auch qualitativ. In den Essays liefern die Autoren wenig Neues, bleiben in den politischen Forderungen unkonkret, vernachlässigen einige wichtige Fragen. Mit keinem Wort etwa gehen Klinger und König auf den internationalen Aspekt von Armut in einer globalen Welt ein und die Frage, ob Armut bei all den ökonomischen Verflechtungen überhaupt noch als nationales Problem betrachtet werden kann. Daneben aber stehen die sehr eindrucksvollen Porträts. Sie gewähren einen ungewöhnlich tiefen Blick in die Lebenswelt der Armen und können es schaffen, den eigenen Blick auf die Mitmenschen zu verändern, sensibler zu machen für Armut.
Nadja Klinger und Jens König sind die Autoren des Reportagebandes "Einfach abgehängt!" Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland. 14 Euro 90 kostet der 224 Seiten umfassende Band, veröffentlicht von Rowohlt.
Mit diesem bekenntnishaften Satz beginnt das Buch von Nadja Klinger und Jens König. Ja, es gibt Armut in Deutschland. "Geben wir es doch endlich zu!", klingt da mit. Die beiden Journalisten werfen der deutschen Gesellschaft vor, ihre Armen zu verleugnen, sie nicht wahrhaben zu wollen. Der behaupteten Ignoranz begegnen sie mit einem bewährten Mittel: der journalistischen Reportage, der Beschreibung des Einzelfalls. Etwa dem der Stenotypistin aus Leipzig, die seit 1990 arbeitslos ist.
"Die Heizung in ihrer Wohnung steht auf 15 Grad. Aber nur im Wohnzimmer, die anderen Räume sind wie Kühlschränke. Das Wasser mit dem sie duscht, verwendet sie noch zum Spülen in der Toilette. Wenn sie eine Platte am Herd abdreht, bleibt die noch zehn Minuten so heiß, dass das Essen weiter kocht. [ ... ] Für höchstens 35 Euro kauft sie in der Woche Hausrat, Hygieneartikel, Lebensmittel ein. Die Abokarte für die Straßenbahn kostet jeden Monat 36,70 Euro. Sie ist Luxus. [ ... ] (Sie) leistet sie sich, um sich in der Gesellschaft zu bewegen."
Zwölf Armutsgeschichten aus ganz Deutschland erzählen Klinger und König, unaufgeregt, lakonisch. Es geht um Menschen, die kein Geld mehr für den Telefonanschluss haben, die keine Krankenversicherung besitzen, um Kinder, die sich in einem ganzen Sommer nur zweimal den Eintritt ins Freibad leisten können. Es sind keine Elendsberichte und doch Berichte über das Elend, arm zu sein in einem reichen Land. Armut in Deutschland ist etwas Anderes als Armut in Afrika. Und doch ist es Armut, betonen König und Klinger. Eine klare Definition des Begriffs ist unmöglich. Statistisch gilt als arm, wer unter einer bestimmten Einkommensgrenze liegt. Doch das allein sagt noch nichts, findet Jens König:
"Armut bemisst sich nicht nur nach der Frage viel oder wenig Geld, also nach dem Phänomen, wer ist oben, wer ist unten, sondern auch von der Tatsache, wer ist drin, wer ist draußen. Der Fachbegriff dafür heißt Exklusion. Von Wohnung über Einkommen, über Arbeit, Kultur, Gesundheit: Hat ein Mensch in der Gesellschaft die Chance, an diesen wichtigen Gütern teilzuhaben oder nicht? Und wenn er es nicht hat, dann ist er in dieser Gesellschaft draußen, er ist, wie wir sagen, abgehängt."
Tatsächlich handeln die beklemmendsten Textpassagen von diesem Ausschluss, der der materiellen Not folgt. Wer seine Freunde verliert, weil er sich keine gemeinsame Freizeitaktivität, kein Bier in der Kneipe mehr leisten kann, der erlebt seine Armut als Ausgrenzung. Die beiden Autoren wollen den Blick für diese Armut schärfen und die Klischees der Gesellschaft in Frage stellen. Die Armen in ihrem Buch entsprechen nicht dem Zerrbild vom zum Alkoholismus neigenden, verwahrlosten Unterschichtenmenschen. Das Spektrum der Porträtierten reicht vom Obdachlosen über die arbeitslose Verkäuferin, die ständig auf Jobsuche ist, bis hin zum gut verdienenden Wirtschaftswissenschaftler, der sich mit Immobilien verspekuliert hat und durch die monatliche Schuldentilgung fast erdrückt wird. Armut, soll das zeigen, kann jeden treffen
"Er zog in die kleine, billigere Wohnung in Nordend. Sie liegt an einer stark befahrenen Straße. Auch ohne dass er das Fenster öffnet, spürt er die schlechte Luft. Er hat so gut wie nie ferngesehen. 'Ich war ein aktives Mitglied der Gesellschaft', sagt er. 'Ich brauchte keine aufgearbeitete Wirklichkeit.' Jetzt muss er sich auf den Fernseher als Informationsquelle beschränken. Er hat sein Tageszeitungsabonnement gekündigt sowie die kirchliche politische Zeitschrift. Er fühlt sich schlechter informiert. 'Es ist ein schmerzhafter Verlust von Lebensqualität. Ich lebe jetzt in einem ganz anderen Teil der Gesellschaft', sagt er."
Klinger und König sprechen von einer neuen Armut in Deutschland. Neu an ihr sei, dass sie heute auch Menschen der Mittelschicht erreiche. Und neu sei die Geschwindigkeit, mit der ein Mensch mittlerweile in Armut stürzen könne. Hier kommt Hartz IV ins Spiel. Zwischen die Fallgeschichten haben der taz-Journalist und die freie Autorin drei Essays eingefügt, in denen sie sich mit den Ursachen und der Bekämpfung von Armut auseinandersetzen. Darin heißt es:
"Wenn man später einmal Historiker fragt, wann die alte Bundesrepublik zu Ende gegangen ist, werden sie sagen: mit Hartz IV."
"Hartz IV ist eine Zäsur in dem Sinne, dass das kollektive Aufstiegsversprechen nicht mehr eingelöst werden kann. Die alte Bundesrepublik ist natürlich mit der Ansicht groß geworden, dass jeder es schaffen kann. Und wenn er mal durch einen bösen Wechselfall des Lebens abrutscht, dann wird er jederzeit aufgefangen. Und diese Auffanglinie gibt es nicht mehr mit Hartz IV, die Leute stürzen relativ schnell nach unten. Wir glauben, dass die Grundsicherung zu niedrig ist und dass die ganze Philosophie, die an Hartz IV hängt - "Wir müssen in jedem Fall wieder Arbeit finden" - dass diese Philosophie in die Irre führt, weil Vollbeschäftigung nicht mehr herbeiregiert werden kann."
So fordern die Autoren einerseits mehr Geld für Arme, aber auch ein umfassendes Umdenken in der Armutspolitik. Eine Politik des Respekts sei nötig, also Maßnahmen, die es Menschen auch ohne Arbeit ermöglichten, würdevoll und gesellschaftlich integriert zu leben. Der beste Schlüssel zur Armutsbekämpfung sei zudem die Bildung. Außerdem müsse die mittelschichtenorientierte Politik ihren Fokus auf die Unterschicht lenken. Nadja Klinger und Jens König tun genau dies in ihrem Buch, ohne plump zu emotionalisieren. Sie versuchen auch nicht, die Porträtierten zu beschönigen oder nur als unschuldige Opfer darzustellen, verschweigen nicht den Teil persönlicher Verantwortung bei jedem Armutsschicksal. Da sind Frauen, die zu früh zu viele Kinder mit unzuverlässigen Männern bekommen. Menschen, die leichtsinnige Bürgschaften gewähren und dadurch Schuldenberge anhäufen. Doch genau das ist eine Stärke des Buchs, denn es macht deutlich, dass Not immer gleich schlimm ist, egal wie sie entstand. Und es zeigt, dass die Gesellschaft im Eigeninteresse helfen muss, will sie den sozialen Zusammenhalt bewahren - zumal dann, wenn Kinder mit betroffen sind. Ein besondere Schwierigkeit bei der Recherche, sagt Jens König, bestand darin, die soziale Kluft zu den Porträtierten zu überwinden
"Wir, die wir uns mit den besten Absichten diesen Menschen genähert haben, merken, dass wir immer noch eine Sperre in uns haben. Wir wollen es besonders gut machen, wir wollen diese Menschen nicht verletzen und verletzen sie daher vielleicht schon aus diesem Grund. Diese Kommunikation zwischen der scheinbar normalen Welt und der Welt armer Menschen ist äußerst kompliziert. Die ist auch uns nicht immer gelungen. Dazwischen gibt's eine Grenze. Diese Grenze kann man eigentlich kaum überschreiten, dessen muss man sich bewusst sein."
Das Buch ist zweigeteilt, auch qualitativ. In den Essays liefern die Autoren wenig Neues, bleiben in den politischen Forderungen unkonkret, vernachlässigen einige wichtige Fragen. Mit keinem Wort etwa gehen Klinger und König auf den internationalen Aspekt von Armut in einer globalen Welt ein und die Frage, ob Armut bei all den ökonomischen Verflechtungen überhaupt noch als nationales Problem betrachtet werden kann. Daneben aber stehen die sehr eindrucksvollen Porträts. Sie gewähren einen ungewöhnlich tiefen Blick in die Lebenswelt der Armen und können es schaffen, den eigenen Blick auf die Mitmenschen zu verändern, sensibler zu machen für Armut.
Nadja Klinger und Jens König sind die Autoren des Reportagebandes "Einfach abgehängt!" Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland. 14 Euro 90 kostet der 224 Seiten umfassende Band, veröffentlicht von Rowohlt.