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Wie das Kaninchen vor der Schlange

Das Leben mit der möglichen Katastrophe trainieren Japaner von Kindesbeinen an. Jetzt ist das Unvorstellbare Wirklichkeit geworden. Japan-Kenner Michael Wetzel beschreibt Reaktionen und Gemütslage der japanischen Bevölkerung.

Michael Wetzel im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 14.03.2011
    Stefan Koldehoff: Wenn es nach der Katastrophe in Japan, deren auch globale Folgen nach wie vor nicht abzusehen sind, einen Satz gab, der beinahe gebetsmühlenartig wiederholt wurde, dann war es, "Die Japaner nehmen das alles sehr gelassen, sie sind von klein auf darauf vorbereitet gewesen: auf das Leben mit der Katastrophe – sei es nun in Gestalt von Vulkanen, Taifunen, Anschlägen oder eben Erdbeben."
    Vielleicht hört man diesen Satz so oft, weil damit plötzlich alles gar nicht mehr so schlimm zu sein scheint, oder wenigstens ein wenig weniger schlimm. Ich bin verbunden mit dem Bonner Kulturwissenschaftler Michael Wetzel, der das Land sehr gut kennt und große Teile des Jahres auch in Japan verbringt. Gerade erst ist er von dort zurückgekehrt. An ihn deshalb die Frage: Stimmt das denn alles überhaupt mit der Gelassenheit?

    Michael Wetzel: Also ich kann dazu nur sagen aus meiner persönlichen Perspektive, dass meine Frau ja noch dort ist. Sie ist jetzt nicht im Krisengebiet, sie lebt in Nagoya. Das sind immerhin gerade auch mal 300 Kilometer von Tokyo entfernt. Und ich bin selber jetzt aufgrund selbst der langen Jahre Erfahrung ein bisschen entsetzt, möchte ich beinahe sagen, über diese Coolness, die dort vorherrscht, dass mir erst mal wieder bestätigt wird, es ist überhaupt gar keine Auswirkung auf das Privatleben. Das Einzige, was ich gehört habe heute, dass es wohl bei der Bestückung einer Obsttorte Probleme gibt, weil jetzt das Ganze Obst aus dem Nagoyaer Gebiet nach Tokyo geschickt wird.
    Also es ist schon manchmal für mich ein bisschen wenig nachvollziehbar, wie wenig doch der Gefahr ins Auge geblickt wird, denn ich denke, gerade bei einer Nuklearkatastrophe machen 3-, 400 Kilometer, 500 Kilometer nach Osaka gar nichts mehr aus.

    Koldehoff: Glauben Sie den Menschen diese Coolheit denn?

    Wetzel: Ich glaube sie ihnen wirklich, weil ich glaube nicht, dass sie vorgetäuscht ist. Das, was ich erfahren habe in Japan, ist so etwas wie eine Zweigleisigkeit, dass die Menschen auf der einen Seite sehr ängstlich sind, sehr schnell reagieren auf Gefahren, und es gibt auch sehr viele Sicherheitssysteme, auf der anderen Seite aber so etwas haben - das meine ich jetzt nicht abwertend oder abschätzig - aber so etwas wie ein kindliches Vertrauen, das man fast mit der rheinischen Mentalität vergleichen könnte, es wird schon gut gehen. Sie glauben in dem Moment daran, das kann aber sehr schnell umschlagen in Hysterie und Panik.

    Koldehoff: Wenn wir es jetzt mal versuchen, mentalitätsgeschichtlich vielleicht ein bisschen zu fassen, ist das eher Pragmatismus oder gibt es so etwas wie eine Philosophie hinter so einem Verhalten?

    Wetzel: Es gibt sicherlich einen philosophischen oder sagen wir mal religionsgeschichtlichen Hintergrund dessen, aber ich glaube, dass auch eine große Portion Pragmatismus da ist. Um ein ganz klares Beispiel zu geben: Die Situation, wie man sie in solchen Groß-, man muss ja fast sagen, Mega-Poolen wie in Tokyo erlebt, dass zum Beispiel für uns Europäer es immer wieder störend ist, dass es Deregulierungen gibt, die U-Bahnen kommen nicht, weil irgendjemand sich davorgeworfen hat. Wir regen uns auf, weil wir zu spät kommen, weil unser ganzer Time-Plan durcheinander kommt.
    Ich habe immer so etwas scherzhaft gesagt, die Japaner haben so etwas wie eine Stand-by-Schaltung. Sobald etwas nicht funktioniert, ein Zug kommt nicht, regen sie sich nicht auf, sondern sie klicken einen Schalter um – und das meine ich mit Pragmatismus – und warten einfach, weil sie sich sagen, was soll ich mich aufregen, dadurch kommt der Zug nicht schneller, und sie verfallen in so einen Ruhezustand, den wir manchmal missverstehen als Apathie.

    Koldehoff: Ist denn dieses Leben mit der ständig möglichen Katastrophe in einer Vielzahl von Möglichkeiten, naturgeschichtlich oder auch durch Naturgewalten oder auch durch äußere Einflüsse, ist das im täglichen Leben präsent, oder immer nur dann, wenn sich tatsächlich was ereignet? Anders herum gefragt: Gibt es beispielsweise Literaten, die so was verarbeiten?

    Wetzel: Ja, natürlich! Es gibt in der Literatur vor allen Dingen auch eine Auseinandersetzung mit vielen Katastrophen und vor allen Dingen auch dem Problem, was wir jetzt hier auch haben, nämlich dem Misstrauen gegenüber den offiziellen Stellen, dass zum Beispiel Katastrophen geleugnet werden, lange Zeit vertuscht werden. Wenn Sie sagen, so die Präsenz im Alltag, natürlich haben sie in Japan an jeder Ecke die Notbehelfs-Kits, sie haben sozusagen immer den Hinweis, wie verhalte ich mich im Falle eines Erdbebens, aber in den Jahren, die ich jetzt dort war – ich habe also selber nie ein spürbares Erdbeben mitgemacht - ist es so nicht ständig präsent. Sie sehen natürlich ständig, dass auch Kinder die Übungen vollziehen, aber es wird eher spielerisch gemacht.
    Also es ist nicht so, dass ständig so eine latente Bereitschaft da ist, sofort auf die Katastrophe zu reagieren, sondern das wird eigentlich, die Tatsache, dass ja nun in Japan jederzeit die Erde, Erdoberfläche brechen kann und es zu schwerwiegenden Erdbeben kommt, das wird eigentlich verdrängt.

    Koldehoff: Macht so eine Einstellung, wie Sie sie gerade aus eigener Anschauung beschrieben haben und wie sie für uns so schwer nachvollziehbar ist hier drüben im Westen, macht die einen Wiederaufbau nach einer Katastrophe auch ein bisschen einfacher?

    Wetzel: Also ich denke, dass sicherlich bei den Japanern in der Phase des Wiederaufbaus eine ungeheuere Energie freigesetzt wird. Das, was ich eher als ein Problem sehe, ist jetzt die Situation des Reagierens im Moment des Notstandes, weil das, was in Japan halt wirklich fehlt, ist so etwas wie eine individuelle Initiative. Nicht, dass die heutigen Japaner tatsächlich noch wie vor 50 Jahren Kollektivmenschen wären, aber man will natürlich vermeiden, irgendwie einen Schritt zu tun, oder irgendetwas zu tun, was aus der Konformität ausbricht.
    Insofern neigen die Japaner schon dazu, dann eher in so einen Starrzustand zu verfallen. Es wurde ja schon diese Metapher genannt, das Kaninchen vor der Schlange. Das ist nicht nur das Kaninchen vor der Schlange, sondern das ist einfach auch: Man guckt, wie der andere reagiert, und der andere guckt, wie man selber reagiert, das heißt also keiner reagiert. Das ist im Zustand oder im Moment des Aufbaus anders. Da ist ein Ziel, da ist ganz klar, es ist vorbei, es muss angepackt werden, und dann kommt, glaube ich, eine ungeheuere Energie zum tragen.

    Koldehoff: Der Kulturwissenschaftler und Japan-Kenner Michael Wetzel. Vielen Dank.


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