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Wie die Armen in Frankreich

Sie leben in feuchten, ja schimmeligen Wohnungen, zum Waschen bleibt ihnen nur der Eimer. Zahlreiche Menschen leben in Frankreich unter unwürdigen Bedingungen. Ganze 600.000 davon sind Kinder - und die trifft es am schlimmsten.

Von Angela Ulrich | 18.02.2010
    Ich habe Angst, weint der dreijährige Amin. Dabei will ihn seine Mutter nur waschen. Aber die Dusche in Amins Wohnung ist vor einigen Monaten ins Untergeschoss durchgebrochen, als der Kleine genau daneben stand. Jetzt ist das Gröbste repariert, aber die Boustekers behelfen sich immer noch mit Wassereimern.

    30 Quadratmeter groß ist die Wohnung der Familie im Osten von Paris. Sie ist feucht, in den Ecken bröckelt und schimmelt es. Mutter Stéphanie fürchtet um die Gesundheit vor allem von Amin:

    "Seit wir hier wohnen, juckt uns häufig die Haut. Wir haben Gesundheitsprobleme, und die Ärzte sagen, das liegt an der Wohnung, die nicht sauber ist."

    Nicht viel anders ergeht es einer Familie in der Nähe der Boustekers. Sie wohnt auf 36 Quadratmetern – zu sechst. Die Eltern, ihre vier Töchter. Die älteste, Farida, hat Probleme in der Schule, weil sie keine Ruhe zum Lernen findet:

    "Ich bin in der Schule oft müde. Kann mich schwer konzentrieren. Und wir laden auch niemanden ein und zeigen, wie wir wohnen - dazu schämen wir uns viel zu sehr!"

    600.000 Kinder leben in Frankreich unter unwürdigen Bedingungen, sagt die Wohnungslosen-Organisation Abbé Pierre. Und es werden immer mehr. Für Patrick Doutreligne von der Hilfsorganisation ein Skandal:

    "Dass in Frankreich, im fünftreichsten Land der Welt, dreieinhalb Millionen Menschen dürftigst hausen, ist schon nicht akzeptabel. Aber dass darunter auch noch Hunderttausende von Kindern sind, und die Regierung viele Maßnahmen zur Abhilfe immer wieder verschiebt– dass muss uns alle auf die Palme bringen!"

    Frankreichs Regierung hat immer wieder neue Sozialwohnungen versprochen. Doch für viele Familien bleibt es ein Teufelskreis. Keine Arbeit, keine Wohnung, zu wenig Geld, um erträglich zu leben. Dabei hat Frankreich nach einer Testphase erst im vergangenen Sommer eine neue staatliche Mindesthilfe eingeführt. Für Arbeitslose, Alleinerziehende, für Sozial Schwache und auch für Obdachlose. Aktives Solidaritätseinkommen, abgekürzt RSA, heißt diese Hartz-IV-Hilfe à la francaise. Sie hat Sätze, die leicht höher liegen als in Deutschland. Und anders als bei uns kann in Frankreich auch mehr gearbeitet werden, ohne, dass die staatliche Hilfe gekürzt wird. Auch die Kinder werden zusätzlich berücksichtigt.

    In einem Rechenbeispiel des Ministeriums bekommt eine Alleinerziehende Mutter rund 850 Euro. Wenn man beide Kinder hinzurechnet, werden es gut 1200 Euro. Gedacht war dieses Solidaritätseinkommen, um Arbeitslose wieder in den Job zu bringen, sagt der zuständige Staatssekretär Martin Hirsch:

    "Wir wollten zeigen, dass die meisten Leute, die Sozialleistungen beziehen, eigentlich arbeiten wollen. Und dass man sie nicht nur mit Sozialhilfe abspeisen darf."

    Doch entscheidend neue Jobs für Hilfsempfänger hat die Maßnahme nicht gebracht. Als arm gilt in Frankreich, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnitts-Einkommens verdient, also weniger als 880 Euro. Das betrifft rund jeden achten Franzosen. Viele von ihnen hätten Anspruch auf das Solidaritätseinkommen. Im vergangenen Jahr hat dies den Staat schon rund zwei Milliarden Euro gekostet. Tendenz für die Zukunft: steigend.