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Wie die Spur des Vogels in der Luft

Ein klassisches Herrenappartement: gediegen holzgetäfelt, sachlich möbliert - nur die Elektrogerätschaften fehlen: Kein Computer, keine Musikanlage, kein Fernsehapparat. Dafür überall Bücher. Kleine Stapel, große Stapel - gleichmäßig verteilt auf ziemlich alle Tische und Stühle der Wohnung. Der hier wohnt, der Schriftsteller Hector Bianciotti, ist im Nebenberuf Literaturkritiker für die größte und angesehendste französische Tageszeitung. Ihn interessiert weniger die junge Garde der französischen Schriftsteller, sondern wie er sagt:

Brigitte Neumann | 09.04.2002
    Wenn ich für die Le Monde schreibe, dann über tote Dichter, weil sie es sind, die man heute gerne ignoriert. Man denkt, man weiß alles über sie, dabei weiß man gar nichts. Ich schreibe über die, die man vergessen hat.

    Der 72-jährige darf sich selbst ganz offiziell zu den unvergesslichen zählen. Er trägt den Titel Immortel - Unsterblicher - verliehen von der Academie Francaise:

    Für mich hat das wenig geändert, aber für meine Familie in Argentinien ist diese Auszeichnung sehr wichtig. Dass einem Mitglied der vormals verachteten italienischen Gemeinde Argentiniens diese Ehre zuteil wird, das erfüllt sie mit Stolz. Denn die Italiener sind ja nicht eine Minderheit im Land, sondern die Hälfte des Volkes. Ich habe auch nicht verstanden, dass ich zum Mitglied der Academie francaise gewählt wurde. Wieso man mich gefragt hat, Mitglied einer kleinen Gruppe zu werden, die ihr korrektes Academie-Französisch pflegt. Dann wurde mir klar, dass derjenige, der als Franzose geboren wurde, sich gewisser Dinge in der Sprache gar nicht bewusst ist.

    Der Schriftsteller Hector Bianciotti ist ein Wanderer zwischen den Welten. Zwischen den Kontinenten, den gesellschaftlichen Klassen und den Sprachen. Nicht nur, dass der Sohn armer italienischer Einwanderer in Argentinien schon mit sieben die Parole ausgab: Il faut quitter la terre - womit er meinte, dass er nicht wie seine Eltern und Geschwister Bauer werden wollte.

    Mit vierzehn war ihm ebenfalls klar, dass weder das Italienische noch das Spanische die Sprachen sein würden, mit denen er sein Leben verbringen wollte. Im Franziskanerkloster, in das er mit 12 gegen den Willen seines Vaters eintrat, verlor er dann zwar seine Leidenschaft für Gott, aber er entdeckte eine andere, die für die französischen Dichter. Hector Bianciotti:

    Der Abt gab mir ein wenig Geld und sagte: Du kannst einmal im Monat nach Cordoba gehen und dir Bücher kaufen. Aber nur unter der Bedingung, dass du sie nicht an deine Kameraden ausleihst. (kichert) Außerdem lag im Kloster die Sonntagszeitung aus, in der viel über Literatur stand. Und da habe ich eines Tages über den Tod eines Unbekannten gelesen: Paul Valery. Und Paul Valery wurde für mich zu einem Erlebnis - er ist es immer noch. Seine Werke stehen dort im Regal. Die Bücher sind fast zerrissen, weil ich sie immer wieder lese. Sie sind für mich wie eine Bibel. Und damals habe ich Lust bekommen, ihn im Original, auf französisch zu lesen. Es gab nur zwei Prosabände von Valery, die ins Spanische übertragen waren. Die anderen habe ich mir beschafft und mit Hilfe eines zweisprachigen Wörterbuchs übersetzt.

    Noch ein paar Jahre vergingen mit Bianciottis Versuchen, in Buenos Aires als Schauspieler Fuß zu fassen. Einen Tag saß während der argentinischen Militärdiktatur im Gefängnis. Sein Vergehen: Er trug hangenähte italienische Slippers, in den Augen der Polizei ‚Frauenschuhe'.

    1954 besorgte Bianciotti sich eine Schiffspassage nach Europa. Ein Jahr in Italien, fünf in Spanien verlebte er in großer Armut. Dann nahm ihn eine Malerin als ihren Assistenten mit nach Paris. Dort brach endgültig mit seiner Vergangenheit, begann auf Französisch zu schreiben - erst Buchbesprechungen für den Nouvelle Observateur, dann Bücher.

    Hector Bianciotti sagt, er habe die Sprache seiner Heimat verloren. Ganz langsam und stetig. Aber er versichert, dass dieser Verlust nicht schmerzhaft war:

    Trotzdem möchte ich niemandem raten, seine Sprache zu wechseln. Das Schreckliche ist: Man hört nie auf, die neue Sprache zu lernen. Man hat Angst vor den Fehlern, die man machen könnte. Zwar bewundern mich die Leute wegen meines Französisch, aber ich denke so bei mir: Wenn sie wüssten.

    Bianciotti, der alle seine Bücher von einem Übersetzer ins Spanische übertragen lässt, fühlt sich jedoch nicht in einer Art sprachlichem Niemandsland:

    Ich habe das Spanische zwar verloren, aber es wäre eine Sache von vielleicht sechs Monaten, es wieder zu lernen. Aber ich habe keine Lust dazu. Und was das Französische angeht, ich glaube es ist ein sehr gutes Französisch, das ich schreibe. Ein Französisch, das die Leute erstaunt. Weil sie nie diese Worte benutzen würden, die ich benutzt habe.

    Hector Bianciotti hat nie aufgehört, sich als Neuling in der französischen Sprache zu fühlen. Als einer, der ihre Begriffe aus einer neuen Perspektive sieht. Vorteil der Fremdheit: eine Kultur unvoreingenommen und deutlicher zu erkennen als die Alteingesessenen, ohne den Ballast der Tradition. Denn wenig erscheint dem Fremden selbstverständlich.

    Bianciottis Autobiographie, deren letzter Band nach einem Bibelwort"Wie die Spur des Vogels in der Luft" heißt, thematisiert des Schriftstellers vorübergehende Rückkehr in die Heimat. Im würdigen Ornat eines Mitglieds der Akademie francaise sieht der kleine Goucho aus Cordoba nach vierzig Jahren erstmals seine acht Geschwister wieder. Kein herzliches Wiedersehen - eher eine beklemmende Szene von Ehrfurcht, Angst, und Einsamkeit. Für Hector Bianciotti ist es erneut eine Reise in die Fremde. In die Fremde der eigenen Erinnerung. Bianciotti jongliert mit diesen Erinnerungen, nennt sie dunkle Schatten, Phantome, zweifelt an ihrer Wahrhaftigkeit. Ob er die Armut der Kindheit beschreibt, das cholerische Temperament des Vaters, den Mord an Tochter eines anderen Bauern, Nilda; die Liebe zu einem Klosterbruder - alles bleibt im Vagen, als wäre Bianciottis Vergangenheit ein Traum, seine Wurzeln solide verankert in der Luft. Unumstößliche Tatsachen scheint es für ihn nicht zu geben. Vielmehr wechselt die Farbe der Erinnerungen ungefähr so wie die Farbe des Ozeans, die durch die Tiefe des Wassers und die Farbe der Wolken bestimmt wird. Aber das Glück des Lesers ist, dass er überhaupt ins Wasser schauen darf. Und Hector Bianciotti ihm darin einiges zeigt. Zum Beispiel die Phantasie vom ‚Kind in sich' , die gleichzeitig das Ende des Buches darstellt. Zitat:

    Ich habe so manches Mal versucht, es im Stich zu lassen, mich von ihm abzuwenden, es zu verleugnen. Aber ohne es ist kein Weg mehr da, auf dem ich mich entfernen könnte. Es wird noch an meiner Seite sein, wenn der Tod mich ereilt ...Und dann wird es sich zu mir setzen, und zum letztenmal werden wir beide der Ebene lauschen, in der man der Zeit zuhören kann. Aber jetzt ist es schon in der Ferne und geht auf einem Weg aus weißem Papier davon. Wohin, zu wem? Man kann beim Abschied die ganze Welt aus den Augen verlieren. ... Und ich höre das Raunen des Lebens, das sich heimlich entfernt und sich verflüchtigt - wie ein Tautropfen auf einem Grashalm, wie die Gischt auf dem Kamm der Wellen, wie die Spur des Vogels in der Luft.

    Dichter nennt man ihn in Frankreich hochachtungsvoll( nicht Autor), seine Prosa philosophisch, metaphysisch, einzigartig heutzutage. Die Kritiker scheinen selbst ins Träumen zu geraten, wenn sie über Bianciottis Werke schreiben. Einer schrieb gar, der verehrte Dichter jage den Geheimnissen ihre letzten Wahrheiten ab. Mit solchem Lobgeschütz will Hector Bianciotti aber nichts zu tun haben. Bianciotti:

    Manchmal denke ich, dass ich die Literatur nur deshalb liebe, weil ich nicht in der Lage bin, Musik zu schreiben. Was ich speziell am Schreiben aber doch mag, das ist, ein Wort mit einem anderen bekannt zu machen. Und wenn ich einen Satz mit einer bestimmten Aussage aufschreibe und bemerke: da ist eine Silbe zu viel. dann opfere ich die Idee lieber, ändere die Worte, anstatt die Musik des Satzes zu verlieren. Denn: ich glaube nicht an die Wahrheit. Die Wahrheit ist etwas sehr Relatives, denn niemand kennt sie: Die Wahrheit.

    Wie die Spur des Vogels in der Luft ist ein völlig unmodernes Buch; es ist so up to date wie ein katholisches Hochamt in lateinischer Sprache, manchmal ein wenig gravitätisch im Tonfall, und was die Handlung angeht: Über lange Strecken gibt's keine.

    Aber wer immer die Geduld aufbringt, die Tiefe von Bianciottis Gedankenbilder auszukosten, dem gehen die Augen auf und der fühlt sich anschließend auf eine tatsächlich geheimnisvolle Art ein wenig über den Dingen. Auf eine leicht religiöse Art ‚high'. Ein absolut einzigartiges, feierliches Gefühl.

    Nach alldem ist es Kein Wunder, dass ein solcher Schriftsteller sich herzlich wenig für die schnöde Politik interessiert. Noch nicht einmal für die, die verantwortlich ist für den rasanten Abstieg seines Heimatlandes. Wie Argentinien von einem reichen Land - nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren die USA und die meisten europäischen Länder gegenüber Argentinien hoch verschuldet - zu einem Land der Dritten Welt werden konnte, er hat keine Idee.

    Und ob nun der Peronist Eduardo Duhalde der geeignete Mann ist, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen: Wahrscheinlich nur mit Hilfe der Europäer, meint Bianciotti und sagt weiter:

    Wissen Sie, die Sache mit dem Peronismus ist so: Es ist wahr, dass der jetzige Präsident sich als Peronist bezeichnet. Aber niemandem, der Argentinien regieren will, bleibt eine andere Wahl. Denn die meisten Argentinier - vielleicht nicht die in der Hauptstadt Buenos Aires - aber die Leute auf dem Land, hängen noch heute an der Person und den Ideen von Peron. Aber Ganz besonders von Evita Peron.

    Tatsächlich sank der Stern Juan Perons, der Mitte des letzten Jahrhunderts, neun Jahre lang die Regierungsgeschäfte Argentiniens führte, als seine Frau Evita dreißigjährig an Leukämie starb. Heute ist die wirtschaftliche Misere im Land so groß, dass den Leuten oft sogar das Nötigste fehlt, weiß Bianciotti, der seine Geschwister regelmäßig unterstützt:

    Wovor die Leute Angst haben - und das wird jeden Tag schlimmer - das sind die kleinen Diebe. Menschen, die stehlen, weil sie Hunger haben. Vor sechs Monaten hat einer meine Schwester fast tot geschlagen, und das für ein paar Pesos. Anderes Beispiel: Als ich das letzte Mal in Argentinien war, 1999, da hat man mich nicht allein vor die Tür gelassen. Zu gefährlich.

    Bianciotti, der sagt, mit 72 sei die Zeit die ihm noch bleibe, sehr begrenzt, hat ein kleines Buchprojekt begonnen. Drei Novellen, die so werden sollen wie Beethovens Kammermusik. Seine Klavier- und Streichquartette hält er für ein perfektes Abbild des menschlichen Lebens. Und dann beschreibt er mit bühnenreifen Gesten diese Musik:

    Da sind drei Instrumente, die eine starke Stimme bilden, sicher und gewaltig. Aber von irgendwoher schleicht sich ganz langsam eine zarte Stimme ein, man weiß nicht, woher sie kommt. Es ist die Angst. Sie kommt, wenn man sich gerade stark und sicher fühlt. So hat also mein neues Buch angefangen - mit dieser Musik.