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Wie ein Liebesgespräch

Der französische Soziologie und Philosoph Bruno Latour ist einer der herausragendsten Vertreter der Wissenschaftsforschung. 2002 erschien sein Buch "Jubilieren. Über religiöse Rede". Jetzt ist seine leidenschaftliche und kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Religion auf Deutsch erschienen.

Von Michaela Schmitz | 06.09.2011
    Wie viel Bytes hat die Religion? Eine absurde Frage? Geht es doch bei Religion nicht um Übertragung von Daten. Darüber ist man sich schnell einig. Und dennoch messen wir religiöse Rede immer wieder am Maßstab der Informationsübermittlung, meint Wissenschafts- und Akteurtheoretiker Bruno Latour. Seit über vier Jahrhunderten beherrscht das der Wissenschaft entlehnte Informationsmodell Denken und Sprechen der Moderne. Das sei eine der entscheidenden Ursachen dafür, warum uns das Reden über Religion heute so fremd geworden ist. Doch es werde kein Wissen vermittelt, kein durch Ja oder Nein berechenbarer Wahrheitswert. Hauptmerkmal religiöser Rede ist es dagegen, zu erschüttern und zu verwandeln.

    Schuld am Scheinkonflikt dieser beiden absolut unvergleichbaren Redeweisen von Wissenschaft und Religion sei die "Doppelklick-Kommunikation", meint Bruno Latour. Sie ist den Zeitgenossen heute zum Maßstab und Garanten aller Wahrheit geworden. Aber religiöse Rede transportiert keine Binärcode-Information im Null-Eins-Modus, ihr Informationsgehalt ist gleich Null. Gerade aus diesem radikalen Fehlen jeglicher Information entsteht die aktuelle tiefe Grundenttäuschung. Denn es gibt weder eine feste Referenz hinter den Worten noch ein tatsächlich existierendes Wesen hinter dem Begriff Gottes, meint Latour.

    "Die Religion führt zu nichts. (…) Keine Frage wird gelöst, kein Geheimnis offenbart, keine Sünde vergeben, kein Gebet erhört, kein Verlust gemindert (...) Wir werden kein Zeichen erhalten. Keine Antwort auf die 'großen Daseinsfragen'."

    Der Glaube an eine unveränderliche Form oder Substanz hinter den Begriffen geht genauso unvermeidlich fehl wie die Hoffnung auf eine bessere Welt jenseits der irdischen. Ursache sei die schlichte Verwechslung völlig unterschiedlicher Sprechakte von Wissenschaft und Religion. Wer die geringste Aussicht haben wolle, in zutreffender Weise von Religion zu reden, so Latour, müsse vor allem diese Welt, in der wir leben, achten.

    "Die Welt ist nicht so niedrig, dass man sie erhöhen müsste. Sie wimmelt geradezu von Transzendenzen (...) Es gibt keine andere Welt, aber verschiedene Arten und Weisen, in der vorhandenen zu leben."

    Religiöse Rede bezieht sich nicht auf ferne Räume oder weit zurückliegende Ereignisse der Vergangenheit, sondern auf das Hier und Jetzt. Es geht um Vergegenwärtigung, die ständig variierte Übertragung der immer gleichen Botschaft: ein Aufruf zur Umkehr, der das Leben derjenigen verändert, an die sie sich wendet. Einziges Kennzeichen wahrhaftiger religiöse Rede sei die Tonart, der Tonfall; eine besondere Redeweise, die gleichzeitig bewirke, was sie sage: nämlich die völlige Veränderung der angesprochenen Person. Ein Sprachspiel, das unserer Moderne völlig fremd geworden zu sein scheint.

    Vergleichbares findet Bruno Latour nur im Gespräch zweier Liebender. Im Liebesdialog entdeckt Latour eine der religiösen Rede analoge Gesprächsform, die in der Doppelklick-Kommunikation nicht aufgeht. Wie beim Reden über Religion sind die Aussagen des Liebesgesprächs nicht verifizierbar, wahr und falsch relativ – und doch enthalten beide durchaus Wesentliches: Sie verwandeln ihre Adressaten von Grund auf. Sagt nicht auch die hunderttausendfach wiederholte Formel "Ich liebe Dich" immer das Gleiche und bedeutet doch jedes einzelne Mal etwas anderes? Die ständige Erneuerung des Liebesbundes erfordert eine laufende Akzentverschiebung, eine immer wieder veränderte Klangfarbe, um wahrhaftig zu bleiben. Auch die religiöse Rede sucht immer neue Sprechweisen für die Vergegenwärtigung des Bündnisses eines virtuellen Volkes von Geretteten und Mitmenschen. Um nicht mehr, aber auch nicht um weniger geht es.

    "Bedeutet Glaube soviel wie Vertrauen, dann (...) ist er uns so unentbehrlich wie die Luft, die wir atmen. Ohne Kredit ist kein Austausch, kein Leben, Denken, Sprechen möglich. In diesem Sinne wäre der Agnostiker ein asozialer und autistischer Irrer."

    Jede neue Redeform knüpft an eine jahrtausendealte Kette von Übertragungen an. Wie der Takt unter einer Melodie greift jede Übersetzung nur das alte Thema immer wieder neu auf. Entscheidend für eine gute Übersetzung sei nicht das Was, sondern das Wie, so Latour. Wie beim Liebesdialog müsse die angemessene religiöse Redeweise, der passende Tonfall immer wieder neu gesucht werden. Deshalb gibt es kein richtiges, allzeit gültiges Sprechen über Religion, folgert Latour. Die religiöse Rede ist ein prinzipiell gefährdeter Sprechmodus; er bleibt, wie das Sprechen über die Liebe, immer fragil. Die Suche nach der richtigen religiösen Redeweise ist deshalb letztendlich ein unendlicher Kreislauf aus Hoffen, Tasten und Zweifeln. Bruno Latour stellt sich mit "Jubilieren" ganz bewusst in diese Tradition. Seine Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit religiöser Rede im Zeitalter der Postmoderne selbst ist stockend, zweifelnd, fragend, stets gefährdet und fragil. Diese kreisende Redeweise macht auch das Lesen mühsam. Doch nur in diesen unausgesetzt wiederholten Versuchen mag es gelingen, den immer schwächer gewordenen Herzschlag religiöser Rede heute noch einmal zu reanimieren.


    Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede
    Aus dem Französischen von Achim Russer
    Suhrkamp Verlag
    247 Seiten. 24,90 EUR