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"Wie einer, der zufällig vorübergeht"

Der Tod, schrieb der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann in einem Gedicht, wird kommen "wie einer, der zufällig vorübergeht…". Brinkmann starb unerwartet am 23. April 1975 in London: Er wurde im Alter von nur 35 Jahren von einem Auto angefahren und war sofort tot. Kurz darauf erschien sein Gedichtband "Westwärts 1 & 2", den er noch selber zusammengestellt hatte.

Von Christian Linder | 23.04.2005
    Eine dieser trostlosen Szenen – wahrscheinlich eine Klassenfeier – in einem schäbigen Saal in der Provinz, in Vechta bei Oldenburg; 50er Jahre. Der junge Schüler rechts im Bild hat die Erwartung, Schriftsteller zu werden, und später wird er Vechta – wo er am 16. April 1940 geboren wurde – und seine Umgebung beschreiben:

    "Geboren zu Beginn des Krieges ... katholisch verseucht."

    Der Name des Schülers: Rolf Dieter Brinkmann. In das junge Mädchen neben ihm auf dem Foto, Elisabeth Piefke, hatte Brinkmann sich verliebt, als sie beide in einer Schüleraufführung von Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" spielten, Brinkmann in der Rolle des Beckmann. Für kurze Zeit einen anderen zu spielen, tat ihm gut. Dann drängten sich aber sofort wieder die eigenen Schreckensbilder auf: das langsame Sterben der Mutter und ihre Todesschreie, der Vater, der nach ihrem Tod bald wieder heiratete.

    Wie Rolf Dieter Brinkmann später seine frühen Erfahrungen und Erinnerungen direkt autobiographisch wie auch fiktional versetzt als Produktionsmittel genutzt hat, ist in seinen Büchern nachzulesen, in Erzählungsbänden wie "Raupenbahn" oder dem Roman "Keiner weiß mehr", die diffuse und zerstückelte Stimmungs– und Wahrnehmungswelten ausbreiten, die Brinkmann auch in vielen Hörspielen akustisch entfaltet hat, in grellen Szenarien.

    In Köln, wohin Brinkmann 1962 gezogen war und wo er, nach einer Buchhändler-lehre in Essen, als freier Schriftsteller lebte, zumeist in erniedrigender finanzieller Not, sah man ihn oft einsam durch die Straßen wildern, fotografierend.

    Den Schnappschuss hat Brinkmann auch literarisch als Methode bejaht. Vor allem in seinen Gedichten handhabte er diese Methode virtuos. Schon seine frü-hen Gedichte aus den 60er Jahren in den Bänden "Die Piloten" oder "Standphotos" haben Expressivität und eine bestimmte Direktheit und Sinnlichkeit in den Vorstellungen und sind verblüffend in den darin angebotenen Assoziationen.

    Man spürt zwar immer – vor allem in den Prosatexten – die Orientierungsvorbil-der; die erste Identifikation bot ihm Louis Ferdinand Céline, dann der nouveau roman und am Ende William S. Burroughs, was vor allem in den Hörspielen erkennbar ist. Aber Brinkmann hat sich innerhalb dieser Modelle mit einer solchen Vitalität und mit so viel Verve bewegt, daß seine Texte doch immer auch seine eigenen persönlichen Dinge geworden sind.

    Die massive, von dem Wunsch zu gefallen ganz freie Hochspannung des Schreibens, die den unmittelbaren Zugriff auf Realität in ihnen ermöglicht hat, gefiel der Literaturkritik von Anfang an. Als Person gefallen konnte und wollte Brinkmann gegen Ende seines kurzen Lebens aber weiß Gott nicht mehr.

    Mit seiner manchmal ziellosen und übertriebenen Wut hatte er alle noch verbliebenen Freunde verscheucht. Bei all seiner Expressivität war er auch ein schwer gehemmter Mensch, innerlich wie im praktischen Leben. Eine dissonante Persönlichkeit. Zwischendurch, wenn er von seinen Ängsten befreit war, war er ein sehr liebenswürdiger und warmherziger und anlehnungsbedürftiger Mensch, bis er wieder meinte, er habe seine Seele verloren und sein Ich verraten, und dann wurde er wieder aggressiv.

    Diese Kehrtwendung kam immer. Für die Spannung in seiner Person, für seine Ängste und Visionen hat er als Schriftsteller aber einen Ausdruck gefunden, und mit den Gedichten seines posthum erschienenen Buches "Westwärts 1 & 2" – Brinkmann starb am 23. April 1975 bei einem Verkehrsunfall in London – kam ein großer Nachruhm, der bestätigt wurde durch das Erscheinen des Buches "Rom, Blicke", einer wüsten Textcollage, in der Brinkmann die Wirklichkeit zer-schnitt und als seine persönliche Phantasmagorie wieder zusammenfügte.

    Der Tod war schon immer mitten in seinem Leben gewesen, wußte er selber, und er hat diese Erfahrung von Beginn seines Schreibens ausgedrückt:

    "Vergangenheit macht sich fest"

    "Am liebsten höre ich Stille."