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Wie es damals war - im Jahre 1156

Der Verein Historischer Besiedlungszug in Sachsen erinnert an das Jahr 1156, als Markgraf Otto von Wettin fränkische, thüringische und niedersächsische Männer und Familien anwarb. Sie sollten den Miriquidi, den wilden Wald in Mittelsachsen, in Besitz nehmen und in den Tälern der Striegis eine neue Heimat gründen. Auf den Spuren der sächsischen Siedler kann man noch heute wandern.

Von Franz Lerchenmüller | 15.07.2012
    Langsam dringt die Sonne durch den Dunst, der aus den feuchten Wiesen steigt, taucht die hellgrauen Zelte in freundliches Licht und trocknet die Rücken der grasenden Pferde. Noch schläft das Lager, noch dämmern Esel und Ziegen vor sich hin.

    "Es ist sieben Uhr drei, ihr Siedler. Und es ist schönes Wetter. Für eine kurze Etappe nach Wechselburg. Aufstehn!"

    Zelte gehen auf. Männer in knielangen Hosen und Schnabelschuhen staksen wie Störche durch das nasse Gras zum Waschplatz, Kinder mit verstrubbelten Haaren stolpern hinter ihnen her. Frauen rücken ihre Hauben zurecht und hängen Schaffelle zum Trocknen über den Zaun.

    Es ist ein Julimorgen in der Gegenwart - aber es ist ebenso irgendein schöner Sommertag im Jahre 1156. Die Siedler sind unterwegs, heute wie vor fast tausend Jahren. Der 18. Historische Besiedlungszug erinnert an den ersten, als Markgraf Otto von Wettin fränkische, thüringische und niedersächsische Männer und Familien anwarb. Sie sollten den Miriquidi, den wilden Wald in Mittelsachsen, in Besitz nehmen und in den Tälern der Striegis eine neue Heimat gründen. Wer da vor allem kam, erzählt Andreas Lohs vom Verein Historischer Besiedlungszug

    "Meistens verstoßene Söhne aus Bauersfamilien. Der Erstgeborene übernahm den Hof der Eltern, die späteren Söhne wurden vom Hof weggejagt und mussten sich eine eigene Zukunft aufbauen. Mit ihrem Vieh und ihrem ganzen Hab und Gut zogen die bei den Eltern aus, bei ihrem jüngeren Bruder, und kamen hierher zu uns. Da gab es zentrale Sammelorte, dort wurde dann, wie heute, wie wir es nachstellen, ein Treck bis zu 200 Personen zusammengestellt. Ein Lokator kam vornean, und der führte den Tross an."

    Der Lokator hier und heute ist der stimmgewaltige Franko Beck. Er ist Weckdienst, Platzwart, Kummerkasten, Außenminister und noch einiges mehr:

    "Bei unserm Besiedlungszug ist der Lokator einer von einem sogenannten Organisationsteam und er repräsentiert als Person das Geschehen auf dem Platz, also die Ankunft der Wagen, den Aufbau der Wagenburg usw. - der hat offiziell in den neun Tagen das Sagen."

    Vor den Dixieklos bilden sich inzwischen Schlangen, rund um das Kreuz in der Mitte des Platzes versammelt sich eine Handvoll Menschen zu einer kurzen Morgenandacht.

    Im Verpflegungszelt sitzen die Ersten bei Brot, Käse und Aufschnitt - bunt gemischt durcheinander: der Event-Manager vom Bodensee und die Krankenschwester aus Dresden, der Verkehrsingenieur, die Erzieherin, der pensionierte Bauleiter. 180 Menschen, von sieben Monaten bis knapp achtzig Jahren, sind neun Tage zusammen zwischen Leipzig und Chemnitz unterwegs.

    Es wird Zeit zum Aufbruch. Schnell und geübt werden Zelte zusammengefaltet und Koffer und Taschen zu den Planwagen geschleppt. Die Kutscher schirren an. Auch der Schmied, Andreas Vogel, packt seine Werkstatt zusammen.

    "Unterwegs geht halt doch mal ein bisschen etwas kaputt, sind alte Wagen, und wenn die zu reparieren sind, reparier ich die, und wenn nichts zu reparieren ist, dann fang ich an zu schmieden. Die Siedler, manchmal wollen die ein Messer haben, oder Schmuck, ganz kleine Sachen, einfache Sachen."

    Die Logistik ist aufwendig. Alexander Lötsch belädt gerade seinen großen Lkw.

    "Toilettenzeug, Waschstrecke, die man da drüben sieht, mit den Paletten, Duschen haben wir mit rangebaut, und Wasserhähne, dann bringen die Gaukler ihr Zeug, was halt nicht auf die Wagen, weil es zu schwer wird, mit druff, Fundsachen werden auch bei mir abgegeben, es kommt halt alles auf den Lkw mit druff."

    Noch eine "Fettbemme", ein Schmalzbrot, für den Weg, Punkt zehn ist Abmarsch.

    Die Vorhut bilden zwei Polizisten hoch zu Ross, die den Verkehr regeln. Dann folgen drei "Reisige" des Markgrafen, junge Männer mit Lanzen und Harnisch, die den Zug vor Räubern und Wölfen schützen. Dahinter rollen die Wagen an, bepackt mit Truhen, Bündeln und Werkzeug, und dann setzt sich das Fußvolk in Bewegung. 47 Pferde, 15 Planwagen, sieben Esel, eine Ziege, diverse Hunde und 180 Tagelöhner, Mägde, Bauern und undurchsichtiges Volk sind wieder unterwegs.

    Aufbrechen, Weiterziehen - genau darum geht es, meint der Lokator.

    "Die Siedler unterwegs: Dass die laufen müssen, dass die ihr Zelt aufbauen müssen, und dass sie sich um sich selber kümmern müssen, das ist das Ziel, was wir damit verfolgen. Wir sind Menschen des 21. Jh. Das spiegelt sich in der Verpflegung wieder. Wer will neun Tage Hirsebrei essen, oder Kräuter aus dem Wald? Wir haben schon normale Gerichte- aber auch das Gesellige ist ja auch wichtig. Dass die Leute losgelöst sind von dem Normalen, von Hotels, sondern einfach auf der grünen Wiese lagern und die örtlichen Gegebenheiten nehmen und auch die Wetterkapriolen hinnehmen müssen."

    Zwischen 15 und 25 Kilometer legt der Zug pro Tag zurück, 135 Kilometer werden es nach neun Tagen sein. Die Pferde machen Tempo. Wer Blasen hat oder sehr jung oder sehr alt ist, darf auch mal auf den Wagen steigen.

    Auf und ab durch die sanften Hügel Mittelsachsens marschiert ein Zug von Menschen in staubgrauen Wollhosen, sandfarbenen Leinenkitteln, dunkelgrünen Tuniken und beigen Kapuzen. Ein Bauernhaufen ist es, halbwegs stilecht, denn Armbanduhren, Handys und iPods sind streng verpönt.
    Was bringt Leute wohl dazu, ihren Urlaub zu opfern, freiwillig kratzige Klamotten anzuziehen, sich Blasen zu laufen und auf der Landstraße durchregnen zu lassen?

    "Das Zigeunerleben hat mich schon immer interessiert und ich wollte immer von einem Ort zu andern ziehen, und dann hab ich gehört, dass es so was gibt, mit Planwagen und Pferden, und dann dachte ich, jetzt kann ich's endlich mal machen. Es ist zum Teil auch wirklich anstrengend, man geht bei jedem Wetter und man muss das Zelt aufbauen und abbauen, und abends ordentlich Feste mitfeiern, also es ist schon kein Kinderspiel, aber es ist total schön."

    - "Ich finde es eine total interessante Gemeinschaft, in den einfachen Lebensstil mal wieder zurück, von diesem Überfluss. Ich bin zwar gerne viel draußen, aber hier hat man das live mal, dass man den ordentlichen Regen überstehen muss und dann wieder im Zelt zurechtkommen. Das ist einfach schön, dass man das Land, sein eigenes Umfeld wieder mal so erleben kann."

    - "Zu schwatzen, zu wandern, einfach alles mal zu lassen, ohne Radio, ohne Telefon oder Uhr, das braucht man. Die Kleidung an sich ist ja ganz einfach. Ich brauch mich nicht umzuziehen, wenn ich einen Fleck draufhab, einfach so, das Gelöstsein brach ich."

    - "Ich glaub, das ist das Aussteigen. Zeit anhalten. Viel lachen - wir lachen in der Woche oder in zwei Tagen, wie wir sonst das ganze Jahr nicht lachen. Das ist auch ein geistiges Aussteigen. Relaxen. Dem Körper etwas anderes geben. Und der Seele vielleicht ein bisschen Balsam. Ich hab schon ne Affinität dazu, zur Geschichte. Ehrfürchtig. Was war denn damals, Otto von Wettin, Meißen, der Bursche sagt, was mach ich denn so, ich hol die rein, es gibt die Zweitsöhne, die sich verdingen mussten, das ist einfach für die ne Chance, sich auszahlen zu lassen, loszugehen, hab da ne richtige Achtung davor."

    Die Idee zu dem Zug hatte der inzwischen verstorbene Geschichtslehrer Wolfgang Hunger aus Langstriegis. Er gründete einen Verein, suchte gleich verrückte und Geldgeber, und 1994 machte sich tatsächlich der erste Zug mit 120 Teilnehmern auf den Weg. Es folgte ein Auf und Ab im Verein, aber Jahr für Jahr fanden sich genügend Freiwillige, die alte Kohle- oder Heuwagen umbauten, Kleidung nähten, neue Routen abfuhren, Nutzungsgenehmigungen einholten und das Catering organisierten. Der Zug fand und findet Jahr für Jahr statt, sagt Andreas Lohs.

    "Das Interesse ist ungebrochen. Im Gegenteil, es werden immer mehr. Wir haben jetzt einen festen Stand von 180 Personen, haben aber immer noch 50 Personen auf der Warteliste."

    Am Spätnachmittag erreicht der Zug den neuen Lagerplatz in Seelitz. Der Lokator gruppiert die Planwagen im Kreis, erste Biere finden liebevolle Abnehmer.

    Aus den umliegenden Dörfern trudeln Gäste und die lokale Presse ein. Der Zug ist überall ein Ereignis und war von Anfang an als solches gedacht. Schon lassen die drei Jungs von "Fabula" ihre Dudelsäcke und Schellen erklingen. Und der Jongleur schwingt seine Keulen.

    Nach dem Abendessen lädt das Theater Anfisa zum "Gestiefelten Kater".

    Die Gruppe hat sich in den letzten Jahren zusammengefunden. Und präsentiert bei jedem Zug ein anderes Märchen der Gebrüder Grimm.

    Dann bricht die Nacht herein. Und wie ein Magnet zieht das Lagerfeuer Menschen aus dem Dunkel. Rotwein kreist, man plaudert, man erinnert sich: Es gab schon viel anstrengendere Besiedlungszüge, erzählt Sandy Beck, die das Teezelt organisiert:

    "Es hat jeden Tag geregnet, es ging früh los, es war klamm, es hat genieselt, wir mussten die nassen Zelte zusammenpacken, dann sind wer losgelaufen und im Laufe des Tages wurde es meist ein bissel trockener. Dann ist man angekommen, hat die Zelte aufgebaut, dann sind sie einigermaßen getrocknet, dann wurden die Sachen wieder getrocknet - und dann fing es wieder an, zu regnen. Es war trotzdem schön, weil dann alle zusammengekuschelt sind und man sich einfach näher gekommen ist. Und wenn die Sonne scheint, sitzen sie alle irgendwo im Schatten rum und stöhnen: Ach, ist da warm."

    "Voriges Jahr, da waren gefühlte 85 Grad. Da war es so brühsiedend heiß, der Besiedlungszug, ein Tag war absoluter Stressregen, so wie wir es jetzt in der Nacht hatten, das war einfach schlimm, danach war's brühsiedend heiß. Also da sind wir physisch an die Grenzen gekommen."

    Man trinkt, man hört zu, man starrt in die Flammen - und plötzlich glaubt man, zu verstehen, was diese Männer und Frauen Jahr für Jahr hier zusammenbringt: Es ist die Mischung aus Landsknechtromantik, Hippieseligkeit und Jugendbewegung. Ob Feinmechaniker oder Heilpädagogin, Landrat oder arbeitslos - jeder, der mitmacht, findet seinen Platz und eine Aufgabe. Eine Ahnung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, wenigstens für neun Tage - das ist es.

    Als das Feuer niedergebrannt ist, kuscheln die Letzten sich daneben in ihre Schlafsäcke. Gute Nacht und schöne Träume! Bis der Lokator wieder trommelt - wie immer viel zu früh.