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Wie es mit Europa weitergehen kann

Über Europa und Europas Zukunft ist schon viel gesagt worden, eigentlich fast täglich. Vor allem von Politikern. Auch Politikwissenschaftler haben eine Vorstellung davon, was die Europäische Union ist - und welchen Weg sie gehen sollte.

Von Peter Leusch | 15.11.2012
    "Europa, insbesondere die Euro-Zone, wird sicherlich staatsähnlicher werden, ohne ein ganz normaler Nationalstaat klassischer Art zu werden, dafür sind die Differenzierungen zu groß. Zweitens, den Euro wird es bestimmt auch in den nächsten Jahrzehnten als stabile Währung geben, drittens sehe ich keinerlei Gefahr einer galoppierenden Inflation. Selbst wenn über Rettungsschirme und Ähnliches die Geldmenge erhöht werden sollte, ohne dass sie gleich wieder durch die Zentralbank eingefangen wird."

    Ingo Friedrich, CSU-Politiker, 30 Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments, zeitweise Vizepräsident äußerte sich so optimistisch, wie es vom Politiker einer Regierungspartei nicht anders zu erwarten war. Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, konterte ein Tagungsteilnehmer und traf damit die Stimmung in Deutschland. Über die Konstruktionsfehler des Euro ist man sich allenthalben einig. Aber bei den Konsequenzen gehen die Meinungen auseinander: Die einen denken an einen Ausschluss Griechenlands, sogar an eine Rückkehr zur DM, andere fordern den Schritt nach vorn hin zu einer politischen Union.

    So schlug der Philosoph Jürgen Habermas in der FAZ die Einberufung eines europäischen Verfassungskonvents vor, damit die Politik nicht nur der immer schneller wachsenden Staatsverschuldung mit Hilfspaketen und Krisengipfeln hinterher hechle. Und der Politikwissenschaftler Heinz-Jürgen Axt von der Universität Duisburg-Essen überraschte mit einer interessanten These: Die EU samt ihrer Vorgänger sei immer schon eine Krisengemeinschaft gewesen. Zum Beispiel 1965 beim Streit um den Agrarpreis, wo Frankreich den EWG-Vertrag sabotierte.

    "Nach diesem Vertrag hätten Agrarpreiserhöhungen oder -senkungen mit Mehrheit entschieden werden müssen. Frankreich wollte auf jeden Fall eine Erhöhung des Agrarpreises, Deutschland und andere Staaten wollten das nicht, bei Mehrheit wäre Frankreich unterlegen gewesen. Und was hat Frankreich gemacht, damit es nicht in dieser Verliererposition ist: Es hat sich aus dem Entscheidungsgremium, dem Ministerrat, zurückgezogen und die Europäische Union konnte ein halbes Jahr lang nicht entscheiden."

    Um wieder handlungsfähig zu werden, einigte man sich darauf, in Fällen von schwerwiegendem nationalem Interesse das vertragliche Mehrheitsprinzip aufzugeben und zur Einstimmigkeit zurückzukehren. Die Europäische Gemeinschaft, so Axt, sei eine Gemeinschaft der Kompromisse. Damals zeigte sich, dass ein Vertragswerk allein nicht ausreicht, dass es auch den politischen Willen braucht, den gemeinsamen Weg weiter zu gehen.

    "Da gibt es eine schöne Parallele zu dem, was wir derzeit erleben. Im Artikel 125 des Arbeitsvertrags für die Europäische Union steht drin: Staaten haften nicht für Schulden anderer Staaten. Von daher dürfte Deutschland beispielsweise jetzt nicht für griechische Schulden aufkommen. Aber auch dieses Vertragswerk – historische Parallele – wird jetzt zur Seite geschoben und aus Eigeninteresse und Solidarität mit Griechenland haftet Deutschland jetzt auch für Schulden Griechenlands."

    Aber diese Herausforderung hat eine neue Dimension: Zwar gilt auch in Deutschland, dass die reicheren Bundesländer den ärmeren abgeben. Das ist im sogenannten Lastenausgleich gesetzlich geregelt. Und auch, wenn zwischen den Bundesländern um die Höhe der Zahlungen gerungen wird, so ist doch das Prinzip in der Bevölkerung akzeptiert, weil es von einer nationalen Solidarität getragen wird. Aber dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, diese Identifikation mit dem Nationalstaat besteht nicht in Bezug auf die Europäische Union, erklärt Matthias Rossi, Staatsrechtler an der Universität Augsburg:

    "Mein Eindruck ist in der Tat der, dass die europäische Unionsbürgerschaft, wie es heißt, von den meisten Bürgern als draufgesattelt empfunden wird. Die meisten sind sich nicht einmal bewusst, dass sie Unionsbürger sind. Und wenn man sie fragen würde, ob sie einstehen würden mit ihrem erwirtschafteten Geld für Probleme, die in Spanien, Griechenland, Portugal, in jedem anderen Staat tatsächlich bestehen, so glaube ich, wäre die Solidarität unter den Menschen bis zu einem gewissen Grade da, aber dann wäre sich sehr schnell vollständig am Ende, da bin ich mir ganz sicher."

    Europa hat kein Volk, keine gemeinsame Sprache und ungeachtet seiner langen Geschichte als gemeinsamer Kulturraum hat es nicht so starke Erinnerungsgemeinschaften hervorgebracht wie der Nationalstaat. Selbst das EU-Parlament, wo Europas Bürger doch unmittelbar repräsentiert sind, hängt weiterhin an den Einzelstaaten. Matthias Rossi:

    "Das Europäische Parlament sieht sich gerne, und ist es ein Stück weit auch, als unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ. Es wird seit 1979 direkt gewählt. Wenn man allerdings genauer hinschaut, dann stellt man fest, dass diese Direktwahl gar nicht europaweit stattfindet. Ein Deutscher hat nicht die Möglichkeit, eine französische Abgeordnete zu wählen. In Spanien darf man nicht einen dänischen Abgeordneten wählen. Sondern die Bürger in den Mitgliedsstaaten wählen "ihre" Abgeordneten. Und die bilden Kontingente im Europäischen Parlament, gruppieren sich da zwar auch nach parteipolitischen Erwägungen, aber sie verkörpern eben dann nicht das europäische Volk."

    Die gegenwärtige Krise offenbart einmal mehr, dass die Mitgliedsstaaten unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, was die Europäische Union ist und zu welchem Ziel sie weiterentwickelt werden soll. Während sich die Briten nur bedingt, fast widerwillig, beteiligen, ja sogar über ein Ausscheiden nachdenken, hat die Bundesrepublik den Vorstellungskomplex Europa hoch besetzt, erläutert die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung.

    "Wir haben diese bundesdeutsche Perspektive: Die Europäische Union als Friedensprojekt, als Projekt, das der Bundesrepublik ermöglicht hat ab Ende der 40er-, vor allem der 50er- und 60er-Jahre wieder als gleichberechtigtes Mitglied der Staatengemeinschaft aufgenommen zu werden. Wir müssen uns ab und zu klar machen, dass unsere Perspektive eine besondere ist. Nicht jeder europäische Mitgliedsstaat ist von der Vorstellung begeistert, dass diese Integration immer intensiver werden wird, insofern haben wir längst dieses Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten."

    Eine paradoxe Situation: Die Politik hat die Losung "mehr Integration" ausgegeben, weil die Geberländer, allen voran Deutschland, annehmen, nur über verstärkte Regulierung der Haushalts-, Wirtschafts- und Finanzpolitik die Krise meistern zu können. Im Ausland fürchtet man bereits, dass Europa dem preußischen Stechschritt folgen müsse. In Deutschland selbst jedoch mehren sich Stimmen, die das Erreichte betonen und zum Modell eines künftigen europäischen Bundesstaates auf Distanz gehen. Ursula Münch:

    "Da bleibt noch sehr viel übrig, was die Europäische Union dennoch sein kann: eben eine staatliche Gemeinschaft, in der nicht nur ein Großteil die gemeinsame Währung hat und gemeinsam wirtschaftet und diese Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit, die Reisefreiheit usw. ermöglicht. Unterhalb der Ebene des europäischen Bundesstaates gibt es etwas, was wirksam werden kann und im Grunde eine lebenswerte, wirtschaftlich und politisch sinnvolle Form der Zusammenarbeit ist, ohne den Mitgliedsstaaten diese nationale Souveränität soweit zu nehmen, dass sie sich beeinträchtigt fühlen."