Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


"Wie etwas so Schönes so erschreckend sein kann"

Walt Disneys Plan für den ersten abendfüllenden Zeichentrickfilm - mit Ton und in Farbe! - stand unter keinem guten Stern. Die Produktionskosten explodierten, die Fertigstellung dauerte drei Jahre - doch am Ende war der Trickfilm im Kino zur Kunstform geworden.

Von Jürgen Bräunlein | 21.12.2012
    Bei der elften Oscarverleihung am 23. Februar 1939 in Los Angeles bekam Walt Disney einen Ehrenoscar überreicht - zusammen mit sieben Miniaturstatuetten. Geehrt wurde der 37-jährige Produzent für den fast zwei Jahre alten Zeichentrickfilm "Schneewittchen und die sieben Zwerge". Begründung:

    "Walt Disney schuf einen bedeutsamen innovativen Film, der Millionen bezaubert hat und ein großes neues Unterhaltungsfeld für die Industrie erschloss."

    Mit der Erfindung der Micky Maus war Walt Disney zu erstem Ruhm gekommen und galt schnell als das Wunderkind der kalifornischen Filmmetropole. Sein Geld verdiente er mit kurzen Cartoons, die als Vorfilme in den Kinosälen ausgestrahlt wurden. Doch nur in Europa hatte man den Mut, einen ganzen Kinoabend damit zu gestalten. Walt Disney, dessen Filmstudios wirtschaftlich zu wenig abwarfen, suchte nach einem zweiten Standbein. Da er als Kind den Stummfilm "Schneewittchen" gesehen hatte, kam ihm 1934 die Idee, aus dem Grimm'schen Stoff einen abendfüllenden Zeichentrickfilm mit Ton zu machen.

    "Keiner wird auch nur einen müden Rappen zahlen, um einen Zwergenfilm zu sehen."

    … hieß es dazu in Disneys Umfeld. Mochten die Medien in Vorfreude auf den Film auch jubeln, Brancheninsider waren sich einig: Diesmal hatte sich der kreative Unternehmer übernommen. Tatsächlich wurde aus dem "Schneewittchen"-Projekt schnell eine Mammutproduktion. Das Filmteam wuchs auf 1150 Mitarbeiter an, darunter 750 Künstler, die über eine Million Zeichnungen fertigen sollten. Disney verlangte die optischen Feinheiten des Realfilms: Überblendungen, Halbtotale, Großaufnahmen, rasante Parallelschnitte und überraschende Kamerafahrten. Um optische Tiefe zu erlangen, wurden drei separat bemalte Filmstreifen übereinandergelegt. Disneys Vorschläge waren Befehle, er behielt alle Fäden in der Hand.

    "Jedes Mal wenn er in den Raum kam, in dem die Autoren saßen, erzählte er uns nochmals die ganze verdammte Geschichte des Films von vorne bis hinten. Um etwaige Missverständnisse auszuschalten. Nur hatte sich die Geschichte bei jedem dieser Vorträge völlig verändert."

    Währenddessen schossen die Kosten in die Höhe. Aus dem veranschlagten Budget von einer Viertelmillion Dollar wurden 1,75 Millionen, die geplante Produktionszeit verdoppelte sich auf drei Jahre. Um die Kreditgeber zu beruhigen, musste Disney bereits gedrehtes Filmmaterial begutachten lassen. Zudem setzten ihm die Bankiers eine Deadline, dabei hätte er lieber noch monatelang weiter an den Film gearbeitet. Der Druck, unter dem er stand, war für alle sichtbar: Walt Disney rauchte Kette, seine Haare fielen büschelweise aus. Dass seine Frau gerade ein zweites Kind entbunden hatte, bekam er nur am Rand mit.

    Als "Schneewittchen und die sieben Zwerge" schließlich am 21. Dezember 1937 seine Weltpremiere feierte, war nur Showprominenz im Carthy Circle Theatre in Hollywood zugegen, jedoch kein einziges Kind. Der erste abendfüllende Zeichentrickfilm der Welt galt als Unterhaltung für Erwachsene. Man lobte die Lebendigkeit der Szenen und den Reichtum an Details. Einige Figuren waren Idolen der Zeit nachempfunden. Der Prinz glich dem jungen Douglas Fairbanks, "Schneewittchen" erinnerte in Aussehen und Frisur an den Filmstar Janet Gaynor. Neben der individuellen Charakterisierung der sieben Zwerge beeindruckt bis heute jedoch vor allem eines: die Kraft der Farben, wie der Kritiker Tom Keogh schreibt:

    "Wenn der tödliche Apfel der bösen Königin seine Farbe vom giftigen Grün zum rosigen Rot ändert, dann ist der Effekt der Erkenntnis, wie etwas so Schönes so erschreckend sein kann, grunderschütternd. Man gibt sich dem Horror dieses Augenblickes völlig hin."

    Zum großen Erfolg des Films trug auch die Musik bei. Die acht Lieder wurden weltweite Hits und brachten den Disney-Studios zusätzlich viel Geld ein. Nach seiner ersten Laufzeit hatte "Schneewittchen" bereits 8,5 Millionen Dollar eingespielt und kam nach und nach in 46 Ländern ins Kino – hierzulande allerdings mit Verspätung. Zwar ließ sich Adolf Hitler 1938 eine Kopie des Films zukommen, doch erst am 24. Oktober 1950 hatte "Schneewittchen und die sieben Zwerge" seine Uraufführung in Deutschland. Walt Disney hat den Zeichentrickfilm zu einer eigenständigen Kunstform erhoben und dabei ganz neue Zuschauerschichten fürs Kino erschlossen.