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Wie europatauglich ist die Türkei?

Wie viel Islam verträgt Europa? Gut 95 Millionen Türken könnten im Jahre 2010 Mitglieder der Europäischen Union werden. Entschieden zu viel, findet der Bielfelder Historiker Hans-Ulrich Wehler und argumentiert darum öffentlich und bisweilen auch polemisch gegen den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Schwer fällt ihm die Vorstellung, dass sich die historisch gewachsene europäische Wertegemeinschaft den Ballast eines muslimischen Großstaates aufladen könnte. Auch auf einer vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen ausgerichteten Diskussion verteidigte der Historiker seine Thesen vehement. Rechnet die Politik etwa zuwenig mit den kulturellen Folgen eines möglichen Beitritts?

Ein Beitrag von Kersten Knipp |
    Also ich glaube schon, dass es eine Unterschätzung gibt, weil es eine jahrhundertealte Tradition in unterschiedlichen Kulturkreisen mit unterschiedlichen Religionen, und sozusagen all den kulturellen Diffusionseffekten im Alltag gibt: im Umgang mit Familie, in der Verfügung über die eigenen Kinder, in der Behandlung von Frauen, usw.. Das sind Unterschiede, und man soll sich dem stellen.

    Die EU also: ein christlicher Club? Wehler argumentiere erstaunlich unhistorisch, warf die ehemalige NRW-Ministerin für Schule, Wissenschaft und Forschung, Gabriele Behler, dem Bielefelder Historiker vor. Kulturen seien keine statischen Gebilde, sondern überaus wandlungsfähig. Eben darum, argumentierte der in Bochum lehrende Historiker Fikret Adanir, bewege sich sein Land längst erfolgreich auf Europa zu. Die Ausführungen Wehlers interpretierte er als eine Haltung, die die Religionszugehörigkeit zum alles entscheidendes Kriterium der Beitrittsfrage erhebe. Die Frage, die die Europäische Union sich stellen müssen, sei darum die,...

    ...ob man Europa grundsätzlich auf der Ebene der Religionszugehörigkeit definieren möchte. Heißt das nun, dass Muslime grundsätzlich nicht dazu gehören sollen, oder heißt es nun, dass die Türkei als großes Land nicht dazu gehören soll?

    Vielleicht letzteres. Denn beunruhigt zeigte sich Wehler vor allem aufgrund des gewaltigen demographischen Zuwachs, mit dem im Fall eines EU-Beitritts der Türkei zu rechnen sei. Eben darum müsse man sehr genau wissen, worüber in Kopenhagen in letzter Konsequenz entschieden werde:

    Nämlich den Beitritt eines meines Erachtens nicht Europa-kompatiblen muslimischen kleinasiatischen Staates, der im Beitrittsjahr 2010 - später noch mehr - mindestens 95 Millionen Angehörige hätte. Da kommt man in Größendimensionen, die als solche schon eine große Rolle spielen, und die, wenn denn die Nachfolgestaaten des untergegangenen Jugoslawien mal vor der Tür stehen und aufgenommen werden, mit drei Millionen muslimischen Bosniaken nicht auftreten.

    Doch ist die Türkei wirklich dieser religiös-weltanschauliche Monolith, der das feine Gefüge der europäischen Institutionen auf jeden Fall sprengen wird? Ist sie wirklich die kulturell fremde Nation, deren Werte mit denen Europas partout unverträglich sind? Adanir mochte diese Befürchtung nicht gelten lassen. Schließlich bemühe sich die Türkei seit 40 Jahren, die europäische Skepsis zu entkräften.

    Dagegen argumentiert man, indem man sich selbst als aufgeklärt zeigt und indem man sich selbst sagt, wir wollen die europäischen Werte, die mittlerweile universalistische Werte sind. Die wollen wir respektieren und wir wollen uns dafür einsetzen.

    Doch Wehler mochte sich nicht beeindrucken lassen. Schon aufgrund ihrer Größe könne die Türkei gar nicht anders, als eine dominante Position in der Union einzunehmen. Wenig hält er darum davon, die EU...

    ...zu belasten damit, dass man einen neuen Führungsstaat kooptiert, denn mit 90 Millionen Türken wäre die Türkei der größte Staat mit dem Anspruch auf eine politisch führende Rolle und auf finanzielle Sonderleistungen. Und das ist eine solche Belastung für den europäischen Einigungsprozess, der in meinen Augen ein bestimmtes Identitätsverständnis der Europäer voraussetzt, was ich in der Türkei nicht gegeben finde, dass ich aus den Gründen dagegen optiere.

    Wehlers harte Argumente fügten sich auch in Essen nicht recht in das milde Klima der bundesrepublikanischen Konsensgesellschaft. Ob aber die ausgefeilten kulturtheoretischen und elegant weltläufig klingenden Einwände gegen seine Thesen tatsächlich einer höheren Vernunft gehorchen, wird allein die Zukunft zeigen. In Kopenhagen jedenfalls, das wurde vorab in Essen deutlich, stehen Kulturfragen von größter politischer Tragweite zur Entscheidung.

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