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Wie Gewalt entsteht

Mehr als ein Dutzend Neuerscheinungen aus dem niederländischen Nachbarland kam in diesem Jahr auf den deutschen Büchermarkt. Drei Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind besonders hervorzuheben. Sie widmen sich dem Alltag von Kindern und Jugendlichen auf höchst unterschiedliche Weise: Floortje Zwigtman, Karlijn Stoffels und Guus Kuijer schreiben gegen Diskriminierung und Vernachlässigung an, im realistischen Umgang mit Hoffnungsträgerm - man könnte auch sagen: mit Mutmachern - kommen sich die Schriftsteller näher.

Ein Feature von Siggi Seuß | 10.03.2007
    In Holland, da will ich nicht sein.
    Da werde ich starr wie ein Stein.
    Da geht es vornehm zu und teuer,
    Da spricht man langsam, ohne Feuer,
    Zum Tanzen auf dem Seil ist man zu tugendhaft.
    Auch hier behandelt man die Schwachen schlecht,
    Der plumpe Spießer aber kriegt sein Recht,
    Und nie geschieht ein schöner Mord aus Leidenschaft. ...

    Es hat sich viel verändert in den Niederlanden seit wir mit diesem, von Schriftsteller Guus Kuijer vorgetragenen Gedicht vor knapp fünf Jahren eine Sendung über neue Bücher holländischer Kinder- und Jugendbuchautoren eröffneten. Zwei politische Morde wurden in Holland nach den weltverändernden Ereignissen des 11. September 2001 verübt, die das verlautbarte Selbstverständnis einer toleranten, fremdenfreundlichen Gesellschaft ins Wanken brachten. Beide Morde - so scheint es - brachten die lange verdrängte Wahrheit an den Tag, dass Anspruch und Wirklichkeit holländischer Integrationsbemühungen genauso auseinanderklaffen wie in anderen mittel- und westeuropäischen Ländern.

    " Aber die Leute sehen, dass alles sich ändert und auch, dass ihre Gewohnheiten nicht mehr - da sind,"
    erzählt Karlijn Stoffels, geboren 1948, die zu den bedeutendsten holländischen Jugendbuchautorinnen zählt und die mit ihrer Tochter in einem Stadtviertel Amsterdams lebt, das als Problemviertel gilt. Für andere - nicht für sie:

    "Ich spreche nun nicht von mir aus, aber von gemittelte niederländische Viertel. Man sieht, dass man sich anpassen muss an diese Immigranten und das will man nicht. Man findet, dass sie sich anpassen sollen an uns. Aber es gibt zwei Seiten und dann kam das mit Amerika - 11. September. "Es bewegt sich zu wenig im Lande" - diesen Eindruck wollte Guus Kuijer - der Vater der literarischen Figuren von "Polleke" und "Maslief" - mit dem kritischen Holland-Gedicht eines längst verstorbenen Lyrikers wiedergeben. Eine weitverbreitete Stimmung unter holländischen Künstlern. Trotz alledem - nach wie vor gibt es bei uns erstaunlich viele Kinder- und Jugendbücher holländischer Autoren und Autorinnen, die ein buntes, ein kritisches, aber keineswegs ein starres Bild ihres Landes liefern.

    Mehr als ein Dutzend Neuerscheinungen kam bei uns in diesem Jahr auf den Büchermarkt. Drei greifen wir dieses Mal heraus. Die Schriftsteller widmen sich dem Alltag von Kindern und Jugendlichen auf höchst unterschiedliche Weise. Einer eher mit einem Blick in die inneren, die seelischen Welten Heranwachsender: der 64-jährige Guus Kuijer. Zwei andere eher mit Blick nach draußen. Die eine Schriftstellerin - Karlijn Stoffels - auf das Leben vor ihrer Haustür. Und die dritte - die junge Autorin Floortje Zwigtman, 32 Jahre alt - mit Blick auf das Leben in einer anderen Zeit und in einem anderen Land. Sie beleuchtet das, was sich viele Menschen tagtäglich fragen: Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann. Und deshalb muss der Roman auch als Sinnbild des gegenwärtigen Lebens verstanden werden.

    "Ich heiße Floortje Zwigtman und ich bin Schriftstellerin. Ich bin sehr in History, die Geschichte interessiert und wenn du viel liest über die Geschichte, kommst du eigentlich wieder, wieder und wieder zu den gleichen Dingen. Es gibt Kriege, es gibt Verträge, und die Menschen sind immer beschäftigt, die Geschichte zu wiederholen. Ja, sie ist schön, aber auch die grausamen Dinge werden wiederholt. Und viele Menschen vergessen die Geschichte."

    "Wolfsrudel" - ein Roman, der die Leser nicht zur Ruhe kommen lässt. Wer ihn in der Nacht liest, glaubt sich von Vampiren umringt. Wir werden mitgerissen von schrecklichen Ereignissen in zwei Welten, die der gegenwärtigen so fern nicht scheinen, obwohl die eine hundert Jahre, die andere sogar über ein halbes Jahrtausend zurückliegt.

    "Ich war Anfang der 90er Jahre Grundschullehrerin. Das war zur Zeit des Krieges auf dem Balkan. Wir hatten eine Menge Flüchtlingskinder an unserer Schule, aus Kroatien und aus Bosnien. Das waren sehr, sehr gute Schüler - ziemlich normale Kinder, die lachten und spielten. Aber irgendetwas an ihnen war nicht normal.

    Zum Beispiel schlug sich ein Mädchen auf dem Spielplatz das Knie auf und die Wunde blutete ziemlich stark. Aber das Kind weinte nicht. Es hatte offensichtliche Schmerzen, aber es weinte nicht. Danach hab ich die Mutter gefragt: "Warum weint Ihre Tochter nicht?" Und sie antwortete: "Meine Tochter weint überhaupt nicht mehr."

    Und da überlegte ich mir, dass diese Kinder Schreckliches erfahren haben mussten, von dem ich überhaupt keine Ahnung hatte. Und ich fragte mich: Warum wurden die Länder, aus denen diese Kinder kamen, zu Schlachtfelder? Schließlich war doch Jugoslawien ein beliebtes Urlaubsland für uns. Was sollte da geschehen sein? Ich informierte mich über die Geschichte des Balkans, las Bücher. Und entdeckte, dass diese Länder bereits vom Beginn des Mittelalters an Kriegsschauplätze waren. Sie lagen eingezwängt zwischen dem christlichen Abendland und dem osmanischen Reich."

    Wie kann uns ein Jugendroman so vereinnahmen? Schließlich geht es nur um drei Bauernburschen - Ion, Alexandru, Vulpe -, die das Leben in ihrem Dorf in der Walachei - irgendwann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - anödet und die sich deshalb der Räuberbande von Vulpes älterem Bruder Lupu anschließen. Sein "Wolfsrudel" raubt reiche Händler aus und schenkt einen Teil der Beute armen Bauern. Keine Toten, keine Verletzten - das ist oberstes Gebot. Bis zu diesem Zeitpunkt scheint sich die Geschichte auf dem Niveau eines spannenden Abenteuerromans zu bewegen. Aber dann:

    ""Heute hat es den ersten Toten gegeben. Es geschah noch mehr oder weniger zufällig, und sie hocken jetzt traurig beieinander, aber ich sehe neues Blutvergießen voraus. Der erste Mord ist immer der schwierigste."

    Eh wir uns verlesen, kommt ein zweiter Erzählstrang ins Spiel, der der Geschichte nicht nur eine andere Zeitebene hinzufügt, sondern sie aus der Welt eines gewöhnlichen Abenteuerromans hebt. Das Treiben der jugendlichen Räuber spiegelt sich in realen Ereignissen Mitte des 15. Jahrhunderts, als die Walachei ein Fürstentum war und zwischen den Mächten der Kreuzritterphalanx und des osmanischen Reiches zerrieben wurde. Ort der Handlung in beiden Jahrhunderten: Kloster Snagov, wo die Gebeine des gefürchteten Fürsten Vlad Tepes, genannt Dracula, und seines ungleichen Bruders Radu ruhen.

    "Es gab eine größere Diskussion darüber in der Öffentlichkeit. Kritiker behaupteten in ihren Rezensionen, die Geschichte sei für Kinder zu gewalttätig, ja, es wurde sogar behauptet, es ginge um "Gewalt als Unterhaltung". Aber mir ging es nur um die Natur der Gewalt. Wie kann Gewalt eskalieren? Wie wirkt sie? Für "Wolfsrudel" musste ich viel recherchieren und las viele, viele Bücher. Als ich mein Thema hatte - die Frage, wie Geschichte die Menschen heute beeinflusst -, hatte ich eigentlich schon das Gerüst des Romans und die meisten Plots."
    Das Erstaunliche an diesem 500-Seiten-Roman mit Glossar, Landkarte und Geschichtsexkurs: Ohne jeden konkreten Bezug zur Gegenwart nähert man sich plötzlich den Kräften, die jugendliche Bandenmitglieder zu Gewalttätern werden lassen. Den Spannungsbogen zwischen den Jahrhunderten festigt Floortje Zwigtman schließlich mit einer dritten Handlungsebene, auf der die Akteure als Marionetten in einem Spiel höheren Mächte erscheinen. Wie einst Gott und Mephistopheles im "Faust", schließen zwei geheimnisvolle Figuren, ein Schafhirt und ein Einsiedler, eine Wette über den Ausgang des Dramas, während sich die Betroffenen in der Illusion wiegen, sie seien Herren des Geschehens.

    "Ich will jungen Menschen erklären, wie schnell jeder in Gewaltakte verwickelt werden kann, wenn es zuerst auch nur kleine Taten sind. Aber der Schritt zur nächsten Stufe ist nicht schwer. Und dort kann bereits ein Mord geschehen. "
    Meisterhaft, wie Floortje Zwigtman die Fäden zwischen den Ebenen und Elementen zusammenfügt und zusammenhält. Da vergisst man schnell den dramaturgischen Mangel, dass sich der alte Erzähler Ion kaum Luft zum Atmen lässt, als er die Geschichte seines Lebens seinem Sohn an einem Abend beichtet. Wir lesen tags, wir lesen nachts. Wir sitzen auf der Ofenbank oder gar auf einem Baum im Snagover Wald und beobachten erregt das Leben um uns herum. Wir begegnen Vampiren, der Geschichte der Walachei und der bitteren Wahrheit, dass das, was geschah, wieder geschehen wird und es nichts Neues unter der Sonne gibt.

    Auch dass Marokko an einem See liegt, ist nichts Neues unter der Sonne. Wir sind in der Gegenwart und wir sind in Amsterdam. Der See heißt Sloterplas. Und man erreicht ihn, zum Beispiel, mit der Straßenbahn Nummer 17, Richtung Osdorp. Dort, in Osdorp, lebt in einem Wohnblock Karlijn Stoffels. Ihre Nachbarn sind Menschen aus mehr als 20 Nationen, vornehmlich Marokkaner, auch viele Türken und Surinamesen.

    Schon bevor sie vor zehn Jahren hierher zog, hatte sie ihre Arbeit als Französischlehrerin an einem Gymnasium aufgegeben, lebte und lebt vom Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern und gibt Woche für Woche vor allem marokkanischen Frauen im Stadtviertel Unterricht in Niederländisch.

    "Ich glaube, wenn man Emigrant ist, wenn streitet für sein Leben, dann ist man immer sehr bescheiden. Aber wenn man sieht, dass man nicht weiterkommt, dass man nie - dass die Jungen nicht in die Universität gehen, dass man keine Jobs bekommt, dass die jungen Leute keine Arbeit haben. Und die Kinder sind nicht glücklich - die sind nicht akzeptiert."

    Dort, in ihrem kleinen Appartement mit Blick auf graue Häuserreihen und gezirkelte Rasenflächen, hat sie die Geschichte von "Mojsche und Rejsele" geschrieben, einen Roman um Janusz Korczaks jüdisches Waisenhaus in Warschau, der 1999 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde.

    Ein paar Jahre später - unter dem Eindruck wachsender Fremdenfeindlichkeit im Land - veröffentlichte sie die Geschichte eines jungen Holländers marokkanischer Herkunft, die jetzt bei uns erschienen ist. Eine niederländische Literaturzeitschrift würdigte "Marokko am See" als "eines der besten multikulturellen Jugendbücher der letzten Jahre".

    Erzählt wird vom Leben des dreizehnjährigen Issa, der in Osdorp aufwächst, im gezirkelten Stadtteil, zwischen See und Hochhäusern und Gusseisenzäunen und Parkanlagen. Jetzt besucht er eine Förderschule, weil er Probleme mit der niederländischen Sprache hat. Und er hat erstmals Freunde aus "weißen" Familien.

    "Er wollte nicht daran denken, dass Kelsey, Dicky, die Lehrerin Selma und der Lehrer Kenneth in der Hölle braten würden. Bestimmt gab es eine andere Regelung für sie. Aber bestimmt würden sie nicht ins Paradies kommen. Issa würde ganz allein in den Gärten sitzen müssen, zwischen den Blumen und den schönen Frauen und den Flüssen, die hindurch flossen."

    Der Junge, der Karlijn Stoffels Nachbar sein könnte, wohnt in einem Viertel, in das sich kaum Touristen verirren und das man wegen des hohen Anteils gläubiger Muslime und arbeitsloser Jugendlicher als Problemviertel bezeichnen könnte. Wenn man jedoch, an der Schule vorbei, zum Osdorpplein spaziert und zum See, hat man einfach nur den Eindruck eines friedlich pulsierenden Geschäftslebens, in dem jede Kultur ihren Platz findet, oder zumindest eine Nische.

    "Auf dem Niveau der Viertel macht man sehr viel für die Jugendlichen. Aber man macht es nicht aus Liebe für diese jungen Leute. Nein, man macht es aus Angst. Hier hat man gesagt: "Wir müssen eine Struktur haben für die Jugendlichen, weil es anders falsch geht." - Das ist nicht die gute Motivation. Das fühlen die Kinder - die gehen nicht. Ich sehe hier, dass es mehr Integration gibt, zwischen die Leute. Aber in Presse ist es schwieriger. Ich sehe sehr viele Kontakte und sehr viele schöne Sachen. Und in der Schule sehe ich, dass es keine Probleme gibt. "

    Positive Änderungen, meint die Schriftstellerin, beginnen bereits in den Familien, im Freundeskreis und in der Nachbarschaft eines Wohnblocks. Genau darüber schreibt sie, über diese kleinen Blüten der Hoffnung zwischen Treppenhaus und Straße. Und sie tut es, ohne schulmeisterlichen oder politisch korrekten Ton. Issa, der Junge aus Osdorp, ist hin- und hergerissen zwischen den muslimischen Gepflogenheiten in einer armen marokkanischen Arbeiterfamilie und dem Traum von einem Leben, in dem sich Herkunft und mitteleuropäische Zukunft nicht fortwährend gegenseitig auf die Füße treten. Das ist immer wieder der Stoff, der Karlijn Stoffels Neugierde entfacht: Kinder, die zwischen zwei Kulturen leben, Einzelgänger.

    "Und dann geht man - ja, durch Sympathie und Liebe ist man weniger fanatisch, weil man sieht, dass es etwas gibt - Die sagen zu mir, zum Beispiel, meine marokkanischen Freunde sagen: Ja, du musst doch Muslim werden, dann kannst du auch ins Paradies kommen, mit uns. - Ich meine, es ist ein bisschen ein Witz, aber - durch diese - wenn die Kinder zusammen in der Schule sind und sie haben alle Freunde, surinamische Freunde, holländische Freunde, Hindufreunde, dann müssen sie verstehen, dass es anders ist. Aber die andere Seite, die ökonomische, die schlechte Position, die Diskriminierung - das macht die junge Leute feindlich. Das hat nichts mit Religion zu tun. Das lernen sie nicht wirklich zu Hause."

    Mit Familie und Religion, mit einem äußerst strengen christlich-protestantischen Glauben hat das zu tun, was Guus Kuijers junger Held in "Das Buch von allen Dingen" Anfang der 50-Jahre in Holland erleiden muss.

    "Eigentlich hatte ich ein ganz anderes Buch schreiben wollen. Ein rührendes Buch, über das man auch lachen kann. Es sollte von meiner glücklichen Kindheit handeln. Von meinem Vater, der mir vorm Schlafengehen auf der Geige vorspielte. So schön! Von meiner Mutter, die dazu lieblich sang. So rührend! Von meinen Geschwistern, die mich auf Händen trugen. Von meinen Freunden, die an meinem Geburtstag zum Topfschlagen kamen. Das Buch sollte "Die Abenteuer eines glücklichen Kindes" heißen."

    Kuijer tat es nicht, sondern er lässt - genialer Zug! - einen unbekannten Mann in seinem Alter (64) an die Tür klopfen, mit einem Heft unterm Arm, das der Besucher - Thomas - 1951 als Neunjähriger mit seinen Erlebnissen und Gedanken voll gekritzelt hatte. Wir ahnen: eigentlich ist es das Alter ego des Autors, denn sein Verhältnis zu den Kindheitserfahrungen in den 50-er Jahren ist durchaus zwiespältig, wie er uns beichtete, bevor er das "Buch von allen Dingen" geschrieben hatte:

    "Nein, die 50-er Jahre möchte ich gern vergessen. Ich möchte das gern verarbeiten und ich verarbeite das auch, aber es hängt natürlich zusammen mit persönlichen Schmerzen, dass ich das vielleicht noch nicht kann. Vielleicht wird es kommen. Ich weiß nicht. "

    "Ich behalte alles","

    schrieb Thomas damals in sein Tagebuch, "Das Buch von allen Dingen".

    ""Ich vergesse nichts. Ich schreibe alles auf, damit ich später noch genau weiß, was passiert ist."

    Und Guus Kuijer macht aus Thomas‘ Aufzeichnungen eine kurze Geschichte über die Angst. Ohne Umschweife. Kein Wort zuviel, keines zu wenig. Hatte Thomas eine glückliche Kindheit? Eine ausgesprochen unglückliche. Im streng gläubigen Elternhaus gebärdet sich der Vater - Anhänger einer reformierten Kirche - wie ein kleiner Herrgott, der den Sohn mit dem Kochlöffel züchtigt und die Frau schlägt, wenn sie nicht auf dem Pfad seiner Tugenden wandeln. Nur die ältere Schwester bleibt verschont - für Thomas zunächst ein Rätsel.

    Der geforderte Verhaltenskodex ist menschenverachtend. Das Kind ahnt das, ohne es zu wissen. Eine der erschütterndsten Szenen der Geschichte ist die, als der Vater die Bibelschwäche seines Sohnes aus ihm herausprügeln will und der Junge mit jedem Schlag mehr und mehr den Glauben an Gott verliert.

    "Als das Schlagen endlich vorbei war und er die Unterhose über den glühenden Hintern gezogen hatte, wusste er, dass der Vater im Himmel für immer aus ihm herausgeprügelt worden war.
    "Barmherziger Herr", sagte Vater. "Sprich mir nach."
    "Barmherziger Herr", sagte Thomas.
    "Erbarme dich über uns Sünder", sagte Vater.
    "Erbarme dich über uns Sünder", sagte Thomas.
    "Du bleibst hier", sagte Vater. "Du sagst diesen Satz hundert Mal wie er zu sein hat, und dann kommst du runter." Er stampfte die Treppe hinunter. Bumm, bumm. Bumm, bumm."

    Der Autor könnte also eine furchtbar tragische Geschichte erzählen. Aber dann wären wir in der falschen Welt und bestimmt nicht in der, für die der skeptische Optimist Kuijer so geschätzt wird. Wenn Kuijer von tragischen Umständen erzählt, dann setzt er in seinen kleinen, leidenden Helden erst einmal eine Energie frei, die den Alltag erträglicher macht.

    Thomas hat das wunderbare Talent, Jesus in seiner Fantasie so lebendig werden zu lassen, dass er mit ihm wie mit einem vertrauten Kumpel sprechen kann. Und wenn der Junge auf dem Bauch im Gras liegt und verträumt in den Kanal guckt, dann sieht er sicher nicht nur Fische vorbeischwimmen, sondern gleich einen ganzen Schwarm höchst exotischer Exemplare. Schließlich ist da noch die unvergleichlich liebenswerte Art des Jungen, mit der er "das schönste Mädchen der Welt" verehrt, die 16-jährige Elisa, die ein Holzbein hat und nur noch einen Finger an der linken Hand.

    "Und ich hab ein Refugium gehabt und das hat funktioniert. Also, damit hab ich überlebt. Ich glaub, es gibt eine Kraft, eine Kraft in Kindern, womit sie wirklich vieles ertragen können."

    Natürlich ahnen wir, dass jene inneren Kräfte nicht reichen, um die Allmächtigen in die Schranken zu weisen. Dazu braucht es Menschen, die - einer elften Plage Ägyptens gleich - den Pharaonen dieser Welt entgegentreten: Frauen und Kinder. Die alte Dame aus der Nachbarschaft, die als Hexe verschrien ist, gehört dazu. Guus Kuijer führt sie so selbstverständlich in die Geschichte ein, als würde jeder von uns einen Mutmacher um die Ecke kennen, wenn er nur wollte.

    "Und wenn es gut geht, dann ist es nicht schwierig, darüber zu schreiben. Dann geht es - Das war sehr einfach. "

    So unterschiedlich die Genres auch sein mögen, in denen Floortje Zwigtman, Karlijn Stoffels und Guus Kuijer gegen die starren Steine in Holland und anderswo anschreiben, im realistischen Umgang mit Hoffnungsträger - man könnte auch sagen: mit Mutmachern - kommen sich die Schriftsteller näher. Interessant ist, dass gerade die Jüngste unter den Dreien die Skeptischste ist, was die Macht des Guten betrifft. Zwar existiert es, das Gute, in Floortje Zwigtmans "Wolfsrudel", in Gestalt von Freundschaft und Skrupel, aber die Frucht dieser Tugenden - im Sinne von Einsicht - zeigt sich erst sehr, sehr spät. In Karlijn Stoffels "Marokko am See" macht sich Courage und Hoffnung in Issas Fürsorge für sein neugeborenes Brüderchen bemerkbar oder in seiner Bewunderung für den großen Bruder, der sich aus den Zwängen der Tradition befreite, ohne seine Wurzeln zu leugnen. Und nicht zuletzt gibt es auch einen "weißen" Nachbarn, dem der Junge vertrauen kann.

    "Ja, Liebe, glaub ich. Ja, die halten sich an etwas fest. Nicht an einer Idee, aber an einem Gefühl, denk ich."

    Aber woran halten sich die Schriftsteller fest, die solche Helden erfinden? - Karlijn Stoffels hat eben einen neuen Roman geschrieben. "Königstochter - Seemannsliebchen" erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der im 19. Jahrhundert als Grabsänger das Leben Verstorbener besingt. Der Roman wurde für die "Goldene Eule" nominiert, den renommierten belgischen Literaturpreis für Bücher, die in Niederländisch geschrieben wurden.

    Ihre junge Kollegin Floortje Zwigtman hat diesen Preis schon zweimal erhalten, für "Wolfsrudel" und eben für "Adrian Mayfield", einen Roman über einen schwulen jungen Mann im viktorianischen England.

    "Ich mag Adran Mayfield, den Helden meines nächsten Romans. Ihm geht‘s immer wieder dreckig, aber jedes Mal rappelt er sich wieder auf."

    Auch Guus Kuijer bekam für "Das Buch von allen Dingen" die belgische "Goldene Eule" und dazu noch den holländischen "Goldenen Griffel." Das klingt nach großer Wertschätzung der Literatur für junge Menschen in den Niederlanden und im flämischen Teil Belgiens. Karlijn Stoffels aber relativiert.

    "In Deutschland ist es besser, in Belgien auch. Hier Kinderbücher - das macht nichts. Nichts. Das ist nicht wichtig. Man bespricht - meine Bücher werden immer besprochen, aber dann das ist literarische - Zirkel - und niemand liest das. Ich schreibe seit zehn Jahren oder zwanzig Jahren und ich bin immer total unbekannt. Ich meine, weil ich Kinderbücher schreibe. "

    Floortje Zwigtman:

    "Die Welt der Kinder- und Jugendbücher in Holland ist so klein. Es gibt die Welt der Erwachsenenliteratur und es gibt die Welt der Kinderliteratur. Und dass es auch die Welt des Romans für junge Erwachsene gibt - an der auch Erwachsene ihre Freude haben können -, das ist ein ziemlich neue Erfindung bei uns.

    Man sieht die Schwierigkeiten, wenn Journalisten großer Zeitungen, die sich der Kinderliteratur widmen wollen, erheblichen Gegenwind von ihren Chefs zu spüren bekommen, im Sinne von "Interessiert das unsere Leser überhaupt?" Also ist es schon ein hübscher Erfolg, wenn du als Kinder- oder Jugendbuchautor überhaupt von einer großen Zeitung interviewt wirst. Das kommt nicht so oft vor."

    Ein Zustand, unter dem die drei Schriftsteller offensichtlich nicht besonders leiden. Floortje im Süden Hollands, Karlijn im Zentrum Amsterdam und Guus im Norden des Landes: Sie spielen mit Gedanken. Sie recherchieren. Die Dinge fliegen ihnen zu und kleben an der Idee wie einst die Menschen am Schwan in Ludwig Bechsteins Märchen. Manchmal folgt die wohlbekannte Angst des Schreibers vor dem ersten Wort, die Befürchtung, man könne die Figuren nicht zum Leben erwecken. Aber dann bewegen sie sich doch.

    Floortje Zwigtman:

    " Ich schreibe was mir gefällt. Grundsätzlich schreibe ich nur Bücher, die ich auch selbst gern lesen würde. Schreiben muss mir Spaß machen und ich muss die Geschichte mögen. Ich stell mir nicht die Frage, ob es interessant genug für junge Leute ist."

    Karlijn Stoffels:

    " Ja, das mach ich für mich. Ich will verstehen, was, wie - ja, ich sehe so einen Jungen und will verstehen, wie er sich fühlt oder was sein Leben ist. Das ist Neugier. Ja, dann fang ich an zu schreiben. ... In meinem Schlafzimmer, am Computer. Ich schrieb schon, wenn ich acht Jahre alt war, auf der Maschine meines Vater im Office, im Kontor, im Büro. Es ist die Bewegung meiner Finger, die die Gedanken ruft. Wenn ich nicht dies mache, kommt da überhaupt nichts. "

    Karlijn Stoffels trommelt mit den Fingern auf dem Tisch und dann auf der Tastatur des Computers. Ein, zwei, drei Monate, dann ist die Geschichte fertig - und niemand kennt sie, nicht die Tochter, nicht der Verleger. Die Schriftstellerin atmet auf und widmet sich dem üblichen Procedere. So läuft das, in Holland, wo man als bedeutender Jugendbuchautor unbekannt bleibt und dabei entspannt und ohne Eitelkeiten mitten durch die Welt am See laufen kann.

    "Ich glaub schon, dass teilnehmen - dass ich nicht wirklich teilnehme. Die Schriftstellerei oder - das heißt doch: ein bisschen - wie heißt das: in meinen Seiten - ... ist ein bisschen wie mein früheres Aquarium, dass ich da daneben sitze und rein gucke. Und das ist meine Position. Das kann ich nicht ändern oder will ich auch nicht ändern. Ich möchte nicht gern mich einmischen. "