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Wie gut ist die Vitaminversorgung in Deutschland?

In einer Umfrage gab kürzlich jeder Vierte an, täglich Vitamintabletten zu schlucken. Ob das der Gesundheit nutzt? Darüber diskutierten Ernährungsexperten und Mediziner in einer Veranstaltung der Universität Hohenheim in Stuttgart.

Von Thomas Wagner | 06.07.2010
    "Wir haben vor ganz kurzer Zeit bei uns in der Klinik ein zweieinhalbjähriges Mädchen aufgenommen mit einer sogenannten Rachitis. Dieses Mädchen hatte einen schweren Vitamin-D-Mangel. Und das führt dann in diesem Alter dazu, dass die Knochen erweichen, dass es zu einer Verbiegung der Knochen kommt und nebenbei auch zu einer schweren Störung des Allgemeinbefindens. Die Muskulatur ist geschädigt. Und dieses Kind ist auch in einem ganz schlechten Befinden, alles als Folge des Vitamin-D-Mangels."

    Für Professor Berthold Koletzko vom Universitätsklinikum München ist dieses Beispiel eine Mahnung an all diejenigen, die Meldungen über Vitamin-Mangel nur allzu leichtfertig hinnehmen. Dazu gehören auch Mitmenschen, die vermeintlich ganz gesund leben, sich beispielsweise vegan ernähren, also ohne jegliche tierischen Bestandteile.

    "Wenn man sich rein pflanzlich ernährt, also ohne Eier, ohne Fisch, dann bekommt man kein Vitamin B12 mit der Nahrung zugeführt. Das merken die meisten Veganer zuerst nicht, weil sie einen gewissen Speicher für das Vitamin B12 in der Leber haben. Aber in Jahren führt das zu einer deutlichen Unterversorgung, zu einer mäßigen Blutarmut."

    Häufig, so Berthold Koletzko, machten sich die Folgen eines B12-Vitaminmangels bei schwangeren Frauen bemerkbar. Dann werde auch das ungeborene Kind nicht ausreichend mit dem Vitamin B12 versorgt.

    "Das führt dann zu einer schweren Schädigung des Nervensystems. Wir haben Kinder gesehen, die als Folge eine dauerhafte geistige Behinderung erlitten haben."

    Hier tut Abhilfe Not. Veganern rät Ernährungsexperte Berthold Koletzko vom Uniklinikum München dringend zur Einnahme von B12-Tabletten, ebenso Kindern mit entsprechenden Mangelerscheinungen, zu Vitamin-D-Präparaten. Ähnliches gilt auch für ältere Menschen. Zahlreiche Alterskrankheiten, von Demenzerscheinungen bis hin zu Herz-Kreislauf-Problemen, seien auf Vitaminmangel zurückzuführen, hieß es gestern Abend auf der Podiumsdiskussion in Stuttgart. Kurzum: In Deutschland ist die Vitaminwelt nicht mehr in Ordnung. Professor Gerhard Rechkemmer vom Max-Rubner-Institut Karlsruhe hat die Nationale Verzehrstudie herausgegeben:

    "Wir haben zwei Vitamine, für die wir in der nationalen Verzehrstudie Zwei festgestellt haben, dass eine Unterversorgung besteht. Und das ist Vitamin D und Folsäure. Das bedeutet, dass man diese beiden Vitamine hinsichtlich der gesundheitlichen Wirkung in den entsprechenden Bevölkerungsgruppen noch mal genauer anschauen muss und dann überlegen muss: Welche Strategien kann man entwickeln, um dieser Unterversorgung entgegen zu wirken?"

    Doch genau über diese Strategien zur Behebung des Vitaminmangels sind sich die Experten uneins. Klar ist: Bei extremer Unterversorgung erscheint die Verabreichung von Vitaminpräparaten sinnvoll. Aber zum Regelfall sollte dies nicht werden, findet Professor Peter Stehle, Ernährungsphysiologe an der Universität Bonn und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung:

    "Ich kann nicht generell ein Lebensmittel durch Pillen ersetzen. Ich kann nicht ein Lebensmittel, zum Beispiel Obst oder Gemüse, auf einen Inhaltstoff konzentrieren. Sondern ich weiß, dass 100 andere drin sind. Und nur den einen zuzuführen, würde ja bedeuten, die anderen hätten keine Bedeutung. Und das stimmt eben nicht. Insofern müssen wir uns bemühen, dass die Menschen das Ernährungsverhalten ändern. Und dann brauchen sie natürlich weniger Supplemente."

    Doch ist dies flächendeckend möglich? Ist es realistisch, diejenigen, die auf Pommes und fette Burger stehen, zu Blumenkohl und Rohkostsalat zu bekehren? Professor Stefan Bischof, Ernährungsmediziner an der Universität Stuttgart-Hohenheim, hegt da seine Zweifel:

    "Es wäre so schön, wenn wir das bei allen erreichen könnten. Ich glaube, das bleibt ein Wunschtraum. Im Gegenteil, wir bewegen uns zu einer mehr und mehr ungesunden Ernährung und müssen dagegen ankämpfen und haben nicht immer die Zeit, so lange zu warten, dass wir beim Menschen wirklich bewirken, dass er seine Ernährung umstellt. Wir richten damit viel Schaden an, verlieren wertvolle Zeit, die wir mit Vitaminpräparaten auffangen könnten."

    Stefan Bischof plädiert daher eher für die flächendeckende Ausgabe von Vitaminpräparaten als manch einer seiner Kollegen. Den optimalen Weg haben die Fachleute hier noch nicht gefunden. Klar ist aber auch: Ein Ausbau der Beratung hin zur besseren Ernährung bereits in den Schulen ist auf jeden Fall wünschenswert; darin besteht Einigkeit. Und auch die 'spielende' Versorgung von Schulkindern mit Vitaminen, beispielsweise im Rahmen des EU-Schulobstprogramms, erscheint hier in den Augen der Experten als gangbarer Weg. Allerdings, so Peter Stehle, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung:

    "Dann gibt es natürlich noch die Vorgabe, dass die betroffenen Länder auch etwas dazugeben. Und dann ist noch die Finanzsituation zu betrachten. Und dann kommt natürlich häufig die Antwort: Nein, wir haben kein Geld! Wir machen das nicht!"