Spektakuläre Skandale am Neuen Markt haben das Vertrauen in die Aktienmärkte rapide verschlechtert. Privatanleger sind skeptisch geworden, ob sie ihr Geld überhaupt noch in Aktien investieren sollen. Auch institutionelle Anleger wie große Unternehmen sind zurzeit eher zurückhaltend. Die Aktienkultur nicht nur in Deutschland steckt in einer Krise.
Der Aktienhandel verläuft eher in ruhigen Bahnen, er kennt anscheinend nur eine Richtung, die nach unten. Wie so ein Handelstag abläuft, dazu Oliver Böttger, Leiter des internationalen und institutionellen Aktienhandels der Deutschen Bank in Frankfurt am Main:
Wenn wir morgens ins Büro kommen, dann ist es wichtig, die Kontrolle der Vortagesgeschäfte vorzunehmen, ob alles vom Vortag richtig erfasst worden ist...und insbesondere auch die Übernachtgeschäfte anzuschauen, was war in New York noch, was war in Asien, das heißt, alle Orders genau zu kontrollieren...Dann beginnt die Informationsphase – alle volkswirtschaftlichen und unternehmensspezifischen Informationen, die einen Handelstag beeinflussen können, müssen herbeigezogen werden...Dann geht ... der Handel los, relativ früh morgens, und dann kommen im Laufe des Tages viele neue Informationen hinzu, die man als Händler aufnehmen muss. Mit der Startphase des Handels beginnen auch die Kundengespräche.
Mit dem Kunden wird dann besprochen, welche Aktien gekauft oder verkauft werden sollen. Dabei spielen natürlich Überlegungen eine Rolle, auf welcher Basis der Erfolg einer Aktie bewertet wird. Denn mit der Investition in eine Aktie soll ja auch eine Rendite erwirtschaftet werden, daher wird man nicht blind eine Aktie kaufen, sondern versuchen, den Kursverlauf zu prognostizieren.
Die Risiken beim Aktienkauf bestehen darin, dass der Kurs und damit die Rendite nicht mit Sicherheit vorhersehbar sind. Wäre das der Fall, dann könnte man regelmäßig mit sieben, acht oder zehn Prozent Rendite pro Jahr rechnen. Aktienkurse verlaufen jedoch nicht in einem stetigen Aufwärts- oder auch Abwärtstrend, sondern sie bewegen sich häufig unregelmäßig und scheinbar kaum kalkulierbar. Dennoch haben Finanzexperten immer versucht, Instrumente zu finden, um Aktienkurse richtig bewerten zu können.
Ein Bewertungsmaßstab ist beispielsweise die Fundamentalanalyse. Sie geht davon aus, dass das Unternehmen einen fundamentalen Wert hat, also Immobilien besitzt, Maschinen zur Herstellung von Waren oder Patente hat. In diese Bewertung geht darüber hinaus natürlich auch der Geschäftsverlauf des Unternehmens ein. Denn ein Unternehmen kauft und verkauft, also muss neben dem Wert von Immobilien oder Maschinen auch der Umsatz berücksichtigt werden, den ein Unternehmen macht. Daraus kann man zum Beispiel Umsatzrenditen errechnen, die ein Maßstab für den Erfolg sind.
Für den Aktienmarkt ist es besonders wichtig, Kennzahlen zu finden, die mit dem Aktienkurs in Verbindung stehen. Bei der Fundamentalanalyse spielt eine wichtige Rolle der Gewinn pro Aktienkurs. Diese Daten kann man natürlich nur rückblickend betrachten. Hatte jedoch ein Unternehmen viele Jahre lang ein gutes so genanntes Kurs-Gewinn-Verhältnis, dann kann man schlussfolgern, dass dies auch in Zukunft so sein wird. Man kann davon ausgehen, dass sich die Aktie weiterhin gut entwickelt.
Darüber hinaus gibt es noch die so genannte technische Analyse, die von einem ganz anderen Ansatz ausgeht. Sie versucht nur aufgrund von Kursverläufen zu prognostizieren, wie sich der Aktienkurs in Zukunft entwickeln könnte. Hendrik Garz, Leiter des strategischen Aktienhandels bei der WestLB Panmure [Panmure wird Englisch ausgesprochen – war englische Firma] in Düsseldorf:
Man versucht aus einer Mustererkennung heraus... Dinge abzuleiten für zukünftige Kursverläufe. Das können auch regelbasierte Systeme sein... wenn bestimmte Niveaus erreicht werden, dass dann ein Verkaufs- oder Kaufssignal ausgelöst wird. Das sind auch visuelle ...Eindrücke, die man bekommt von Kursverläufen....Entscheidend ist ... bei der technischen Analyse, dass nur mit marktendogenen Daten gearbeitet wird, mit Kursen und mit Umsätzen, und dass ... aus historischen Erfahrungswerten heraus und Abhängigkeiten in diesen Daten, das heißt Abhängigkeiten, dass man aus historischen Verlaufsmustern Erkenntnisse für zukünftige Entwicklungen herausziehen kann, und darauf basiert eigentlich die Idee der technischen Analyse.
Steigt eine Aktie zum Beispiel stetig von 20 auf 25 Punkte, dann auf 28 und schließlich auf 32 Punkte, dann kann man das als Trend interpretieren, der vermutlich anhält. Ein Analyst, der nur mit der technischen Analyse arbeitet, würde wahrscheinlich eine Kaufempfehlung für diese Aktie aussprechen.
Diese technischen Daten müssen nicht unbedingt mit den so genannten Fundamentaldaten übereinstimmen. So kann es durchaus vorkommen, dass eine Aktie steigt, das Unternehmen aber beispielsweise einen Umsatzrückgang zu verzeichnen hat. Technische Analyse und Fundamentaldaten widersprechen sich. Das kommt immer wieder vor. Der Händler oder Analyst muss dann genau prüfen, wodurch diese Differenz zu erklären ist, um die Entwicklung von Aktienkursen einschätzen zu können.
Nicht immer werden aber von den Marktteilnehmern vernünftige Gründe genannt, eine Aktie zu kaufen oder zu verkaufen. Auch sind Händler, Analysten, Anleger und die Medien von bestimmten Entwicklungen so gebannt, dass nur noch ein Kriterium in den Vordergrund tritt, dass alle anderen verdrängt. Oliver Böttger von der Deutschen Bank:
Insbesondere beim Neuen Markt haben wir gesehen, dass nicht mehr alle Beurteilungskriterien zugrunde gelegt wurden, insbesondere nur noch ein Faktor, das war der Trend. Es ging nach oben und man hat gekauft, weil alle kaufen und weil es ja nur nach oben geht. Und es sind meiner Meinung nach alle anderen Bewertungsregeln außer Kraft gesetzt worden, niemand interessierte sich für die wirkliche wirtschaftliche Situation vieler Neuer-Markt-Unternehmen, es war nur noch Phantasie und Zukunft im Spiel...Natürlich spielt auch eine Rolle die individuelle Charaktereigenschaft der Gier, man hat gesehen: die Kurse steigen weiter und das wird wahrscheinlich so weitergehen.
Besonders am Neuen Markt hatten wir es mit einem Phänomen zu tun, das mit vernünftigen Mitteln alleine nicht zu erklären ist. Die ständig steigenden Kurse waren für viele Marktteilnehmer der Beweis, dass ein neues Zeitalter der Börse angebrochen ist. Alle rannten in dieselbe Richtung, was man psychologisch als Herdenverhalten definiert. Der Druck es allen gleich zu machen, nahm auch für die Börsenprofis zu, die sich diesem Trend nur schwer widersetzen konnten, wenngleich manche Experten immer häufiger gewarnt hatten.
Dass Psychologie eine wichtige Rolle in der Wirtschaft spielt, das weiß die Werbeindustrie schon längst; dass Psychologie aber auch bei den Börsenprofis und Anlegern das Verhalten stark beeinflusst, damit beschäftigt sich die Wirtschaftswissenschaft in Deutschland erst zögernd. Meist geht man immer noch davon aus, dass in der Wirtschaft der "homo oeconomicus" handelt, dass sich also jeder Marktteilnehmer völlig rational verhält.
Dass bei Finanzentscheidungen aber ganz andere Faktoren eine wichtige Rolle spielen, das belegt die Behavioral Finance, die sich mit dem Verhalten der Börsenprofis, aber auch der privaten Anleger beschäftigt. Ein Versuch aus den Vereinigten Staaten beweist, wie leicht Anleger zu beeinflussen sind. Professor Martin Weber von der Universität Mannheim.
Wenn man Portfeuille-Theorie betreibt, sagt einem ja die Portfeuilletheorie, wie man sein Vermögen… optimal aufteilen soll. Jetzt hat die Behavioral Finance-Untersuchungen gefunden, dass viele Leute im intuitiven Verhalten Altersvorsorge-Entscheidungen davon abhängig machen von dem Formular, das man vorgelegt bekommt. Wenn man ein Formular bekommt, wo zwei Aktienfonds drauf sind und ein Rentenfonds versus einem Formular, wo zwei Rentenfonds und ein Aktienfonds, wird man im letzten Formula mehr in Rentenfonds investieren und im ersten Formular mehr in den Aktienfonds. Da ist eigentlich erschütternd, dass es von dem einfachen Formular abhängt. Behavioral Finance hilft einem jetzt, dieses Problem zu erkennen, die Leute sagen: Seid vorsichtig, da gibt es ein Problem, verhaltet euch besser nach der rationalen Theorie.
Dieses Beispiel beweist, wie wichtig Behavioral-Finance-Methoden sind, um gute Anlegeentscheidungen zu treffen. Es zeigt aber auch, dass die herkömmlichen Methoden natürlich nicht überflüssig werden. Behavioral Finance, manchmal auch Börsenpsychologie genannt, versucht herauszufinden, welche menschlichen Verhaltensweisen zu ineffizienten oder sogar falschen Entscheidungen führen. Sie belegt, dass die Menschen eben nicht immer nach vernünftigen Regeln handeln, wie das die klassische Ökonomik behauptet.
Dazu gibt es ein interessantes Spiel, das hier etwas vereinfacht dargestellt wird. Stellt man zum Beispiel Menschen vor die Wahl, dass sie mit Sicherheit 500 Euro bekommen oder aber mit einem Spiel und der Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent sogar 1000 Euro gewinnen zu können oder überhaupt nichts, dann entscheiden sich die meisten Menschen für den sicheren Gewinn von 500 Euro.
Das genau umgekehrte Spiel ergibt ein ganz anderes Ergebnis: Stellt man Menschen vor die Wahl mit Sicherheit 500 Euro zu verlieren oder aber mit einem Spiel und einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent 1000 Euro zu verlieren oder vielleicht überhaupt nichts zu verlieren, dann entscheiden sich die Menschen in der Regel zu einem Spiel, obwohl das Risiko 1000 Euro zu verlieren genauso groß ist, wie beim ersten Spiel die Chance den höheren Gewinn einzukassieren.
An der Börse hat diese Verhaltensweise oft eine fatale Konsequenz. Es handelt sich dabei um die so genannte Verlustaversion. Menschen kassieren Gewinne sehr rasch ein, wie bei unserem Beispiel, gehen jedoch Risiken ein, wenn sie Verluste machen, weil Menschen Verluste vermeiden möchten, auch auf die Gefahr großer Risiken. Daher warten Anleger oft ab in der Hoffnung, dass es schon besser werden wird, was leider häufig nicht der Fall ist. Eine Regel der Behavioral Finance heißt daher, Gewinne nicht zu schnell einzukassieren, aber Kursverlusten nicht lange untätig zuzuschauen, sondern Aktien, die im Wert fallen, bald zu verkaufen.
Wie sehr auch Profis ihre Urteile kritischer sehen sollten, kommt in der Einschätzung zum Vorschein, wie Kursverläufe von Aktienhändlern prognostiziert werden. Professor Martin Weber von der Universität Mannheim:
Ich glaube, wenn man Händler fragt, es gibt auch wissenschaftliche Evidenz dafür, sind Sie sich ihrem eigenen Urteil sicher; wenn man Händler fragt, wie steht der DAX in zwei Tagen, in einem Monat, in einem Jahr, sind sie sich ihrer Meinung viel zu sicher, geben viel zu enge Bandbreiten an, als es nach der Natur der Sache gegeben sein sollte. Sie sind sich zu sicher, overconfident wird das heute genannt. Wenn ein Händler erkennt, dass er overconfident ist, wird er zu einer besseren Einschätzung kommen und damit auch zu besserem Handelsverhalten.
In der Praxis fühlen sich Menschen oft zu sicher. Häufig werden beispielsweise an der Börse nur die Informationen wahrgenommen, die die eigene Meinung bestätigen. Das war lange Zeit auch am Neuen Markt so. Informationen, die für den enormen Kursanstieg keine realen wirtschaftlichen Fakten feststellen konnten, wurden einfach nicht zur Kenntnis genommen.
Die Behavioral Finance hat in diesem Zusammenhang herausgefunden, dass Anleger oder Händler häufig nur nach Informationen suchen, die die eigene Entscheidung rechtfertigen. Die Folge ist, dass Informationen unterdrückt werden, die auf negative Entwicklungen hinweisen. Das ist ähnlich wie bei einem Autokauf. Wer sich ein Auto leistet, der sieht nur die positiven Seiten seines Neuwagens; Kritik wird in der Regel zurückgewiesen.
Ein weiterer Aspekt, der Entscheidungen beeinflusst, ist der so genannte Ankereffekt. Menschen orientieren sich an vorhandenen Informationen, die sie als Ausgangspunkt, als Anker, für weitere Entscheidungen nehmen. Professor Martin Weber:
Es gibt da auch Untersuchungen der Behavioral Finance, dass Analysten auch psychologischen Verzerrungen unterliegen können, um es vorsichtig zu sagen. Die Frage ist, wenn sie eine Schätzung haben, hängt diese Schätzung von dem Anker, den sie vielleicht haben in Folge des letzten Jahres oder ihrer ersten Schätzung ab. Und da ist ganz klar rausgekommen, dass Analysten... ihre erste Schätzung, die über einen zukünftigen Gewinn, zum Beispiel zwei Jahren abgeben,...die erste Schätzung machen sie relativ frei und die folgenden Schätzungen hängen von diesem Anker ab, sie entfernen sich nicht mehr von diesem Anker.
Untersuchungen mit Börsenprofis belegen die Bedeutung dieses so genannten Ankers. Dazu ein weiteres Beispiel: Händlern wurde vor einigen Jahren die Frage gestellt, wie sich der Deutsche Aktienindex in nächster Zeit entwickeln könnte. Einmal gab man ihnen eine Zahl von etwa 5000 Punkten als Richtwert vor, das andere Mal von etwa 4000 Punkten. Aufgrund dieser Vorgaben sollten nun Entscheidungen gefällt werden. Es stellte sich heraus, dass die Schätzungen immer um diese Ankerwerte kreisten. Wer also die Zahl 5000 als Anker hatte, der prognostizierte den Kursverlauf um diese Zahl.
Dieses Verhalten hängt damit zusammen, dass Menschen Daumenregeln haben, nach denen sie Entscheidungen fällen. In der Wissenschaft nennt man diese Regeln auch Heuristiken. In ihnen stecken Informationen, die als Grundlage für Entscheidungen dienen. Die Anzahl der Informationen nennt man auch Verfügungsheuristiken. Das sind die Kenntnisse und das Wissen, das der Händler oder Anleger besitzt. Darauf wird zurückgegriffen, wenn man zum Beispiel Aktien kauft. Kennt der Händler eine Prognose, die besagt, dass der Deutsche Aktienindex Mitte des Jahres 2003 auf 3500 Punkten stehen wird, dann besteht bei einem unerfahrenen Händler die Gefahr, dass er diesen Wert als Richtschnur nimmt und andere Informationen ausblendet.
Die Kursstürze an den Aktienmärkten der letzten Jahre hat man auch mit der Verfügungsheuristik erklärt. Viele Händler waren sehr jung, viele Anleger sehr unerfahren, sie kannten das Börsengeschehen nur seit kurzer Zeit. Informationen darüber, dass sich auch Crashs wie 1987 entwickeln können, kannten sie nicht, weshalb sie den Kursverlauf viel zu optimistisch eingeschätzt haben.
Die Gefahr besteht also, dass man bei Aktienkäufen zu schnell nur die Daten zur Kenntnis nimmt, die rasch verfügbar sind. Informationen, die man erst mühsam recherchieren muss, werden dann vernachlässigt, was zu erheblichen Fehlentscheidungen führen kann. Behavioral Finance ist so gesehen nichts anderes als der Versuch, immer darauf zu achten, dass man die eigene Psychologie kennt und diese in die Entscheidungen mit einbezieht. Joachim Goldberg, Geschäftsführer der Firma Cognitrend, die praktische Behavioral-Finance-Beratung durchführt:
Wir brauchen nach wie vor eine Ökonomie, um beurteilen zu können, wie müsste diese Welt aussehen, wenn alles rational wäre. Auf der anderen Seite brauchen wir die Behavioral Finance, um festzustellen, wie die Welt momentan genau ist, wie die Aktienmarktteilnehmer tatsächlich Informationen bewerten. Wenn ich weiß, dass ein Aktienmarktteilnehmer bestimmte Informationen ignoriert, die er eigentlich wahrnehmen müsste, nach dem Lehrbuch, dann weiß ich auch, dass er einen Grund dafür hat, dass er Informationen ignoriert, gerade heute, wo wir alle Informationen fast zum Nulltarif bekommen können. Das hat einen einzigen Grund: sie passen ihm nicht ins Engagement. Und da kann die Behavioral Finance ansetzen und sagen: aha, die Marktteilnehmer sind offensichtlich mehrheitlich in einer bestimmten Weise positioniert, da kann sich Gefahrenpotential aufbauen, gerade bei der Frühwarnsystematik könnte ich mir vorstellen, dass hier sehr viel geleistet werden könnte.
Behavioral Finance ist der Versuch, herauszufinden, warum sich zum Beispiel die Aktie eines Unternehmens schlechter entwickelt als die Fundamentaldaten dies eigentlich erwarten lassen. Vermutlich sind dann psychologische Effekte dafür verantwortlich. So schätzen derzeit manche Experten, dass der DAX etwa 20 bis 30 Prozent unterbewertet ist, also die reale Situation besser ist als die Kursverläufe. Psychologische Faktoren scheinen derzeit die Börse sehr zu beeinflussen.
Wie das Verhalten der Marktteilnehmer allerdings zu ändern ist, wenn eben zu sehr psychologisch und nicht vernünftig gehandelt wird, das ist eine offene Frage, die auch dadurch bedingt ist, dass die Behavioral Finance eigentlich noch keine Wissenschaft ist. Denn viele Vorschläge und Überlegungen sind aus verschiedenen Wissensgebieten entlehnt worden: der Psychologie, Sozialpsychologie, der Soziologie, und selbst aus der Gehirnforschung werden Erkenntnisse aufgegriffem, wenn man durch sie eine Möglichkeit sieht, Ereignisse auf den Aktienmärkten besser erklären zu können. Diese vielfältigen Anregungen sind noch nicht so in wissenschaftliche Konzepte integriert, dass sie von allen Experten wirklich akzeptiert würden.
So fordern manche Wissenschaftler, dass die Behavioral Finance einen Standard erreichen muss, den die so genannte Mikroökonmoik hat. Die Mikroökonomik erklärt, wie sich Preise auf Märkten unter welchen Umständen bilden. Die Behavioral Finance wäre in der Tat eine gute Ergänzung dieser zum Teil sehr mathematischen Theorie, die zwar die Preisbildung auf den Gütermärkten gut erklären kann, bei den Aktienmärkten jedoch erhebliche Defizite aufweist. Insofern wäre die Behavioral Finance nicht nur eine gute, sondern auch eine notwendige Ergänzung.
Noch immer ist die Ökonomik skeptisch gegenüber psychologischen und verhaltensbasierten Methoden. Daher wird es noch einige Zeit dauern, bevor Behavioral Finance neben den traditionellen Bewertungsmethoden der Fundamentalanalyse und der technischen Analyse gleichberechtigt stehen wird. Dass dies so sein wird, davon ist Hendrik Garz überzeugt, Leiter des strategischen Aktienhandels bei der WestLB Panmure in Düsseldorf:
Ich denke Behavioral Finance wird letztlich das neue Paradigma für die Finanzmärkte sein. Man kann das im Grund ganz gut beschreiben mit einem Zitat von Schopenhauer, der gesagt hat: jeder Wahrheit durchläuft drei Stufen, zuerst wird sie lächerlich gemacht, dann bekämpft, dann ist sie selbstverständlich. Ich denke, wir befinden uns zwischen der zweiten und dritten Stufe. Dass man Behavioral Finance auch sehr ernst nimmt, im wissenschaftlichen Bereich, das ist ja auch durch die Erkennung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften im letzten Jahr an die Ökonomen Kahnemann und Smith deutlich geworden. Man hat Behavioral Finance lange Zeit bekämpft, aber mittlerweile konvertieren immer mehr Ökonomen in dieses Lager. Und ich denke, es gibt keinen anderen Weg, weil es einfach zu viele Phänomene an den Kapitalmärkten gibt, die sich absolut nicht mit der herkömmlichen, traditionellen Ökonomie erklären lassen. Daher gibt es keine Alternative dazu , diese Faktoren in eine ökonomische Theorie zu integrieren.
Der Aktienhandel verläuft eher in ruhigen Bahnen, er kennt anscheinend nur eine Richtung, die nach unten. Wie so ein Handelstag abläuft, dazu Oliver Böttger, Leiter des internationalen und institutionellen Aktienhandels der Deutschen Bank in Frankfurt am Main:
Wenn wir morgens ins Büro kommen, dann ist es wichtig, die Kontrolle der Vortagesgeschäfte vorzunehmen, ob alles vom Vortag richtig erfasst worden ist...und insbesondere auch die Übernachtgeschäfte anzuschauen, was war in New York noch, was war in Asien, das heißt, alle Orders genau zu kontrollieren...Dann beginnt die Informationsphase – alle volkswirtschaftlichen und unternehmensspezifischen Informationen, die einen Handelstag beeinflussen können, müssen herbeigezogen werden...Dann geht ... der Handel los, relativ früh morgens, und dann kommen im Laufe des Tages viele neue Informationen hinzu, die man als Händler aufnehmen muss. Mit der Startphase des Handels beginnen auch die Kundengespräche.
Mit dem Kunden wird dann besprochen, welche Aktien gekauft oder verkauft werden sollen. Dabei spielen natürlich Überlegungen eine Rolle, auf welcher Basis der Erfolg einer Aktie bewertet wird. Denn mit der Investition in eine Aktie soll ja auch eine Rendite erwirtschaftet werden, daher wird man nicht blind eine Aktie kaufen, sondern versuchen, den Kursverlauf zu prognostizieren.
Die Risiken beim Aktienkauf bestehen darin, dass der Kurs und damit die Rendite nicht mit Sicherheit vorhersehbar sind. Wäre das der Fall, dann könnte man regelmäßig mit sieben, acht oder zehn Prozent Rendite pro Jahr rechnen. Aktienkurse verlaufen jedoch nicht in einem stetigen Aufwärts- oder auch Abwärtstrend, sondern sie bewegen sich häufig unregelmäßig und scheinbar kaum kalkulierbar. Dennoch haben Finanzexperten immer versucht, Instrumente zu finden, um Aktienkurse richtig bewerten zu können.
Ein Bewertungsmaßstab ist beispielsweise die Fundamentalanalyse. Sie geht davon aus, dass das Unternehmen einen fundamentalen Wert hat, also Immobilien besitzt, Maschinen zur Herstellung von Waren oder Patente hat. In diese Bewertung geht darüber hinaus natürlich auch der Geschäftsverlauf des Unternehmens ein. Denn ein Unternehmen kauft und verkauft, also muss neben dem Wert von Immobilien oder Maschinen auch der Umsatz berücksichtigt werden, den ein Unternehmen macht. Daraus kann man zum Beispiel Umsatzrenditen errechnen, die ein Maßstab für den Erfolg sind.
Für den Aktienmarkt ist es besonders wichtig, Kennzahlen zu finden, die mit dem Aktienkurs in Verbindung stehen. Bei der Fundamentalanalyse spielt eine wichtige Rolle der Gewinn pro Aktienkurs. Diese Daten kann man natürlich nur rückblickend betrachten. Hatte jedoch ein Unternehmen viele Jahre lang ein gutes so genanntes Kurs-Gewinn-Verhältnis, dann kann man schlussfolgern, dass dies auch in Zukunft so sein wird. Man kann davon ausgehen, dass sich die Aktie weiterhin gut entwickelt.
Darüber hinaus gibt es noch die so genannte technische Analyse, die von einem ganz anderen Ansatz ausgeht. Sie versucht nur aufgrund von Kursverläufen zu prognostizieren, wie sich der Aktienkurs in Zukunft entwickeln könnte. Hendrik Garz, Leiter des strategischen Aktienhandels bei der WestLB Panmure [Panmure wird Englisch ausgesprochen – war englische Firma] in Düsseldorf:
Man versucht aus einer Mustererkennung heraus... Dinge abzuleiten für zukünftige Kursverläufe. Das können auch regelbasierte Systeme sein... wenn bestimmte Niveaus erreicht werden, dass dann ein Verkaufs- oder Kaufssignal ausgelöst wird. Das sind auch visuelle ...Eindrücke, die man bekommt von Kursverläufen....Entscheidend ist ... bei der technischen Analyse, dass nur mit marktendogenen Daten gearbeitet wird, mit Kursen und mit Umsätzen, und dass ... aus historischen Erfahrungswerten heraus und Abhängigkeiten in diesen Daten, das heißt Abhängigkeiten, dass man aus historischen Verlaufsmustern Erkenntnisse für zukünftige Entwicklungen herausziehen kann, und darauf basiert eigentlich die Idee der technischen Analyse.
Steigt eine Aktie zum Beispiel stetig von 20 auf 25 Punkte, dann auf 28 und schließlich auf 32 Punkte, dann kann man das als Trend interpretieren, der vermutlich anhält. Ein Analyst, der nur mit der technischen Analyse arbeitet, würde wahrscheinlich eine Kaufempfehlung für diese Aktie aussprechen.
Diese technischen Daten müssen nicht unbedingt mit den so genannten Fundamentaldaten übereinstimmen. So kann es durchaus vorkommen, dass eine Aktie steigt, das Unternehmen aber beispielsweise einen Umsatzrückgang zu verzeichnen hat. Technische Analyse und Fundamentaldaten widersprechen sich. Das kommt immer wieder vor. Der Händler oder Analyst muss dann genau prüfen, wodurch diese Differenz zu erklären ist, um die Entwicklung von Aktienkursen einschätzen zu können.
Nicht immer werden aber von den Marktteilnehmern vernünftige Gründe genannt, eine Aktie zu kaufen oder zu verkaufen. Auch sind Händler, Analysten, Anleger und die Medien von bestimmten Entwicklungen so gebannt, dass nur noch ein Kriterium in den Vordergrund tritt, dass alle anderen verdrängt. Oliver Böttger von der Deutschen Bank:
Insbesondere beim Neuen Markt haben wir gesehen, dass nicht mehr alle Beurteilungskriterien zugrunde gelegt wurden, insbesondere nur noch ein Faktor, das war der Trend. Es ging nach oben und man hat gekauft, weil alle kaufen und weil es ja nur nach oben geht. Und es sind meiner Meinung nach alle anderen Bewertungsregeln außer Kraft gesetzt worden, niemand interessierte sich für die wirkliche wirtschaftliche Situation vieler Neuer-Markt-Unternehmen, es war nur noch Phantasie und Zukunft im Spiel...Natürlich spielt auch eine Rolle die individuelle Charaktereigenschaft der Gier, man hat gesehen: die Kurse steigen weiter und das wird wahrscheinlich so weitergehen.
Besonders am Neuen Markt hatten wir es mit einem Phänomen zu tun, das mit vernünftigen Mitteln alleine nicht zu erklären ist. Die ständig steigenden Kurse waren für viele Marktteilnehmer der Beweis, dass ein neues Zeitalter der Börse angebrochen ist. Alle rannten in dieselbe Richtung, was man psychologisch als Herdenverhalten definiert. Der Druck es allen gleich zu machen, nahm auch für die Börsenprofis zu, die sich diesem Trend nur schwer widersetzen konnten, wenngleich manche Experten immer häufiger gewarnt hatten.
Dass Psychologie eine wichtige Rolle in der Wirtschaft spielt, das weiß die Werbeindustrie schon längst; dass Psychologie aber auch bei den Börsenprofis und Anlegern das Verhalten stark beeinflusst, damit beschäftigt sich die Wirtschaftswissenschaft in Deutschland erst zögernd. Meist geht man immer noch davon aus, dass in der Wirtschaft der "homo oeconomicus" handelt, dass sich also jeder Marktteilnehmer völlig rational verhält.
Dass bei Finanzentscheidungen aber ganz andere Faktoren eine wichtige Rolle spielen, das belegt die Behavioral Finance, die sich mit dem Verhalten der Börsenprofis, aber auch der privaten Anleger beschäftigt. Ein Versuch aus den Vereinigten Staaten beweist, wie leicht Anleger zu beeinflussen sind. Professor Martin Weber von der Universität Mannheim.
Wenn man Portfeuille-Theorie betreibt, sagt einem ja die Portfeuilletheorie, wie man sein Vermögen… optimal aufteilen soll. Jetzt hat die Behavioral Finance-Untersuchungen gefunden, dass viele Leute im intuitiven Verhalten Altersvorsorge-Entscheidungen davon abhängig machen von dem Formular, das man vorgelegt bekommt. Wenn man ein Formular bekommt, wo zwei Aktienfonds drauf sind und ein Rentenfonds versus einem Formular, wo zwei Rentenfonds und ein Aktienfonds, wird man im letzten Formula mehr in Rentenfonds investieren und im ersten Formular mehr in den Aktienfonds. Da ist eigentlich erschütternd, dass es von dem einfachen Formular abhängt. Behavioral Finance hilft einem jetzt, dieses Problem zu erkennen, die Leute sagen: Seid vorsichtig, da gibt es ein Problem, verhaltet euch besser nach der rationalen Theorie.
Dieses Beispiel beweist, wie wichtig Behavioral-Finance-Methoden sind, um gute Anlegeentscheidungen zu treffen. Es zeigt aber auch, dass die herkömmlichen Methoden natürlich nicht überflüssig werden. Behavioral Finance, manchmal auch Börsenpsychologie genannt, versucht herauszufinden, welche menschlichen Verhaltensweisen zu ineffizienten oder sogar falschen Entscheidungen führen. Sie belegt, dass die Menschen eben nicht immer nach vernünftigen Regeln handeln, wie das die klassische Ökonomik behauptet.
Dazu gibt es ein interessantes Spiel, das hier etwas vereinfacht dargestellt wird. Stellt man zum Beispiel Menschen vor die Wahl, dass sie mit Sicherheit 500 Euro bekommen oder aber mit einem Spiel und der Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent sogar 1000 Euro gewinnen zu können oder überhaupt nichts, dann entscheiden sich die meisten Menschen für den sicheren Gewinn von 500 Euro.
Das genau umgekehrte Spiel ergibt ein ganz anderes Ergebnis: Stellt man Menschen vor die Wahl mit Sicherheit 500 Euro zu verlieren oder aber mit einem Spiel und einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent 1000 Euro zu verlieren oder vielleicht überhaupt nichts zu verlieren, dann entscheiden sich die Menschen in der Regel zu einem Spiel, obwohl das Risiko 1000 Euro zu verlieren genauso groß ist, wie beim ersten Spiel die Chance den höheren Gewinn einzukassieren.
An der Börse hat diese Verhaltensweise oft eine fatale Konsequenz. Es handelt sich dabei um die so genannte Verlustaversion. Menschen kassieren Gewinne sehr rasch ein, wie bei unserem Beispiel, gehen jedoch Risiken ein, wenn sie Verluste machen, weil Menschen Verluste vermeiden möchten, auch auf die Gefahr großer Risiken. Daher warten Anleger oft ab in der Hoffnung, dass es schon besser werden wird, was leider häufig nicht der Fall ist. Eine Regel der Behavioral Finance heißt daher, Gewinne nicht zu schnell einzukassieren, aber Kursverlusten nicht lange untätig zuzuschauen, sondern Aktien, die im Wert fallen, bald zu verkaufen.
Wie sehr auch Profis ihre Urteile kritischer sehen sollten, kommt in der Einschätzung zum Vorschein, wie Kursverläufe von Aktienhändlern prognostiziert werden. Professor Martin Weber von der Universität Mannheim:
Ich glaube, wenn man Händler fragt, es gibt auch wissenschaftliche Evidenz dafür, sind Sie sich ihrem eigenen Urteil sicher; wenn man Händler fragt, wie steht der DAX in zwei Tagen, in einem Monat, in einem Jahr, sind sie sich ihrer Meinung viel zu sicher, geben viel zu enge Bandbreiten an, als es nach der Natur der Sache gegeben sein sollte. Sie sind sich zu sicher, overconfident wird das heute genannt. Wenn ein Händler erkennt, dass er overconfident ist, wird er zu einer besseren Einschätzung kommen und damit auch zu besserem Handelsverhalten.
In der Praxis fühlen sich Menschen oft zu sicher. Häufig werden beispielsweise an der Börse nur die Informationen wahrgenommen, die die eigene Meinung bestätigen. Das war lange Zeit auch am Neuen Markt so. Informationen, die für den enormen Kursanstieg keine realen wirtschaftlichen Fakten feststellen konnten, wurden einfach nicht zur Kenntnis genommen.
Die Behavioral Finance hat in diesem Zusammenhang herausgefunden, dass Anleger oder Händler häufig nur nach Informationen suchen, die die eigene Entscheidung rechtfertigen. Die Folge ist, dass Informationen unterdrückt werden, die auf negative Entwicklungen hinweisen. Das ist ähnlich wie bei einem Autokauf. Wer sich ein Auto leistet, der sieht nur die positiven Seiten seines Neuwagens; Kritik wird in der Regel zurückgewiesen.
Ein weiterer Aspekt, der Entscheidungen beeinflusst, ist der so genannte Ankereffekt. Menschen orientieren sich an vorhandenen Informationen, die sie als Ausgangspunkt, als Anker, für weitere Entscheidungen nehmen. Professor Martin Weber:
Es gibt da auch Untersuchungen der Behavioral Finance, dass Analysten auch psychologischen Verzerrungen unterliegen können, um es vorsichtig zu sagen. Die Frage ist, wenn sie eine Schätzung haben, hängt diese Schätzung von dem Anker, den sie vielleicht haben in Folge des letzten Jahres oder ihrer ersten Schätzung ab. Und da ist ganz klar rausgekommen, dass Analysten... ihre erste Schätzung, die über einen zukünftigen Gewinn, zum Beispiel zwei Jahren abgeben,...die erste Schätzung machen sie relativ frei und die folgenden Schätzungen hängen von diesem Anker ab, sie entfernen sich nicht mehr von diesem Anker.
Untersuchungen mit Börsenprofis belegen die Bedeutung dieses so genannten Ankers. Dazu ein weiteres Beispiel: Händlern wurde vor einigen Jahren die Frage gestellt, wie sich der Deutsche Aktienindex in nächster Zeit entwickeln könnte. Einmal gab man ihnen eine Zahl von etwa 5000 Punkten als Richtwert vor, das andere Mal von etwa 4000 Punkten. Aufgrund dieser Vorgaben sollten nun Entscheidungen gefällt werden. Es stellte sich heraus, dass die Schätzungen immer um diese Ankerwerte kreisten. Wer also die Zahl 5000 als Anker hatte, der prognostizierte den Kursverlauf um diese Zahl.
Dieses Verhalten hängt damit zusammen, dass Menschen Daumenregeln haben, nach denen sie Entscheidungen fällen. In der Wissenschaft nennt man diese Regeln auch Heuristiken. In ihnen stecken Informationen, die als Grundlage für Entscheidungen dienen. Die Anzahl der Informationen nennt man auch Verfügungsheuristiken. Das sind die Kenntnisse und das Wissen, das der Händler oder Anleger besitzt. Darauf wird zurückgegriffen, wenn man zum Beispiel Aktien kauft. Kennt der Händler eine Prognose, die besagt, dass der Deutsche Aktienindex Mitte des Jahres 2003 auf 3500 Punkten stehen wird, dann besteht bei einem unerfahrenen Händler die Gefahr, dass er diesen Wert als Richtschnur nimmt und andere Informationen ausblendet.
Die Kursstürze an den Aktienmärkten der letzten Jahre hat man auch mit der Verfügungsheuristik erklärt. Viele Händler waren sehr jung, viele Anleger sehr unerfahren, sie kannten das Börsengeschehen nur seit kurzer Zeit. Informationen darüber, dass sich auch Crashs wie 1987 entwickeln können, kannten sie nicht, weshalb sie den Kursverlauf viel zu optimistisch eingeschätzt haben.
Die Gefahr besteht also, dass man bei Aktienkäufen zu schnell nur die Daten zur Kenntnis nimmt, die rasch verfügbar sind. Informationen, die man erst mühsam recherchieren muss, werden dann vernachlässigt, was zu erheblichen Fehlentscheidungen führen kann. Behavioral Finance ist so gesehen nichts anderes als der Versuch, immer darauf zu achten, dass man die eigene Psychologie kennt und diese in die Entscheidungen mit einbezieht. Joachim Goldberg, Geschäftsführer der Firma Cognitrend, die praktische Behavioral-Finance-Beratung durchführt:
Wir brauchen nach wie vor eine Ökonomie, um beurteilen zu können, wie müsste diese Welt aussehen, wenn alles rational wäre. Auf der anderen Seite brauchen wir die Behavioral Finance, um festzustellen, wie die Welt momentan genau ist, wie die Aktienmarktteilnehmer tatsächlich Informationen bewerten. Wenn ich weiß, dass ein Aktienmarktteilnehmer bestimmte Informationen ignoriert, die er eigentlich wahrnehmen müsste, nach dem Lehrbuch, dann weiß ich auch, dass er einen Grund dafür hat, dass er Informationen ignoriert, gerade heute, wo wir alle Informationen fast zum Nulltarif bekommen können. Das hat einen einzigen Grund: sie passen ihm nicht ins Engagement. Und da kann die Behavioral Finance ansetzen und sagen: aha, die Marktteilnehmer sind offensichtlich mehrheitlich in einer bestimmten Weise positioniert, da kann sich Gefahrenpotential aufbauen, gerade bei der Frühwarnsystematik könnte ich mir vorstellen, dass hier sehr viel geleistet werden könnte.
Behavioral Finance ist der Versuch, herauszufinden, warum sich zum Beispiel die Aktie eines Unternehmens schlechter entwickelt als die Fundamentaldaten dies eigentlich erwarten lassen. Vermutlich sind dann psychologische Effekte dafür verantwortlich. So schätzen derzeit manche Experten, dass der DAX etwa 20 bis 30 Prozent unterbewertet ist, also die reale Situation besser ist als die Kursverläufe. Psychologische Faktoren scheinen derzeit die Börse sehr zu beeinflussen.
Wie das Verhalten der Marktteilnehmer allerdings zu ändern ist, wenn eben zu sehr psychologisch und nicht vernünftig gehandelt wird, das ist eine offene Frage, die auch dadurch bedingt ist, dass die Behavioral Finance eigentlich noch keine Wissenschaft ist. Denn viele Vorschläge und Überlegungen sind aus verschiedenen Wissensgebieten entlehnt worden: der Psychologie, Sozialpsychologie, der Soziologie, und selbst aus der Gehirnforschung werden Erkenntnisse aufgegriffem, wenn man durch sie eine Möglichkeit sieht, Ereignisse auf den Aktienmärkten besser erklären zu können. Diese vielfältigen Anregungen sind noch nicht so in wissenschaftliche Konzepte integriert, dass sie von allen Experten wirklich akzeptiert würden.
So fordern manche Wissenschaftler, dass die Behavioral Finance einen Standard erreichen muss, den die so genannte Mikroökonmoik hat. Die Mikroökonomik erklärt, wie sich Preise auf Märkten unter welchen Umständen bilden. Die Behavioral Finance wäre in der Tat eine gute Ergänzung dieser zum Teil sehr mathematischen Theorie, die zwar die Preisbildung auf den Gütermärkten gut erklären kann, bei den Aktienmärkten jedoch erhebliche Defizite aufweist. Insofern wäre die Behavioral Finance nicht nur eine gute, sondern auch eine notwendige Ergänzung.
Noch immer ist die Ökonomik skeptisch gegenüber psychologischen und verhaltensbasierten Methoden. Daher wird es noch einige Zeit dauern, bevor Behavioral Finance neben den traditionellen Bewertungsmethoden der Fundamentalanalyse und der technischen Analyse gleichberechtigt stehen wird. Dass dies so sein wird, davon ist Hendrik Garz überzeugt, Leiter des strategischen Aktienhandels bei der WestLB Panmure in Düsseldorf:
Ich denke Behavioral Finance wird letztlich das neue Paradigma für die Finanzmärkte sein. Man kann das im Grund ganz gut beschreiben mit einem Zitat von Schopenhauer, der gesagt hat: jeder Wahrheit durchläuft drei Stufen, zuerst wird sie lächerlich gemacht, dann bekämpft, dann ist sie selbstverständlich. Ich denke, wir befinden uns zwischen der zweiten und dritten Stufe. Dass man Behavioral Finance auch sehr ernst nimmt, im wissenschaftlichen Bereich, das ist ja auch durch die Erkennung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften im letzten Jahr an die Ökonomen Kahnemann und Smith deutlich geworden. Man hat Behavioral Finance lange Zeit bekämpft, aber mittlerweile konvertieren immer mehr Ökonomen in dieses Lager. Und ich denke, es gibt keinen anderen Weg, weil es einfach zu viele Phänomene an den Kapitalmärkten gibt, die sich absolut nicht mit der herkömmlichen, traditionellen Ökonomie erklären lassen. Daher gibt es keine Alternative dazu , diese Faktoren in eine ökonomische Theorie zu integrieren.