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Wie Pekings Bürger für Olympia aus der Hauptstadt verdrängt werden

2008 finden die Olympischen Spiele in Peking statt. Es soll ein Ereignis der Superlative werden: China will die besten, teuersten und modernsten Spiele aller Zeiten präsentieren. Bei aller Euphorie gibt es aber auch Kritik: Aufsehen erregt zum Beispiel die groß angelegte Umsiedlung in die Vorstädte, zu der tausende von Bürgern in Peking gezwungen werden.

    Su Guisheng läuft über die Trümmer seiner Existenz. Kaputte Ziegelsteine, zertrümmerte Holztüren und zerbrochene Waschbecken. Nur ein paar Mauerreste sind von der Siedlung im Pekinger Stadtbezirk Xicheng übrig geblieben. Unvorstellbar, dass hier bis vor kurzem noch über zehntausend Menschen lebten. Auch Su’s Familie bewohnte jahrzehntelang eines der einstöckigen Hofhäuser im kaiserlichen Pekinger Baustil, insgesamt 41 Quadratmeter:

    "Hier war das Badezimmer, dort in der Mitte die Küche und hier der Eingang. Vier Generationen meiner Familie sind hier groß geworden, fast 100 Jahre lang war das unser Zuhause. Jetzt haben sie uns gerade mal zwei Tage Zeit gelassen, um unsere Sachen zu packen, bevor wir vertrieben wurden."

    Sie – das ist die Bezirksregierung von Xicheng, die das ganze Viertel abreißen ließ, um Platz zu schaffen für moderne Wohnblöcke und Bürotürme in der künftigen Olympiastadt. An einem Morgen im Mai kamen die Bulldozer, und mit ihnen zwei Hundertschaften Polizei, um befürchtete Proteste der Anwohner zu unterdrücken. Es gab wütende Wortgefechte, aber keine Gewalt. Die von der Stadt versprochene Entschädigung stellte kaum eine Familie zufrieden:

    "Wir wollten ihr Geld nicht, das reichte gerade für eine Wohnung am Stadtrand. Aber wie sollen wir von dort zur Arbeit oder in die Schule kommen – das bedeutet zwei Stunden Fahrtweg pro Tag."

    Pekings Bürger bezahlen einen hohen Preis für die Modernisierung – bis 2008 soll die Stadt eine glitzernde Metropole von internationalem Rang sein. Schon jetzt können sich einfache Bürger wie Herr Su die Mieten nicht mehr leisten. Langfristig sollen 15 Millionen Einwohner am Stadtrand siedeln und nur noch zwei Millionen in der Innenstadt. Pekings Bürgermeister Wang Qishan sieht das als unvermeidliche Entwicklung hin zu einer modernen Weltstadt: "Wir hätten die alten Viertel sowieso abreißen müssen, die Olympiade hat diesen Prozess nur beschleunigt."

    Am Bauboom verdienen chinesische Funktionäre und Immobilienspekulanten gleichermaßen. Pekinger Kader kassieren bei den Firmen ab, denen sie staatliche Boden-Rechte zuschanzen. Im Viertel von Herrn Su erklärten sie die Häuser kurzerhand für einsturzgefährdet. Das drückte die Entschädigung und damit die Kosten für Neubauten. Alle Proteste der Bewohner nützten nichts:

    "Sie haben behauptet, wir wohnten hier ohnehin illegal, weil wir keine Eigentums-Urkunden besäßen. Das fällt ihnen jetzt ein, nachdem wir fast 100 Jahre hier gelebt haben. Sie hoffen auf einen Riesen-Profit und wollen uns mit Brosamen abspeisen."

    Bis 1949 war Peking eine der ältesten Hauptstädte der Welt. Einen Großteil des kaiserlichen Kulturerbes zerstörten danach die Kommunisten, ein weiterer fiel seit Beginn der 90er Jahre dem kommerziellen Bauboom zum Opfer. Zwar hat die Stadt Peking vor kurzem ein Gesetz erlassen, dass den Abriss historischer Häuser unter Strafe stellt – doch Geldstrafen von umgerechnet 18-tausend Euro können Korruption und Geschäftemacherei nicht bremsen. Das wird sich spätestens 2008 bitter rächen, fürchtet Hua Xinmin:

    "Viele Touristen kommen ja nicht nur wegen Olympia, sondern um sich das alte Peking anzuschauen. Dass die Altstadt schäbig ist und für 2008 modernisiert werden muss, ist nur eine Ausrede der Regierung. Schließlich finden die Sportveranstaltungen außerhalb des zweiten Rings statt. Die alten Hofhäuser stören da überhaupt nicht, im Gegenteil."

    Frau Hua ist halb Chinesin, halb Französin und hat eine von vielen Bürgerinitiativen für den Erhalt der historischen Pekinger Altstadt gegründet. Größtes Problem sind ungeklärte Eigentumsverhältnisse, sagt Hua Xinmin. Denn viele Hofhäuser sind nie enteignet worden, sondern bis heute de facto in Privatbesitz. Aber ohne Papiere und ohne Rechtssicherheit ist eine Sanierung unmöglich:

    "Viele Bewohner würden ihre baufälligen Häuser gern renovieren. Aber sie wagen es nicht, weil sie nicht wissen, ob und wann die Häuser abgerissen werden. Wer weiß, vielleicht schon am nächsten Tag. Niemand gibt ihnen Informationen."

    Auch Ren Tiejun wehrte sich mit Händen und Füßen, sein Hofhaus im Xicheng-Bezirk zu verlassen. Bisher mit Erfolg – wie eine kleine Trutzburg steht es inmitten von Mauerresten der zerstörten Wohnsiedlung. Die eiserne Haustür führt in einen winzigen Hof, wo ein Feigenbaum Schatten spendet. An einer Wäscheleine baumelt ein Bügel mit frisch gewaschenen, noch tropfenden Strümpfen, als Sitzgelegenheit dienen niedrige Bambushocker. Ren Tiejun weiß, dass er in dieser Idylle nur auf Zeit lebt. Doch er wagt es nicht, gegen die betrügerischen Machenschaften der Bezirksregierung zu klagen:

    "Kein Anwalt wagt es, solche Fälle vor Gericht zu bringen. Er würde seine Lizenz riskieren. Zudem ist der Vizepräsident des Bezirksgerichts gleichzeitig der Chef des Bau-Amtes. Wer von uns hätte gegen ihn schon eine Chance?"

    In der Tat ist Widerstand gefährlich. Die Menschenrechts-Organisation Amnesty International hat solche Fälle dokumentiert. Ye Guozhan wurde wegen "Störung der öffentlichen Ordnung" zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte es gewagt, offiziell gegen den Abriss seines Hauses zu protestieren.

    "Das Recht auf Wohnung ist ein grundlegendes Menschenrecht. Aber unser Recht ist durch nichts geschützt. Das ist nicht wie bei Euch in Deutschland. Kein Wunder, dass die USA der chinesischen Regierung Menschenrechtsverletzungen vorwerfen!"

    Doch das lauter zu sagen, als im Schutz seiner Hofmauern ist auch für Ren undenkbar. Er zuckt die Schultern: "Wir haben kaum Hoffnung, wir können nichts tun außer: warten."