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Wie Peter Gabriel den Pop entdeckt hat

Der ehemalige Genesis-Sänger Peter Gabriel ist lange als Paradiesvogel mit Hang zum Avantgardismus durch die Musikgeschichte gegeistert. Bis 1986 sein Album "So" erschien. Ein lupenreines Popalbum, inklusive herzergreifendem Duett mit Kate Bush.

Von Bernd Lechler | 20.10.2012
    Eigentlich nicht weiter bemerkenswert: wenn ein Sänger auf seinem Albumcover sauber frisiert in die Kamera guckt. Bei Peter Gabriel jedoch war es ein Signal. Der Mann hatte verspiegelte Kontaktlinsen getragen, seinen Kopf rasiert, sich zum Affen geschminkt und Coverfotos mit Säure entstellt. Ein vormaliger Progrocker eben, der so theatralisch auftrat, wie er klang.

    Bei Genesis als Blume oder Monster verkleidet, natürlich zu zwanzigminütigen Monsterkompositionen. Als Solist schlüpfte er in die Rolle des nächtlichen Einbrechers oder stürzte sich in sonstwie düstere Psycho-Abgründe. Wahnsinn und Drama, Rollen und Masken, diesmal legte er sie ab.

    Er schrieb das sehr direkte In Your Eyes als Liebeslied an seine Frau, die ironisch-protzige Yuppie-Satire Big Time sowie den Katalog sexueller Anspielungen namens Sledgehammer. Positive Lieder neben den melancholischen. Lustige sogar. Dabei war Gabriel gar nicht sooo gut drauf, sondern dabei, seine Ehe zu kitten und sein seelisches Chaos in Therapiestunden zu sortieren. Doch die Platte sollte nicht düster werden.

    Reisen nach Brasilien und Afrika inspirierten einen organischeren Sound, und seiner Liebe zum Soul der Sechziger wollte er auch mal nachgeben - er flog dann für die Bläsersätze von Sledgehammer nach New York zu Wayne Jackson, den er in den Sechzigern als Trompeter seines Idols Otis Redding auf der Bühne gesehen hatte.

    Überhaupt brauchte Gabriel für seine neuen Seiten auch neues Personal. Er engagierte den Produzenten Daniel Lanois, den er bei der Arbeit am Soundtrack zu Alan Parkers Film Birdy kennengelernt hatte. Er investierte sein knappes Budget in gleich drei Topschlagzeuger, darunter Stewart Copeland von The Police, und pickte sich unter lauter hervorragenden Aufnahmen die besten heraus. Er reiste in den Senegal, um einen jungen Sänger zu treffen, verpasste ihn und ließ ihn am Ende nach England fliegen: Youssou N'Dour wurde mit dieser spontan improvisierten Session weltbekannt.

    Und Kate Bush kam, für Don’t Give Up. Peter Gabriel hatte sich erst Dolly Parton als Duettpartnerin gewünscht, aber wer weiß, ob die Gospelballade dann nicht sentimental geworden wäre.

    Kate Bush ließen sie ihren Part direkt im Regieraum singen, während alle anderen drumherum saßen. Nicht die einzige ungewöhnliche Maßnahme: Als Gabriel ewig seine Texte nicht fertig bekam, sperrte Lanois ihn in eine Abstellkammer und nagelte die Tür von außen zu. Nach einer halben Stunde befreite er seinen tobenden Auftraggeber, wirklich gefruchtet hatte es nicht. Die Platte sprengte mehrere Deadlines. Für den abschließenden Mix etwa ließ Gabriel einen Tontechniker für großzügig kalkulierte sechs Wochen aus den USA nach England kommen. Er blieb zehn Monate.

    Einige wenige puristische Fans mäkelten hinterher, der Titel So sei ein Kürzel für sell-out, für Ausverkauf. Dabei bedeutet er übrigens gar nichts, Peter Gabriel hatte die zwei Buchstaben nur seiner Plattenfirma zugestanden, die nach vier namenlosen Soloalben endlich mal überhaupt einen Titel wollte. Und er hatte für seine neue Zugänglichkeit nichts an Tiefe geopfert. Er sang außer über Liebe und Sex, ja über Arbeitslosigkeit und Wachstumswahn, über die depressive Lyrikerin Anne Sexton oder über das Milgram-Experiment aus der Aggressionsforschung.

    Und der Sound von So klingt auch ein Vierteljahrhundert später beeindruckend zeitlos. Vielleicht wäre der Erfolg kleiner ausgefallen ohne das Video zu Sledgehammer, das wahrscheinlich jeder kennt. Mit dem singenden Gemüse und den tanzenden Hühnchen ... Acht Tage lang lag Gabriel von morgens bis abends unter einer Glasplatte, auf der Obst und müffelnder Fisch und Knetmassefiguren drapiert und fotografiert und zu Tricksequenzen montiert wurden. 120.000 Pfund gingen für das Werk drauf, und dass die sich wirklich rechnen, glaubte zunächst wohl niemand. Bis heute ist es der meistgespielte Clip auf MTV. Und das Album So verkaufte sich im ersten Jahr fünf Millionen mal.