Davon ist auch der englische Kritiker und Romanautor Alain de Botton überzeugt. Er hat es nicht bei einem Werbespruch bewenden lassen, sondern ein ganzes Buch darüber geschrieben: "Wie Proust ihr Leben verändern kann". Der Titel klingt wie einer jener berüchtigten Ratgeber, die einem suggerieren, spezielle oder allgemeine Lebensprobleme durch bloße Lektüre lösen zu können. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis bestärkt diesen Eindruck zunächst: "Wie man sich Zeit nimmt", heißt ein Kapitel, "Wie man Freundschaften pflegt", "Wie man in der Liebe glücklich wird" heißen andere. Eine andere Überschrift macht stutzig: "Wie man erfolgreich leidet".
Ist das Ironie? Erfolgreich leiden - kann man das, will man das? Kann man, will man das von Proust lernen? Doch wohl nicht. Denn dieser Autor, der einen großen Teil seines Lebens kränkelnd im Bett verbrachte, wo er an einem Buch schrieb, das anfangs keiner verlegen wollte: dieser Autor ist kein Vorbild für Erfolg im Leben (daß er heute als einer der größten Schriftsteller des Jahrhunderts gilt und Leser, ja Fans überall in der Welt hat: das ist ein andere Geschichte). Akribisch listet Alain de Botton auf, woran Proust alles litt: Asthma und Verstopfung, Kälte und Husten, Gerüche und Geräusche. Und der Körper ist nichts gegen die Seele: die litt unter einer neurotischen Mutterbindung, unglücklicher Liebeswahl, Judentum und Homosexualität, Erfolglosigkeit und Minderwertigkeitsgefühlen.
Nein, Proust war kein erfolgreicher, gewiß auch kein glücklicher Mensch. Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Immer wenn Alain de Botton die zahlreichen Zeugnisse ausweidet, die es von Freunden und Zeitgenossen gibt, wenn er uns also den historischen Proust nahebringen will, ist er auf dem Holzweg. "Ein Buch", sagt Proust selbst über solchen Biographismus, "ist mitnichten das Produkt desselben Ichs, das wir in unseren Gewohnheiten, im gesellschaftlichen Umgang, in unseren Lastern zu Schau stellen." Das Buch weiß mehr als sein Autor. Zum Glück weiß unser Autor, weiß Alain de Botton - das auch und nutzt es, zum Nutzen und Vergnügen des Lesers. Was also läßt sich aus Prousts siebenbändigem Roman lernen? Das, was auch Walser herausgefunden hatte: genauer hinschauen, hinhören, intensiver leben. Das bedeutet zuerst, sich von "falschen Bildern" zu befreien, die vor unserem inneren Auge liegen wie das sprichwörtliche Brett vor dem Kopf. Vorgefaßte Meinungen, sprachliche und gedankliche Klischees hindern uns daran, sagt Proust, sagt de Botton, zu dem Reichtum vorzustoßen, der in allem zu finden ist: im Anblick des Meeres oder einem Brotlaib, in einem Gemälde, aber auch in gesellschaftlicher Konversation. Schon recht - was aber bei unserem englischen Gewährsmann untergeht, ist die Quelle dieses Reichtums. Die liegt nämlich im Subjekt selbst. Das sieht nicht nur, sondern erinnert sich, und in der Verbindung zweier Eindrücke, eines vergangenen und eines aktuellen, entsteht etwas Drittes, ganz Neues: eine Assoziation, literarisch gesprochen: eine Metapher. Das ist Kunst, und das ist auch Glück, nach Proust, und nur der Künstler kann sich über die Beschränktheiten des Lebens hinwegsetzen, auch über die größte Beschränktheit: daß das Leben endlich ist.
Hier liegt sozusagen die Beschränktheit Alain de Bottons. Er vermag das Proustsche Werk nur an der Oberfläche zu streifen. Dies tut er aber, und das macht sein Buch doch zu einer reizvollen Lektüre, mit großer Eleganz. De Botton ist ein großartiger Plauderer, der uns nicht bloß die Zeit vertreibt, sondern uns auf den angenehmsten Wegen dahin lockt, wo er uns haben will. Diese Wege sind für ihn meist Umwege, Abschweifungen - und das kennen wir ja von Proust auch. Immer wieder mischt er eine Art höheren Klatsch in seine Führung durch das Werk, nennt uns Prousts Telefonnummer (29205 - ruf doch mal an) und die Höhe seiner Trinkgelder (bis 200 Prozent). Und landet doch immer wieder bei den "Essentials", dem Wesentlichen. Und das hat etwas mit der Zeit zu tun - der Zeit, die die Hauptrolle in Prousts Werk spielt, wie mit der Zeit, die viele von uns nicht zu haben meinen, was sie daran hindert, Proust zu lesen. Denen gibt de Botton erst einmal Zucker. Sie haben ja recht, meint er, um sie dann vom Gegenteil zu überzeugen. Einer seiner Tricks: Er reduziert große Romane auf die Länge von Zeitungsmeldungen. "Nach Familienstreitigkeiten warf sich eine junge Mutter in Rußland vor den Zug" - das ist Anna Karenina. Proust, erzählt de Botton, war ein leidenschaftlicher Leser von Zeitungsmeldungen, die er seinen Freunden vorlas und, durch Einfühlung und Phantasie, zu wahren Dramen ausbaute.
Die Lehre daraus: das Wesentliche liegt nicht im Kern, sondern im Ganzen. Verknappung ist Verarmung. Nichts ist unwichtig. Und Zeit verschwenden wir nicht, wenn wir uns auf Prousts Längen einlassen, sondern wenn wir so leben wie bisher: oberflächlich am Reichtum der Welt vorbei. Damit hat de Botton seinem eigenen Buch den Boden entzogen. Der Versuch, Proust eine Essenz zu entlocken, muß scheitern, weil er das Wesen seines Werkes verfehlt. Natürlich weiß der intelligente englische Kritiker das, und dieses Wissen speist auch die spielerische Nonchalance, mit der er zu Werke geht. Deshalb, und nachdem er sich gründlich über die Proust-Verehrer lustig gemacht hat, die nach Combray pilgern oder die Rezepte seiner Haushälterin nachkochen, kann er dem letzten Kapitel seines Führers auch den Titel geben "Wie man ein Buch aus der Hand legt".
Proust ist kein Ratgeber für ein besseres Leben, und also kann es keinen Ratgeber für eine Proust-Lektüre geben. Wer die "Suche nach der verlorenen Zeit" richtig gelesen hat, der hat nicht den Stein der Weisen gefunden, sondern zu sich selbst. "Wir spüren genau, daß unsere Weisheit dort beginnt, wo die des Autors endet", sagt de Botton. Und Proust, der dann doch immer noch etwas besser formuliert: "Man kann die Wahrheit nicht fertig übernehmen, man muß sie selbst entdecken auf einem Weg, den keiner für uns gehen und niemand uns ersparen kann."
Ist das Ironie? Erfolgreich leiden - kann man das, will man das? Kann man, will man das von Proust lernen? Doch wohl nicht. Denn dieser Autor, der einen großen Teil seines Lebens kränkelnd im Bett verbrachte, wo er an einem Buch schrieb, das anfangs keiner verlegen wollte: dieser Autor ist kein Vorbild für Erfolg im Leben (daß er heute als einer der größten Schriftsteller des Jahrhunderts gilt und Leser, ja Fans überall in der Welt hat: das ist ein andere Geschichte). Akribisch listet Alain de Botton auf, woran Proust alles litt: Asthma und Verstopfung, Kälte und Husten, Gerüche und Geräusche. Und der Körper ist nichts gegen die Seele: die litt unter einer neurotischen Mutterbindung, unglücklicher Liebeswahl, Judentum und Homosexualität, Erfolglosigkeit und Minderwertigkeitsgefühlen.
Nein, Proust war kein erfolgreicher, gewiß auch kein glücklicher Mensch. Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Immer wenn Alain de Botton die zahlreichen Zeugnisse ausweidet, die es von Freunden und Zeitgenossen gibt, wenn er uns also den historischen Proust nahebringen will, ist er auf dem Holzweg. "Ein Buch", sagt Proust selbst über solchen Biographismus, "ist mitnichten das Produkt desselben Ichs, das wir in unseren Gewohnheiten, im gesellschaftlichen Umgang, in unseren Lastern zu Schau stellen." Das Buch weiß mehr als sein Autor. Zum Glück weiß unser Autor, weiß Alain de Botton - das auch und nutzt es, zum Nutzen und Vergnügen des Lesers. Was also läßt sich aus Prousts siebenbändigem Roman lernen? Das, was auch Walser herausgefunden hatte: genauer hinschauen, hinhören, intensiver leben. Das bedeutet zuerst, sich von "falschen Bildern" zu befreien, die vor unserem inneren Auge liegen wie das sprichwörtliche Brett vor dem Kopf. Vorgefaßte Meinungen, sprachliche und gedankliche Klischees hindern uns daran, sagt Proust, sagt de Botton, zu dem Reichtum vorzustoßen, der in allem zu finden ist: im Anblick des Meeres oder einem Brotlaib, in einem Gemälde, aber auch in gesellschaftlicher Konversation. Schon recht - was aber bei unserem englischen Gewährsmann untergeht, ist die Quelle dieses Reichtums. Die liegt nämlich im Subjekt selbst. Das sieht nicht nur, sondern erinnert sich, und in der Verbindung zweier Eindrücke, eines vergangenen und eines aktuellen, entsteht etwas Drittes, ganz Neues: eine Assoziation, literarisch gesprochen: eine Metapher. Das ist Kunst, und das ist auch Glück, nach Proust, und nur der Künstler kann sich über die Beschränktheiten des Lebens hinwegsetzen, auch über die größte Beschränktheit: daß das Leben endlich ist.
Hier liegt sozusagen die Beschränktheit Alain de Bottons. Er vermag das Proustsche Werk nur an der Oberfläche zu streifen. Dies tut er aber, und das macht sein Buch doch zu einer reizvollen Lektüre, mit großer Eleganz. De Botton ist ein großartiger Plauderer, der uns nicht bloß die Zeit vertreibt, sondern uns auf den angenehmsten Wegen dahin lockt, wo er uns haben will. Diese Wege sind für ihn meist Umwege, Abschweifungen - und das kennen wir ja von Proust auch. Immer wieder mischt er eine Art höheren Klatsch in seine Führung durch das Werk, nennt uns Prousts Telefonnummer (29205 - ruf doch mal an) und die Höhe seiner Trinkgelder (bis 200 Prozent). Und landet doch immer wieder bei den "Essentials", dem Wesentlichen. Und das hat etwas mit der Zeit zu tun - der Zeit, die die Hauptrolle in Prousts Werk spielt, wie mit der Zeit, die viele von uns nicht zu haben meinen, was sie daran hindert, Proust zu lesen. Denen gibt de Botton erst einmal Zucker. Sie haben ja recht, meint er, um sie dann vom Gegenteil zu überzeugen. Einer seiner Tricks: Er reduziert große Romane auf die Länge von Zeitungsmeldungen. "Nach Familienstreitigkeiten warf sich eine junge Mutter in Rußland vor den Zug" - das ist Anna Karenina. Proust, erzählt de Botton, war ein leidenschaftlicher Leser von Zeitungsmeldungen, die er seinen Freunden vorlas und, durch Einfühlung und Phantasie, zu wahren Dramen ausbaute.
Die Lehre daraus: das Wesentliche liegt nicht im Kern, sondern im Ganzen. Verknappung ist Verarmung. Nichts ist unwichtig. Und Zeit verschwenden wir nicht, wenn wir uns auf Prousts Längen einlassen, sondern wenn wir so leben wie bisher: oberflächlich am Reichtum der Welt vorbei. Damit hat de Botton seinem eigenen Buch den Boden entzogen. Der Versuch, Proust eine Essenz zu entlocken, muß scheitern, weil er das Wesen seines Werkes verfehlt. Natürlich weiß der intelligente englische Kritiker das, und dieses Wissen speist auch die spielerische Nonchalance, mit der er zu Werke geht. Deshalb, und nachdem er sich gründlich über die Proust-Verehrer lustig gemacht hat, die nach Combray pilgern oder die Rezepte seiner Haushälterin nachkochen, kann er dem letzten Kapitel seines Führers auch den Titel geben "Wie man ein Buch aus der Hand legt".
Proust ist kein Ratgeber für ein besseres Leben, und also kann es keinen Ratgeber für eine Proust-Lektüre geben. Wer die "Suche nach der verlorenen Zeit" richtig gelesen hat, der hat nicht den Stein der Weisen gefunden, sondern zu sich selbst. "Wir spüren genau, daß unsere Weisheit dort beginnt, wo die des Autors endet", sagt de Botton. Und Proust, der dann doch immer noch etwas besser formuliert: "Man kann die Wahrheit nicht fertig übernehmen, man muß sie selbst entdecken auf einem Weg, den keiner für uns gehen und niemand uns ersparen kann."