Von Weizsäcker gehört mit Jean-Luc Dehaene und Lord Simon zu jener Gruppe elder statesmen, die im vergangenen Herbst vom Kommissionspräsidenten Prodi gebeten wurden, die Probleme der EU zu analysieren und vorzuschlagen, womit sich die Regierungskonferenz sinnvollerweise befassen sollte. Ihr Bericht war die Grundlage für zwei ausführliche Stellungnahmen der Kommission, die sich damit an die Spitze der Reformbewegung stellte. Romano Prodi:
Prodi: "Wir wollen zusammen sein mit unseren Freunden in Osteuropa. Sie haben ihren Willen bezeugt, am Bau eines friedvollen und mächtigen Europa teilzunehmen. Aber sie wollen nicht einer Union beitreten, die allein durch ihre schiere Größe geschwächt und verwässert wäre. Das ist der Grund für den Versuch, die Verträge von Rom noch einmal zu reformieren."
Das hört sich eigentlich nicht besonders dramatisch an. Und doch wird die Regierungskonferenz zu einer Wasserscheide werden, an der sich in den nächsten elf Monaten entscheiden wird, ob die EU, wie wir sie kennen, noch Zukunft hat oder ob sie zum Auslaufmodell wird. Zukunft hat sie nur, wenn es gelingt, ihre Handlungsfähigkeit auch bei 25 und mehr Mitgliedern zu erhalten und eine weitere Vertiefung der Zusammenarbeit und Integration zu organisieren. Dazu müssen Institutionen und Entscheidungsmechanismen angepaßt werden. Gelingt dieser Umbau nicht, so dürfte sich die EU selbst lähmen und zu einer bloßen Freihandelszone zurück entwickeln. Für die Regierungskonferenz keine kleine Bürde also. Geschultert wird sie von 15 Delegationen der EU-Staaten, jeweils vier Personen, angeführt von einem Europaminister oder einem Staatssekretär, so wie im Falle Deutschland von Gunter Pleuger aus dem Außenministerium. Hinzu kommt die Delegation der Europäischen Kommission, geleitet vom zuständigen Kommissar Michel Barnier. Und dazu gehören schließlich zwei Europaabgeordnete: der griechische Sozialdemokrat Dimitris Tsatsos und der deutsche Christdemokrat Elmar Brok. Der ist ein alter Hase und war schon 1997 bei den Verhandlungen über den Amsterdamer Vertrag dabei. Auch diesmal, so ahnt Brok, werden sich die Geschehnisse gleichen:
Brok: "Es wird auch diesmal so sein, daß bei dem Gipfel im Dezember alle offenen Fragen entschieden werden soll. Elf Monate Arbeit wird dann in 20 Stunden Debatte entschieden."
So war es seinerzeit in Amsterdam und am Ende reichte die Zeit und die Geduld der Staatenlenker dann nicht für drei notwendige Änderungen des EU-Vertrages. Drei Reformen bräuchte Europa, sie wurden in Amsterdam aber nicht erledigt, sondern blieben übrig: die so genannten drei Left-overs. Darunter versteht man erstens eine Begrenzung der Anzahl der Kommissare, zweitens die Festlegung, daß im Ministerrat, in dem die 15 Regierungen der EU zusammensitzen, die Mehrheitsabstimmung zur Regel und das Einstimmigkeitsgebot zur Ausnahme werden sollte, drittens schließlich die Neugewichtung jener Stimmen, die jeder EU-Staat im Ministerrat haben soll und mit denen eine Mehrheitsentscheidung herbeigeführt wird.
Diese drei Left-overs werden in den kommenden elf Monaten im Zentrum der Verhandlungen stehen. Aber benötigt man wirklich elf Monate, um drei Fragen zu beantworten? Schließlich, so stöhnt ein deutscher Diplomat, habe man schon in Amsterdam schon über all das gesprochen. Im Grunde sei alles gesagt, jetzt müsse man nicht mehr verhandeln, sondern entscheiden. Doch dem widerspricht Elmar Brok, der Christdemokrat:
Brok: "Wenn man sich im Grundsatz einig wäre, kann man so etwas auch in sechs Wochen erledigen, aber es geht in diesen Bereichen in wirkliche Substanzen nationaler Souveränität hinein. Denn es muß beispielsweise definiert werden, welche der Steuern in Zukunft mit Mehrheit entschieden werden soll. Zu definieren, welche Steuern es sein sollen und dann mit Mehrheitsentscheidung - das ist schon eine sehr schwierige Arbeit."
Ganz ähnlich argumentiert der zweite Vertreter des Europaparlament in der Regierungskonferenz, Dimitris Tsatsos, Sozialdemokrat, Grieche und emeritierter Rechtsprofessor an der Universität Hagen. Wieso die drei Left-overs nicht einfach entscheiden?
Tsatsos: "Weil sie eben nicht einfach sind, und weil sie die drei Bereiche sind, wo dieses geschichtliche und dramatische Dilemma sich artikuliert. Das Dilemma: mach ich einen Schritt weiter in Richtung Abschwächung des Nationalstaats zugunsten einer quasi-föderativen Konzeption oder nicht?"
Der Erfolg der Europäischen Union besteht in ihrer austarierten Konstruktion, die eine zweifache Balance wahrt: sowohl die Gleichberechtigung großer und kleiner Staaten nämlich wie auch den Ausgleich zwischen Gemeinschaftsinteresse und Interesse des einzelnen Nationalstaats. Kommen durch die Erweiterung nun neue Staaten hinzu, so muß die Konstruktion neu tariert , muß eine neue Balance gefunden werden. Schließlich steigt mit jeder Aufname die Blockadegefahr der Gemeinschaft durch einen einzelnen Mitgliedsstaat. Das heißt: soll die Europäische Union genau so handlungsfähig bleiben wie heute, so wird jeder einzelne Nationalstaat ein weiteres Stück Souveränität abgeben müssen zugunsten der Gemeinschaft. Doch Souveränitätsverzicht heißt Machtverzicht und der fällt niemandem leicht.
Tsatsos: "Der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen bedeutet, daß über eine wichtige Frage, die EU eine Regelung erlassen kann, gegen die Deutschland und England stimmen. Also - ein Staat mit einer Bevölkerung von 90 Millionen Menschen muß zusehen, daß gegen den allgemeinen Willen von Bundesregierung Bundestag doch etwas beschlossen wird, was in Deutschland unmittelbar Geltung haben wird gegen den Willen dieses Volkes. Aber bitte staunen Sie nicht, wenn ich Ihnen sage, daß dieses Thema viel empfindlicher ist für einen Kleinstaat, der ohnehin den Komplex des Kleinstaates hat, der ohnehin sich seiner kleinen Dimension bewußt ist. Der sagen wird, wenn die Großen hierher kommen gegen meinen Willen, die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei zu gestalten - das geht zu weit, da machen wir nicht mit. Und von ähnlicher Qualität ist die Neugewichtung der Stimmen im Rat, wir sprechen über das selbe Thema und wenn Sie so wollen auch über die Frage: wie viele Kommissare? Können Sie sich Deutschland und England vorstellen fünf Jahre ohne Kommissar?"
Man kann es sich tatsächlich kaum vorstellen, zumal heute die fünf großen EU-Staaten sogar zwei Kommissare nach Brüssel entsenden. Zwar wäre es im Sinne der Gemeinschaft, die Zahl der Kommissare zu reduzieren von jetzt 20 auf vielleicht 15. Doch dazu wird es nicht kommen, weil es dem Prestigedenken der Nationalstaaten zuwiderliefe. Schließlich müßte jedes Land im Zuge eines Rotationsverfahrens auch einmal auf einen eigenen Kommissar in Brüssel verzichten. Undenkbar. Und so wird es auf den Grundsatz "ein Land - ein Kommissar" hinauslaufen, so daß die Europabehörde irgendwann von 25 oder gar 28 Kommissaren geleitet wird. Für sie gibt es dann allerdings keineswegs 25 oder 28 gleichermaßen wichtige Politikbereiche. Schlimmer noch: eine Kommission mit 28 gleichberechtigten Kommissaren wäre nicht mehr arbeitsfähig. Man wird sie also völlig neu konstruieren müssen, mit einem mächtigen Präsidenten und vielleicht fünf, sechs wichtigen Vizepräsidenten.
Die Diskussion über die Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen dürfte noch viel schwieriger werden als die über die Kommissarsanzahl. Kommissionspräsident Prodi:
Prodi: "In einer Union, die alle Kandidatenstaaten einschließt, ist wohl das größte Risiko, daß die Entscheidungsfindung paralysiert wird. Es ist deswegen wesentlich, daß wir die Anzahl von Entscheidungen, die noch einstimmig erfolgen müssen, verringern. Wir wissen aus Erfahrung, daß Einstimmigkeit schon jetzt entweder Lähmung bedeutet oder die Reduzierung der Entscheidungen auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner. Wir spüren, daß wir - bei 27 oder 28 Staaten - nicht an einem radikalen Schnitt vorbeikommen. Deswegen erklärt die Kommission unmißverständlich, daß die qualifizierte Mehrheitsentscheidung der Normalfall werden muß. In unserer Stellungnahme führen wir aus, daß nur wenige Entscheidungen, zum Beispiel solcher verfassungsrechtlicher Natur einstimmig getroffen werden sollten."
Sehr detailliert hat die Kommission vor zwei Wochen niedergelegt, welche Entscheidungen verfassungsrechtlicher und institutioneller Art auch künftig einstimmig erfolgen sollten, wo also das Veto eines einzigen Staates genügen würde, einen Beschluß zu verhindern. Noch umfaßt diese Liste nur zwei Dutzend Punkte. In den nächsten Monaten dürfte sie von den Mitgliedsstaaten gewiß verlängert werden.
Schwierig zu lösen bleibt auch das dritte Amsterdamer leftover, die Frage nämlich, wieviel Stimmen im Ministerrat denn für eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung nötig sein sollen und welches Land überhaupt wie viele Stimmen bekommen soll. Heute bedeutet die qualifizierte Mehrheit im Ministerrat, daß von 15 Staaten je nach Größe und Stimmengewicht eines Staates zwischen acht und dreizehn Staaten zustimmen müssen. Das Problem: die großen Staaten fühlen sich benachteiligt, denn kleine haben im Ministerrat verhältnismäßig mehr Stimmen als bevölkerungsreiche Staaten. Deutschland etwa verfügt über 10 Stimmen, Österreich mit nur einem Zehntel der Einwohner, hat 4 Stimmen. Statt nun eine komplizierte Neugewichtung der Stimmen vorzuschlagen, die gewährleisten müßte, daß die großen Staaten nach der Aufnahme überwiegend bevölkerungsschwächerer Staaten nicht noch leichter überstimmt werden können, hat die Kommission ein anderes, auf den ersten Blick bestechendes System angeregt: die doppelte einfache Mehrheit. Danach kommt eine Entscheidung im Ministerrat zustande, wenn nicht nur die einfache Mehrheit der Mitgliedsstaaten dafür ist, sondern diese Staatenmehrheit zugleich auch die einfache Mehrheit der EU-Bevölkerung repräsentiert. Eine Anregung, die bei Dimitris Tsatsos auf Vorbehalte stößt:
Tsatsos: "Doppelte Mehrheit ja, einfache Mehrheit nicht, denn das führt zu riesigen Konflikten. Das Problem der Neugewichtung der Stimmen ist für mich eigentlich das Problem, wie viele Staaten die Möglichkeit haben, eine Entscheidung zu blockieren. Und wenn ich sage, du brauchst 49 Prozent der Stimmen und der Staaten, um etwas zu blockieren, damit schaff ich riesige politische Probleme. Ich muß sowohl für die kleinen wie die großen eine Blockierungsmöglichkeit vorsehen. Und mit 50 Prozent ist es eine Katastrophe."
Besser wäre, so Tsatsos, wenn es die Blockade schon mit 30 Prozent der Stimmen und mit 30 Prozent der Bevölkerungsanzahl gäbe. Das hieße umgekehrt: wer einen Beschluß herbeiführen will, der bräuchte dafür 70 Prozent der Staaten und 70 Prozent der Bevölkerung - also etwa eine doppelte Zwei-Drittel-Mehrheit. Was die Regierungskonferenz davon hält, wird man sehen.
Sie hat jedenfalls mit den drei Überbleibseln mehr zu tun, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Dennoch tobt seit Monaten der Streit darüber, ob die Tagesordnung der Regierungskonferenz nicht noch ausgeweitet werden sollte, wofür nicht nur die Dehaene-Weizsäcker-Gruppe und die europäische Kommission plädieren, sondern auch das Europaparlament oder der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der Anfang Dezember im Bundestag sagte:
Stoiber: "Lediglich eine neue Stimmengewichtung im Rat, eine Änderung der Größe der Kommission, und verstärkte Mehrheitsentscheidungen werden nicht ausreichen, damit die Europäische Union nach der Osterweiterung noch funktioniert."
Wenige Tage später trafen die Staats- und Regierungschefs in Helsinki dann einen ihrer berühmten sowohl-als-auch-Beschlüsse. Man wolle sich auf die drei Left-overs konzentrieren, Portugal als Ratspräsidentschaft könne aber weitere Tagesordnungs-Themen für die Regierungskonferenz vorschlagen. Der Bundeskanzler:
Schröder: "Diese Kernforderungen sind es, die zuallererst und am intensivsten bearbeitet werden müssen, auch aus zeitlichen Gründen, aber die Erweiterung um Themen, die damit zu tun haben, ist damit nicht ausgeschlossen."
Was aber nicht nur die Bundesregierung vermeiden will, ist eine umfassende, gar verfassungsrechtliche Debatte über die Europäische Union und den vor allem von CDU/CSU geforderten Kompetenzkatalog über das, was Brüssel darf und das, was die Bundesländer dürfen. Ein solches Thema werde die Regierungskonferenz sprengen, befürchtet Berlin. Dann werde man am Ende noch nicht einmal ein Ergebnis bei den drei Left-overs erzielen. Der Westfale Elmar Brok sieht das gelassener, pragmatischer und er prophezeit:
Brok: "Es wird zu einer Ausdehnung der TO kommen und es werden alle die Dinge besprochen werden, die einzelne Teilnehmer für wichtig halten, zumal ja formal unter dem dritten leftover nahezu alles packen kann."
Je weniger Entscheidungen per Mehrheit und je häufiger Einstimmigkeit, desto größer der Wunsch nach einer partiellen, "verstärkten Zusammenarbeit". Andere Ausdrücke dafür sind Flexibilität, das Europa konzentrischer Kreise oder ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Nicht nur Von Weizsäcker und Prodi wollen dieses Thema auf jeden Fall von der Regierungskonferenz behandelt wissen. Bereits der Vertrag von Amsterdam sieht vor, daß jene Staaten, die in einem bestimmten Gebiet zusammenarbeiten wollen, dies auch dann können, wenn andere noch nicht so weit sind oder nicht wollen. Ein Beispiel für solcherart Flexibilität ist die Währungsunion, an der bekanntlich nur elf und nicht 15 EU-Staaten teilnehmen. Nun will man den Amsterdamer Vertrag modifizieren, der vor jeder verstärkten Zusammenarbeit eines Teils einen einstimmigen Beschluß aller verlangt. Künftig soll nun die "Avantgarde" nicht mehr durch das Veto eines einzigen Nachzüglers gehindert werden könne. Doch was sinnvoll klingt, ist zugleich heftig umstritten. Elmar Brok:
Brok: "Ich habe sogar Sorgen bei einer zu großen Ausweitung der verstärkten Zusammenarbeit. Es muß gewährleistet sein, daß die Einheitlichkeit der Rechtsordnung der Institutionen gewahrt bleibt und daß wir keinen Flickenteppich bekommen. Deswegen kann es keine Ausdehnung in den Bereichen geben, in denen der Rat mit Mehrheit entscheidet. Und der zweite Punkt ist, daß wir Sorge tragen müssen, daß wir nicht eine riesige Union mit der Türkei und Georgien bekommen und innendrin kreiselt es dann unentwegt. Dann sind mal die fünf und mal die acht zusammen, so daß keiner mehr durchschaut. Das wäre das Ende der europäischen Union."
Solche Befürchtungen hegt auch Broks sozialdemokratischer Kollege Dimitris Tsatsos.
Tsatsos: "Wenn ich die Möglichkeit kreiere, daß nur ein Teil der EU schnellere Schritte macht, Politiken beschließt, die sie auch bewältigen können, und den anderen sagt, auf Wiedersehen: ihr kommt nach, sobald ihr es könnt. Und das beschließen wir sogar ohne eure Zustimmung. Da sehe ich das institutionelle Auseinanderfallen der Union. ...Also ich sage zur Flexibilität ja, aber unter der Bedingung der Einstimmigkeit. Denn sonst kannst Du ja gegen meinen Willen meinen Namen mit verwenden."
Möglicherweise nimmt die Regierungskonferenz auch noch weitere Brocken in Angriff, etwa ein Statut für europäische, länderübergreifende Parteien, oder die Reform des Europäischen Gerichtshofes, des Wirtschafts- und Sozialausschusses, des Ausschusses der Regionen und des Europäischen Rechnungshofs. Mögliches Thema auch: die angestrebte Verstärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik. Doch hier wird man wohl zunächst abwarten, was Javier Solana zustande bringt. Und auch beim Thema Grundrechte-Charta, die zur Zeit von einem Konvent unter Leitung Roman Herzogs erarbeitet wird, dürfte man zunächst die Ergebnisse begutachten, ehe man möglicherweise über eine Integration der Charta in den Unionsvertrag debattiert.
Für eine völlige Neugestaltung der Verträge hatten als erste Dehaene, Lord Simon und Von Weizsäcker plädiert. Der frühere Bundespräsident:
Weizsäcker: "Wenn man so etwas, wie die ersten 20 Artikel unseres GG auch einmal in diesen von uns so vorgeschlagenen grundlegenden Vertrag aufnehmen würde, dann würde damit eine bessere Anschaulichkeit gegenüber der Bevölkerung vielleicht erreichbar sein."
Die Kommission hatte sich die Anregung zu eigen gemacht, die europäischen Verträge in zwei Teile aufzufächern: einen klassischen, verfassungsrechtlichen Teil, inklusive Grundrechte-Charta, der nur einstimmig geändert werden könnte, und in dem die Ziele, Werte und Funktionsweise der EU erklärt wird. Und einen zweiten eher technischen Text, in dem auch die Regeln für die speziellen Politiken der EU enthalten wären. Dies hätte den Vorteil größerer Lesbarkeit und Transparenz. Rechtsprofessor Dimitris Tsatsos
Tsatsos: "Die Menschen, die bei uns groß werden, werden unter der Herrschaft von Brüssel leben, das ist auch gut so, ich sage nicht nein. Aber sie müssen doch mindestens so gut wissen wie der Laden hier funktioniert, wie sie wissen, wie der Laden in Deutschland funktioniert. Also, die müssen wissen wie hier Entscheidungen getroffen werden. Zweitens: man soll die Verträge doch verständlicher schreiben. Das kann doch kein Mensch verstehen, nicht mal wir. Die Verträge sind teilweise nicht lesbar."
Doch leider hat ausgerechnet das, was die Europäische Union den Menschen verständlicher machen würde, wenig Chancen, von der Regierungskonferenz behandelt zu werden. Denn die Angst in vielen Regierungen erscheint zu groß, daß man mit der Vertragsneugestaltung gewissermaßen die Büchse der Pandora öffnen, und den Startschuß für eine ausufernde, allgemeine Verfassungsdebatte geben könnte. Noch weniger Chancen gibt es dafür, daß sich die Regierungskonferenz ernsthaft mit der Reform des Ministerrats beschäftigt, gewissermaßen mit der Institution, für die die Regierungen selbst zuständig sind. Der Rat sei das schon jetzt am wenigsten gut funktionierende EU-Organ, sagt Elmar Brok. Aber, so tröstet Professor Tsatsos:
Tsatsos: "Das Effektiverwerden der Institutionen hat Grenzen. Die Europäische Union ist per se kompliziert, weil ihre Konzeption diese Kompliziertheit gebietet. Mache ich sie ganz unkompliziert, dann verliert sie ihre Legitimation. Wenn ich der doppelten Legitimation der EU treu bleiben will, dann habe ich kompliziertere Verfahren. Dann habe ich eine größere Kommission, dann habe ich einen Rat mit vielen Leuten, der nicht so schnell entscheiden kann. Entweder nehme ich diese von der Natur der Sache sich ergebende Komplexität, oder wir müssen uns über eine andere europäische Union unterhalten, gerne, aber ich habe keine bessere Idee."