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Wie sie wählten

Ein groteskes Bild ging um die Welt, als vor vier Jahren die Stimmzettel in Florida wieder und wieder gezählt werden mussten. Das Bild zeigte Richter Robert Rosenberg, der auf der Suche nach des Wählerwillens Spuren eine gestanzte Stimmkarte mit einer großen Lupe untersuchte. Diese Lupe ist auch das perfekte Sinnbild für das jetzige Geschehen. Wie mit riesigen Vergrößerungsgläsern schaut eine planetarische Öffentlichkeit auf die absurden Details, an denen das amerikanische Wahlsystem so reich ist. Nicht, dass die Details unbedeutend wären: bei nur wenigen Stimmen Abstand kommt es sogar auf die allerkleinsten Kleinigkeiten an. Aber die Bilder, die diese Lupen liefern, sind zwangsläufig verzerrt.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Wir wissen mittlerweile alles über vorbestrafte Wähler, Wähler mit Doppelwohnsitz, wählende Alzheimerpatienten und sonstige Sonderfälle in Florida, wir kennen die unterschiedlichen Aufgaben und Rechte von Wahlbeamten, Wahlhelfern und Wahlbeobachtern, und wir haben uns mit den diversen Wahlcomputern, Berührungsbildschirmen und Speichersystemen befaßt. Doch was diese Wahl wirklich ist, bekommt man auf diese Weise nicht in den Blick. Die bei weitem aufwendigste Demokratieveranstaltung der Welt stellt nämlich für sich genommen fast ein Wunder dar. Sie beruht auf dem freiwilligen Engagement von Millionen Bürgern aller Klassen, Rassen und Altersgruppen sowie auf einer geradezu störrischen Verteidigung des föderalen Subsidiaritätsprinzips. Das heißt, die Durchführung der Wahlen obliegt den regionalen und lokalen Behörden und diese wiederum sind auf Menschen angewiesen, die ihre Zeit und Kraft für den Dienst an der politischen Gemeinschaft opfern.

    Diese grundlegende Amateurhaftigkeit führt zu all jenen Bizarrerien, an denen sich die Medien weiden. So entsteht der Eindruck eines durch Dilettantismus verursachten Demokratiedesasters, wo doch Demokratie eigentlich genau das ist: Staat machen mit den vorhandenen Leuten. Dazu gehören selbstverständlich auch die Deppen und Wichtigtuer, die Kriminellen und Besessenen, jene, die Stimmzettel fälschen, Wahlurnen mit nach Hause nehmen oder idiotische Anordnungen treffen. All das kommt vor. Aber noch nie hat sich ein ganzes Land selbst durchs Vergrößerungsglas betrachtet und seine eigene Lächerlichkeit in einer so heiligen Sache wie der Kür des Präsidenten festgestellt.

    Genau dies ist schon seit Tagen in den USA der Fall. Auf der einen Seite ist die politische Mobilisierung so stark wie selten zuvor. Man muss gesehen haben, wie die Wähler mancherorts zu Aberhunderten in gleißender Sonne oder strömendem Regen mehrere Stunden lang Schlange standen, um ihr Votum abzugeben. Auf der anderen Seite macht sich eine Form von komischer Verzweiflung über den Prozess als solchen breit. Manchmal schwingt schon so etwas wie perverser Stolz mit. Immerhin sind vor vier Jahren manche Orte einfach dadurch, dass sie die Wahl vermasselt haben, weltberühmt geworden. Doch hinter diesem komödiantischen Aspekt steht die Angst, dass es auch diesmal länger dauern könnte, bis die Gerichte festlegen, wer die Präsidentenwahl gewonnen hat.

    Dass jetzt mehr Zeit gebraucht wird, um den Volkswillen zu erfassen, passt allerdings zu den Erfahrungen, welche jeder einzelne Wähler machte. Der strukturelle Horizont des Zeitverbrauchs hat sich verändert. Überall gab es längere Wartezeiten, und angesichts der langen Wahlzettel zumal in Florida, wo nicht nur über den künftigen Präsidenten, sondern auch über die Mitglieder des Senats sowie ein halbes Dutzend Gesetzesänderungen abgestimmt wurde, kam niemand mit den vorgesehenen sieben Minuten im Wahllokal aus. Ja, es scheint, als ließe sich das Sinnbild des Vergrößerungsglases sogar auf die Zeit anwenden. So werden aus Stunden der Unentschiedenheit möglicherweise Tage.