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Wie sollen wir leben?

"Die Krankheit einer Zeit", schrieb Ludwig Wittgenstein einmal: "heilt sich durch eine Veränderung der Lebensweise der Menschen." Um eine direkte Veränderung der Lebensweise der Menschen geht es auch dem australischen Philosophen Peter Singer in seinem neuen Buch "Wie sollen wir leben?". Seine provozierenden Thesen zu Euthanasie, Kindstötung und Abtreibung haben Singer durch deren mißverständliche Aufnahme vor allem in Deutschland traurige Berühmtheit beschert.

Thorsten Jantschek |
    Von diesen Themen ist im neuen Buch nicht die Rede. Singers Grundthema ist hier vielmehr die Spannung zwischen einer ethischen Lebensweise und einem bloß an eigenen Interessen orientierten Leben. Nach Singer hat man als Mensch die existenzielle, das Leben im ganzen bestimmende Wahl zwischen diesen beiden Lebensweisen. Wie diese Wahl ausfällt, hängt ganz davon ab, was als ein lohnenswertes Leben, als Glück, das es zu erstreben gilt, betrachtet wird. Für Singer hat sich nun aber der Inhalt, worum es im gelingenden, glücklichen Leben gehen soll, in der westlichen Welt in beachtenswerter Weise falsch entwickelt und kulminiert heutzutage in zwei Krisenszenarien, der gesellschaftlichen und der ökologischen Krise. Singer zeigt exemplarisch an der amerikanischen Gesellschaft, wie die in der westlichen Kultur vorherrschende egoistische Lebenseinstellung dazu geführt hat, daß an Gemeinschaft gebundene Werte mehr und mehr verlorengehen und so ganze gesellschaftliche Moralgefüge ins Wanken geraten. Die Identifikation von Glück mit der Anhäufung von Besitz bedeutet, daß das Glücksstreben nur durch ein Mehr an Besitz noch befriedigt werden kann; und dies ist auch der Grund für die Krise der Umwelt, die sich als Folge schonungslosen Ressourcenverbrauchs zeigt. - Singer gelingt es, vor dem Hintergrund der abendländischen Geistesgeschichte anschaulich zu zeigen, wie sehr das egoistische Glücksverständnis in unsere Kultur eingegangen ist und am Ende zu einem Triumph der Wirtschaft über die Ethik geführt hat. - Nur eine säkulare Ethik kann aus der Orientierungs- und Sinnkrise der jüngsten Moderne herausführen, eine Ethik, die das Eigeninteresse ganz im Sinne des Utilitarismus nicht ausschließt, sondern nur die alleinige Orientierung an egoistischen Zwecken.

    "Dieser enge Begriff von Eigeninteresse ist wirklich ein falscher Begriff", so Peter Singer. "Wir finden es auch selber nicht befriedigend, wenn wir ein ganzes Leben von Mehrverdienen und Konsum machen, weil: wir erwarten immer etwas besseres und wenn das nur stehenbleibt, dann zeigt verschiedene Umfragen, daß Leute unglücklich wird. Wenn wir wirklich ein Leben haben wollen, das befriedigend ist, so daß wir am Ende unseres Lebens mit Zufriedenheit zurückschauen können, dann müssen wir meiner Meinung nach etwas anders machen, und zwar vielleicht ein breiteres Lebensziel nehmen, und das bedeutet, daß man Ethik lebt."

    Singer geht es also um aufgeklärtes Eigeninteresse, das ihn schließlich zu einer "Wie-Du-Mir-So-Ich-Dir-Ethik" führt. Dabei wendet er sich mit Regeln wie den folgenden direkt an den Leser: "Beginnen Sie mit der Bereitschaft zur Kooperation. - Tun Sie denen Gutes, die Ihnen Gutes tun, und schaden Sie denen, die Ihnen Schaden zufügen." Singers Ansicht nach nützt ein Verhalten, das sich nach diesen Regeln ausrichtet, allen Mitgliedern einer Gesellschaft, kollektiv wie auch individuell.

    Singers Buch ist aber keine moraltheoretische Abhandlung, und will auch keine solche sein, sondern es ist ein engagiertes Buch, daß einige Leser dazu bringen will, ethisch reflektiert zu leben. Singer möchte seine Leser motivieren, Teil einer "kritischen Masse" zu werden, damit die praktische Vernunft sich wie eine Kettenreaktion ausbreitet und die Ethik zum leitenden Prinzip im Leben aller Menschen werden kann: "Es ist für mich wichtig, daß ich nicht nur für Fachleute schreibe, sondern auch für andere Leute und daß der Leser sieht, daß man kann wirklich etwas selber machen kann. Es ist nicht nur eine intellektuelle Sache, sondern eine ganz praktische Sache. Und ich hoffe in diesem neuen Buch, daß die Leute dann sehen, daß sie ihr eigenen Leben ändern können. Wir können mehr machen, als wir vorher glauben. Und wenn wir reflektieren, und bedenken, wir wollen doch anders leben, können wir auch etwas tun." Deshalb erzählt Singer auch immer wieder Geschichten von engagierten oder egoistischen Menschen, großen und kleinen Helden oder Schurken, beschreibt Umwelt- und Tierschutz ebenso als ethisch motiviertes Handeln wie die so unscheinbare Praxis des Blutspendens. Diese Geschichten sollen exemplarisch zeigen, was es heißt, sein Leben aus einer ethischen Perspektive zu verstehen. Und das heißt nach Singer, sich einer Sache zu verpflichten, die größer ist als man selbst. Mithin Projekte zu finden und handelnd zu verfolgen, die unabhängig von unseren eigenen Interessen für sich betrachtet wertvoll sind und die sich auch als wertvoll allgemein und rational begründen lassen. Die Perspektive, unter der alle diese Projekte betrachtet werden, ist die Minimierung von Leiden. Für Singer ist das vielleicht nicht der einzige Wert, wohl aber der "unmittelbarste, dringendste und allgemein anerkannte."

    Diese Perspektive öffnet die Moral für alle leidensfähigen Wesen, also auch für Tiere und markiert so einen universellen Standpunkt, von dem aus jedes Leiden gleichermaßen zu berücksichtigen ist. Solange es nach Singer vermeidbares Leiden gibt, können wir dem Leben im Kampf gegen dieses Leiden einen Sinn geben und so "die Welt zu einem besseren Ort machen".

    Bei allem Respekt vor Singers ethischem Elan darf man jedoch nicht die theoretische Brüchigkeit seiner Ethik außer acht lassen. Singers Altruismus etwa bleibt in gut utilitaristischer Perspektive nichts anderes als aufgeklärtes Eigeninteresse, folglich muß sich ethisches Handeln am Ende für den Handelnden immer lohnen. Wie will man aber jemanden zur Moral motivieren, wenn ethisches Handeln ein echtes Opfer, einen echten Verzicht für den Handelnden bedeutet? - Einen wirklichen Egoisten kann man mit rationalen Argumenten, so lautet das ernüchternde Fazit, folglich nicht überzeugen. Singer versucht daher auch gar nicht zu verschleiern, daß er die Spannung zwischen Egoismus und ethischem Handeln nicht auflösen, sondern allenfalls lindern kann: "Ich würde nicht sagen, daß ich den überzeugten rationalen Egoisten logisch überzeugen kann, das heißt, ich sage nicht, daß er logische Fehler macht, daß er irrational ist. Aber was ich versuche ist, daß ich verschiedene Sache vorschlage, so daß er vielleicht einsieht, daß wenn man egoistisch in diesem engen Sinn ist, dabei kein gutes Leben herauskommt, mit dem man wirklich zufrieden sein kann. Ich hoffe, ihn auf diese Weise zu überzeugen, daß es eine bessere Art Leben für ihn und auch für andere geben kann, und daß das für ihn auch auf lange Sicht, also über Jahrzehnte, ein besseres Leben sein wird. Ich will nicht sagen, daß es unmöglich ist, aber ich würde sagen, daß es vielleicht unwahrscheinlich ist, daß ein Leben von Egoismus in diesem engen Sinn gelingen kann."