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Wie Sprache entsteht

Reinhard Selten, der 77-jährige Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, ist immer für eine Überraschung gut. Jetzt hat er sich ein neues Experiment ausgedacht, mit dem er die Entwicklung von Sprache und Grammatik im Labor nachvollziehen kann. Ein paar tausend Jahre Menschheitsgeschichte und Sprachentwicklung zusammengefasst in einem bestechend einfachen Versuchsaufbau.

Von Matthias Hennies |
    Die Experimente funktionierten wie das Kinderspiel "Ich sehe was, was du nicht siehst", nur etwas anspruchsvoller: Sie waren nach dem Prinzip konzipiert "Ich sehe was, was du nicht siehst, und ich habe auch kein Wort dafür." Reinhard Selten wollte damit untersuchen, wie Sprache entsteht: Wie können wir solche neuen Namen für Dinge finden, die wir sehen, dass andere uns verstehen? Und wie müssen sich die Benennungen verändern, wenn die Dinge komplexer werden? Der angesehene Forscher, als Professor pensioniert, aber an der Universität Bonn weiterhin im "Labor für Experimentelle Wirtschaftsforschung" aktiv, entwickelte eine Serie von Versuchen.

    " In unserem Experiment hatten die Versuchspersonen die Aufgabe, geometrischen Figuren Buchstabenfolgen zuzuordnen. Es waren immer Paare von Versuchspersonen, die miteinander sozusagen ins Gespräch kommen mussten, aber natürlich nur über den Computer, sie konnten nichts austauschen außer den Buchstabenfolgen. "

    Die Teilnehmer saßen in verschiedenen Räumen. Auf beiden Bildschirmen tauchten Kreise und Dreiecke auf, aber in unterschiedlicher Reihenfolge. Nun musste einer dem anderen mitteilen, in welcher Reihenfolge er die Figuren sah.

    " Sie mussten jeder Figur eine Buchstabenfolge zuordnen. Es war eine begrenzte Anzahl von Buchstaben vorgegeben, die benutzt werden konnten, zum Beispiel R und S. Und die Komplexität stieg im Lauf des Experimentes: Zunächst wurde nur ein Dreieck und ein Kreis angeboten und zwei Buchstaben, sagen wir mal. Und dann wurden sechs Perioden gespielt und dann hatten sie sich meist darauf geeinigt, dass die eine Figur R ist und die andere S. "

    Die beiden Versuchspersonen hatten eine neue, gemeinsame Sprache gefunden. Reinhard Selten und sein Kollege Massimo Warglien zahlten ihnen für die gelungene Kommunikation kleine Preise aus: Je nachdem, wie lange es bis zur Verständigung gedauert hatte, gab es einige Cent mehr oder weniger. Allerdings wurden für jeden benutzten Buchstaben auch Kosten in Rechnung gestellt, denn der Wirtschaftswissenschaftler Selten weiß: Eine Sprache muss nicht nur verständlich, sondern auch ökonomisch sein. Das wurde schwieriger, als komplexe Figurenkombinationen auf den Monitoren erschienen:

    " Die Figuren hatten also mehrere Merkmale, einmal eine Gestalt, zum Beispiel ein Dreieck, ein Kreis oder ein Quadrat, dann einen Einschluss, einen Stern, ein Kreuz oder auch gar nichts, und schließlich hatten wir manchmal auch Farbe. "

    Um sich zu verständigen, ob zuerst ein schwarzes Quadrat auftauchte, in das ein Stern eingeschlossen war oder etwa ein rotes Dreieck mit einem Kreuz, hatten die Teilnehmer aber nur wenige Buchstaben zur Verfügung. Manche entwickelten darum eine Grammatik, eine Code-Struktur für die neue Sprache: Wenn R etwa für das Quadrat steht und M für einen Stern, dann bezeichnet die Buchstabenfolge RM ein Quadrat, in dem ein Stern eingeschlossen ist.

    " Die folgen einem Prinzip, das wir "Kompositionsgrammatik" genannt haben. Man beschreibt durch den Code die Merkmale in einer bestimmten Reihenfolge, zum Beispiel erst die Gestalt, dann den Einschluss und dann die Farbe. "

    Andere Versuchspersonen entwickelten eine "Wiederholungsgrammatik": Sie benannten unterschiedliche Figurenkombinationen, indem sie den selben Buchstaben mehrfach verwendeten. Ein R stand für ein Dreieck, RR für ein Dreieck mit Stern darin und RRR für ein Dreieck mit Kreuz darin. Nachteil: Die "Wiederholungsgrammatik" wird ziemlich unökonomisch, wenn man komplexe Figurenfolgen ausdrücken muss. Man braucht dann sehr viele Buchstaben.

    Erstaunlich war: Die Mehrheit der Teilnehmer schaffte es gar nicht, sich zu verständigen. Und die meisten, die eine gemeinsame Sprache fanden, konstruierten keine Grammatik, sondern benannten jede Figurenkombination mit einem einzelnen, zufällig ausgewählten Buchstaben. Diese Verständigung klappte sehr schnell. Eine simple Sprache verlangt eben wenig Aufwand. Sie ist effizient, solange keine sonderlich komplizierten Inhalte übermittelt werden müssen.

    " Da ist es mindestens genauso effizient, wenn man einen Code nimmt, der nicht grammatisch ist, sondern man kann dann alle Buchstaben als einzelne Buchstaben dazu verwenden, etwas zum Ausdruck zu bringen. Wenn immer dieselben häufig wiederkehrenden Botschaften gesendet werden, ist ein grammatischer Code gar nicht das Allerbeste. Deswegen ist es so, dass zum Beispiel Tiersprachen, da gibt es vielleicht dreißig Laute in manchen Tiersprachen und die haben gar keine grammatische Struktur, das ist dann auch nicht nötig. "

    Die "Lautsprachen" stießen jedoch an ihre Grenze, als die Professoren die Versuche noch einmal erweiterten. Sie erklärten den Teilnehmern eines Tages, dass demnächst 36 weitere, nie gesehenen Figurenkombinationen auf den Bildschirmen auftauchen würden. Diese Ankündigung löste eine dramatische Wende aus:

    " Daraufhin sind signifikant mehr Grammatiken entwickelt worden. Und zwar ist es hier wichtig, dass die Versuchsteilnehmer vorausschauend eine Grammatik entwickelten. "

    Schon bevor die neuen Figuren tatsächlich zu sehen waren, ersetzten die Teilnehmer simple Lautsprachen durch eine leistungsfähige Grammatik. Sie planten für die Zukunft. Damit zeigte das Experiment einen entscheidenden Unterschied zwischen Mechanismen der natürlichen und der menschlichen, kulturellen Evolution: Die natürliche Selektion scheidet ungeeignete Techniken oder Organismen erst aus, wenn sie in einer neuen Situation scheitern. Menschen dagegen können eine kognitive Vorentscheidung treffen, die den Anpassungsprozess beschleunigt.

    " Die Selektion ist eben in der kulturellen Evolution ganz anders als in der natürlichen Selektion. Weil der Mensch sozusagen eine Prä-Selektion vornimmt. Also wenn jemand ein Problem lösen will, dann wird er sich eben überlegen, was Aussicht auf Erfolg bietet und Dinge, die gar keine Aussicht auf Erfolg zu bieten scheinen, wird er gar nicht in Erwägung ziehen. Während eben die Mutation, die ja die treibende Kraft der natürlichen Selektion ist, rein zufällig ist. Es gelingt eben dem Menschen mit seinen kognitiven Fähigkeiten, die kulturelle Evolution besser zu steuern und dadurch schneller zu gestalten. "