Woopen: "Jeden Tag haben wir neue Pressemeldungen, was die Neurowissenschaften uns über den Menschen lehren und wir müssen diese Erkenntnisse in das einbauen, wie wir uns den Menschen vorstellen und wie wir unser Handeln verstehen."
Honnefelder: "Deswegen ist natürlich die Hirnforschung eine Herausforderung, speziell für die Philosophie, wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir diese Erkenntnisse einfügen in unser Bild von uns selbst."
Unser Gehirn wird mehr und mehr zugänglich für Neurowissenschaften und Medizin. Mittels sogenannter "bildgebender Verfahren" können die Gehirnaktivitäten kranker und gesunder Menschen erforscht werden. Mittels Chemie und Technik wiederum vermag man solche Aktivitäten in verschiedenster Weise zu beeinflussen. Führen solche Einblicke und Eingriffe in das menschliche Hirn zunehmend zum gläsernen und damit dann zum "steuerbaren Menschen"? Welche moralischen, aber auch welche rechtlichen Fragen stellen sich, wenn der Mensch in seinem Denken und Fühlen zumindest ein Stück weit durchschaubar wird? Wenn man die Gedanken eines Menschen nicht mehr durch dessen persönliche Schilderungen, sondern durch neurowissenschaftliche Methoden erfährt? Professor Ludger Honnefelder, Philosoph am Institut für Wissenschaft und Ethik in Bonn:
"Wenn wir davon ausgehen, dass alle Vorgänge des Ichs begleitet werden von neuronalen Vorgängen, also beispielsweise ein individuelles Gedächtnis haben, in dem wir die wichtigen Daten unsere Lebensgeschichte gewissermaßen speichern, dann wäre eine Offenlegung dieser höchstpersönlichen Daten in Form einer bildgebenden Diagnostik schon etwas, was unsere Privatheit oder wie das Grundgesetz das ausdrückt, unsere informationelle Selbstbestimmung berührt."
Durch Computertomografien werden mittlerweile Bilder vom Gehirn erzeugt, die dieses sozusagen "am Werk" zeigen: Welche Bereiche im Gehirn sind aktiv, wenn jemand lügt? Oder die Wahrheit sagt? Oder sich an ein Ereignis aus seiner Vergangenheit falsch erinnert? Kann man Menschen mit kriminellen Neigungen gar an ihrer Hirnaktivität erkennen? Was vielen heute als Science-Fiction erscheint, kann angesichts des rasanten technischen Fortschritts morgen schon Wirklichkeit sein. Meint Dr. Christiane Woopen, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates:
"Man kann zum Beispiel möglicherweise feststellen, welche Emotionen bestimmte Bilder in bestimmten Bereichen des Gehirns auslösen und dann schauen, ob diese unmittelbar zur Handlungssteuerung führen, zu bestimmten Begehrlichkeiten. Und man kann feststellen, das andere hemmende Hirnareale außer Kraft gesetzt werden, die einen davor zurückschrecken lassen, ein bestimmtes Kaufverhalten an den Tag zu legen. Das sind natürlich sehr grobe Verbindungen, die man aber im weiteren Verlauf neurowissenschaftlich aufdröseln kann."
Kann man demnächst mit Hilfe der "funktioneller Magnetresonanztomografie", einem Verfahren, das Hirnaktivität in hoher räumlicher Auflösung zur Darstellung bringt, feststellen, ob jemand vor Gericht die Wahrheit sagt? Dr. Tade Matthias Spranger, Jurist an der Universität Bonn:
"Bei dem Wissensstand, den wir im Moment haben, haben wir für bildgebende Verfahren zumindest im deutschen Prozessrecht keine Verwendung, weil die Trefferquote bei der Lügendetektion nicht groß genug wäre. Aber der Blick über den Tellerrand zeigt, dass es in den USA Firmen gibt, die das anbieten, die das im Gerichtssaal auch schon verbreiten wollen."
Prominente deutsche Hirnforscher wie Wolf Singer oder Gerhard Roth bestreiten aufgrund ihrer neurowissenschaftlichen Forschungen die Willensfreiheit des Menschen. Diese Freiheit sei eine Illusion. Das menschliche Handeln sei statt dessen im Rahmen naturwissenschaftlich erklärbarer Vorgänge festgelegt und könne nicht durch willentliche Entscheidungen beeinflusst werden. Solche Thesen sind umstritten, werden aber mittlerweile auch von Juristen diskutiert. Denn wenn es keinen freien Willen gäbe, meinen Strafrechtler, dann könnte man auch nicht mehr von der Schuld eines Straftäters sprechen. Und ebenso wenig wäre dieser dann noch zu bestrafen:
Spranger: "Also haben wir überhaupt einen freien Willen oder sind wir völlig determiniert? Und das ist natürlich relevant im Hinblick auf unser Schuldprinzip. Wir gehen davon aus, bestraft wird, wer schuldhaft eine Straftat begangen hat. Wenn ich jetzt natürlich sage, es gibt keine Willensfreiheit, kann ich das Schuldprinzip und die Geltung des Schuldprinzips in Frage stellen."
Ist also ein Straftäter Produkt genetischer Faktoren, früher Prägungen, durch die gewisse Hirnareale aktiviert und andere in ihrer Aktivität reduziert werden? Bräuchte er also statt Strafe medizinische Hilfe, Tabletten, am Ende gar einen Eingriff ins Gehirn, damit aus ihm ein anderer, besserer Menschen würde? Wird man demnächst unerwünschte Emotionen, zum Beispiel überaggressives Verhalten durch pharmakologische oder operative Eingriffe ins Gehirn steuern? Noch werden solche Maßnahmen lediglich diskutiert.
Jetzt schon spielt aber der Gebrauch - oder besser gesagt: der Missbrauch von Tabletten zunehmend eine Rolle im Bereich des sogenannten "Neuro-Enhancement". Das heißt: Psychopharmaka, die bei bestimmten Krankheiten gut wirken, werden verstärkt auch von Gesunden eingesetzt, um bei sich selbst Leistungssteigerungen oder Stimmungsaufhellungen zu erzielen.
Woopen: "Eines der Medikamente ist zum Beispiel das Ritalin, das bei Kindern gegeben wird bei Aufmerksamkeitsstörungen oder Hyperaktivität, also Konzentrationsstörungen. Das wird auch von Menschen genommen, die einfach ihre Leistung steigern wollen, ohne dass sie solche Aufmerksamkeitsstörungen haben. Es gibt stimmungsaufhellende Medikamente wie Prozac, die von Menschen genommen werden, die sich für eine Party in Stimmung bringen wollen, weil sie total aufgeschlossen sein wollen, dadurch in die Lage versetzt werden, viele Kontakte zu schließen als fröhlich, als aufgeschlossen zu gelten. Es muss aber wohl dann das Problem haben, dass man sich wohl nicht so unbedingt an all diejenigen erinnern kann, mit denen man Kontakt aufgenommen hat und dann die Namen gar nicht kennt. Also was das mit wahrhafter persönlicher Beziehung zu tun hat, steht auf einem anderen Blatt."
An den Universitäten Amerikas gebe es bereits einen blühenden Schwarzhandel mit solchen Medikamenten, schrieb das Magazin "Nature" Ende vergangenen Jahres. Und US-Studien behaupten, dass 20 Prozent der amerikanischen College-Studenten sogenannte "Neuro-Enhancer" einnehmen. Droht dieses "Hirn-Doping", wie man es auch nennen könnte, demnächst auch nach Deutschland überzuschwappen?
Woopen: "In Deutschland scheint dieses Problem noch nicht so umfassend verbreitet zu sein, wie das aus Amerika berichtet wird. Es ist aber davon auszugehen, dass bei steigendem Leistungsdruck und unter anderen Prüfungsverhältnissen so etwas auch einen Anreiz in Deutschland erhalten wird. Und es gibt eine Studie der DAK, wo in Deutschland die Bevölkerung befragt worden ist, wo Ärzte befragt worden sind. Und nach dieser Studienlage sieht es nicht so aus, als sollte man dieses Problem vernachlässigen."
Warum aber sollen Menschen keine Mittel zur erhöhten Konzentration einnehmen, jedenfalls wenn solche Medikamente keine Nebenwirkungen haben?, fragen die Befürworter solcher Hirnoptimierungsversuche. Weil es keinen Grund gibt, gesunde Menschen durch Medikamente zu "perfektionieren"!, wenden die Kritiker ein. Aber was ist mit Kaffee, Tee, mit Koffeintabletten, Traubenzucker, Alkohol? Versucht man nicht auch mit solchen legalen Drogen Einfluss auf die eigene Befindlichkeit zu nehmen?
Woopen: "Bei dem Enhancement versuchen Sie eine Funktion zu überschreiten oder auszudehnen, die sonst nicht da wäre. Das hört sich verhältnismäßig klar an, ist es aber im Einzelfall überhaupt nicht. Denn wo sind die Grenzen einer normalen Funktion, wer bestimmt das überhaupt, was normal ist? Wir sind uns einig, dass drei Nächte nicht zu schlafen, um sich auf die Klausur vorzubereiten, nicht normal ist. Trotzdem kann es durchaus normal sein, wenn man unter einer bestimmten Ängstlichkeit leidet, sich beruhigen zu wollen, um dann in der Prüfung leistungsfähig zu sein. Und wir empfinden es auch alle als normal, Kaffee zu trinken oder schöne Musik zu hören, das beruhigt oder anregt, um uns in eine bestimmte Stimmung zu versetzen, um es angenehm zu haben. Das sind Dinge, wo die Grenzziehungen dann im Einzelfall oft auf eine Frage des Maßes hinauslaufen. Und diese Frage des Maßes muss jeweils verhandelt werden."
Doch nicht nur mit Medikamenten versucht man mittlerweile, Hirnleistungen zu beeinflussen. Erforscht werden zur Zeit sogenannte Hirn-Computer-Schnittstellen, die es zum Beispiel Querschnittsgelähmten ermöglichen, ihre Gedanken durch einen in ihr Gehirn implantieren Chip auf einen Computer zu übertragen, der dann für sie bestimmte Handlungen ausführt. Das könnte durchaus eine Hilfe für Betroffene sein. Wirft allerdings, wie Dr. Tade Matthias Spranger ausführt, durchaus rechtliche Fragestellungen auf:
"Brain-Computer-Interface oder Gehirn-Maschinen unter diesem Stichwort werden Forschungsvorhaben diskutiert, die letztlich darauf hinarbeiten, dass Menschen mittels Gedanken bestimmte Befehle an Computer erteilen können, dass also Menschen mit Behinderung Implantate steuern können oder dass Menschen mit Locked In Syndrom, die keine normale Kommunikationsmöglichkeit mehr haben, dass die mit der Außenwelt wieder interagieren können. Und unter rechtlichen Gesichtspunkten habe ich da ganz interessante Auswirkungen auf die Frage, zum Beispiel könne solche Menschen Willenserklärungen abgeben, können solche Menschen ein Testament verfassen, also rechtsverbindliche Erklärungen abgeben. Es geht also auch um die Frage, kann ich die rechtliche Position von Menschen mit Behinderungen verbessern."
Etwa 50.000 Menschen weltweit wurden mittlerweile operativ mit einem sogenannten "Hirnschrittmacher" versorgt. Vor allem Parkinsonpatienten hilft dieser Hirnschrittmacher, ihre Bewegungen wieder zu normalisieren. Symptome wie Zittern und Steifigkeit, die bei der Parkinsonerkrankung auftreten, werden deutlich gemildert. Doch auch bei dieser sogenannten "Tiefen Hirnstimulation" sehen Ethiker Diskussionsbedarf. Prof. Ludger Honnefelder, Philosoph am Institut für Wissenschaft und Ethik in Bonn:
"Zur Behebung der Parkinsonschen Erkrankung unterscheidet er sich nicht von einem Herzschrittmacher. Möglich, dass die Nebenwirkungen hier noch genauer zu bedenken sind und zu prüfen sind. Aber es ist auch denkbar, dass Sie einen solchen Gehirnschrittmacher einsetzen um permanente Glückgefühle zu erzeugen oder Ihren emotionalen Zustand dauerhaft oder vorübergehend zu manipulieren. Das wir zu einem ethischen Problem."
Erforscht wird zur Zeit, ob auch bei bestimmten psychiatrischen Krankheitsbildern wie Depressionen oder Zwangserkrankungen die tiefe Hirnstimulation Anwendung finden könnte; in einzelnen Fällen konnten durchaus Erfolge erzielt werden. Doch wie weit darf man mit solchen Neuroimplantaten in Gefühlszentren im Gehirn eingreifen? Stimmungen und Verhalten eines Menschen beeinflussen? Kurz gesagt: seine Persönlichkeit verändern? Dr. Christiane Woopen, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates:
"Was macht das eigentlich mit unserem psychiatrischen Krankheitsverständnis, wenn wir den Eindruck haben, dass durch das Einsetzen einer solchen Sonde eine solche Krankheit beseitigt wird? Ein Verständnis, das in Teilen biografisch orientiert war, wird plötzlich rein biophysisch, rein biomedizinisch. Das kann eine große Aufklärung bedeuten und große Missverständnisse beseitigen, das kann aber auch zu Einseitigkeiten führen, die dann das gesamte Bild verengen. Es kann zumindest die Gefahr bestehen, dass man bestimmte Krankheiten auf ein Art und Weise interpretiert, bei der man sie reduziert, in dem man den Menschen etwas einseitig verzerrt."
Verliert der Mensch allmählich, wie Christiane Woopen zu bedenken gibt, seine "normative Rückbindung an so etwas wie Natürlichkeit"? Der Tübinger Theologe Prof. Dietmar Mieth würde das bejahen. Für ihn ist ein wesentliches Charakteristikum der menschlichen Natur seine Endlichkeit. Und bei den Versuchen, den menschlichen Geist zunehmend zu perfektionieren, seine Emotionen und Leidenschaften zu kontrollieren, gerate diese Endlichkeit zunehmend in Vergessenheit.
"Und diese allgemeine Mentalität möchte ich bekämpfen und zurücknehmen, indem ich sage, das Endlichkeitsgefühl muss stärker werden, das Bewusstsein, dass ich nicht leidfrei durchs Leben gehen kann, das Bewusstsein, dass ich mal sterben werde und das Bewusstsein dafür, dass ich Fehler machen kann, was außerordentlich wichtig ist. Man muss sich bewusst sein, dass mit jedem Fortschritt, den man erzielt, dass man damit nicht die perfekte Welt erzielt."
Aber hat die moderne Wissenschaft nicht immer versucht, die Menschen vom Leid zu befreien, dem Tod ein paar Jahre zumindest abzutrotzen? Gehört es nicht, wie der Bonner Ethikprofessor Dieter Sturma einmal formulierte, zur "Natur des Menschen, sein natürliches Dasein zu überschreiten"? - Die Hirnforschung provoziert. Die Diskussion um sie ist aufgeregt. Vielleicht enthüllt sie sich aber schließlich auch nur als ein weiterer Versuch, die Menschen ein bisschen weniger leiden zu lassen. So, wie es der Jurist, Dr. Tade Matthias Spranger sachlich beschreibt:
"Ich persönlich glaube, dass sich unser Menschenbild nicht verändern wird. Die größte Herausforderung in rechtlicher Hinsicht wird sein, Anwendungsoptionen der Hirnforschung zu identifizieren, zu schauen, haben die ein Risikopotential, wie muss das Recht darauf reagieren, gibt es Missbrauchsmöglichkeiten, wenn der Staat, wenn Sicherheitsbehörden, auf Gedankeninhalte Zugriff nehmen wollen. Oder wenn der Staat zwangsweise neurowissenschaftliche Verfahren zur Lügendetektion einsetzen möchte, wie muss das Recht damit umgehen. Man darf über diesen Reflex der Risikovermeidung hinaus nicht vergessen, dass bestimmte Techniken auch positive und sinnvolle und sehr erfolgversprechende Anwendungsbereiche zeigen und dass mit Blick auf die Verbesserung für Menschen, die unter bestimmten Krankheiten oder Behinderungen leiden. Und wenn die Hirnforschung tatsächlich in der Lage sein sollte, Instrumente zur Verfügung zu stellen, dann ist es auch eine Aufgabe der Politik und der Rechtspolitik auch diese Einsatzpotentiale zu erkennen und Zulassungen zu erteilen."
Honnefelder: "Deswegen ist natürlich die Hirnforschung eine Herausforderung, speziell für die Philosophie, wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir diese Erkenntnisse einfügen in unser Bild von uns selbst."
Unser Gehirn wird mehr und mehr zugänglich für Neurowissenschaften und Medizin. Mittels sogenannter "bildgebender Verfahren" können die Gehirnaktivitäten kranker und gesunder Menschen erforscht werden. Mittels Chemie und Technik wiederum vermag man solche Aktivitäten in verschiedenster Weise zu beeinflussen. Führen solche Einblicke und Eingriffe in das menschliche Hirn zunehmend zum gläsernen und damit dann zum "steuerbaren Menschen"? Welche moralischen, aber auch welche rechtlichen Fragen stellen sich, wenn der Mensch in seinem Denken und Fühlen zumindest ein Stück weit durchschaubar wird? Wenn man die Gedanken eines Menschen nicht mehr durch dessen persönliche Schilderungen, sondern durch neurowissenschaftliche Methoden erfährt? Professor Ludger Honnefelder, Philosoph am Institut für Wissenschaft und Ethik in Bonn:
"Wenn wir davon ausgehen, dass alle Vorgänge des Ichs begleitet werden von neuronalen Vorgängen, also beispielsweise ein individuelles Gedächtnis haben, in dem wir die wichtigen Daten unsere Lebensgeschichte gewissermaßen speichern, dann wäre eine Offenlegung dieser höchstpersönlichen Daten in Form einer bildgebenden Diagnostik schon etwas, was unsere Privatheit oder wie das Grundgesetz das ausdrückt, unsere informationelle Selbstbestimmung berührt."
Durch Computertomografien werden mittlerweile Bilder vom Gehirn erzeugt, die dieses sozusagen "am Werk" zeigen: Welche Bereiche im Gehirn sind aktiv, wenn jemand lügt? Oder die Wahrheit sagt? Oder sich an ein Ereignis aus seiner Vergangenheit falsch erinnert? Kann man Menschen mit kriminellen Neigungen gar an ihrer Hirnaktivität erkennen? Was vielen heute als Science-Fiction erscheint, kann angesichts des rasanten technischen Fortschritts morgen schon Wirklichkeit sein. Meint Dr. Christiane Woopen, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates:
"Man kann zum Beispiel möglicherweise feststellen, welche Emotionen bestimmte Bilder in bestimmten Bereichen des Gehirns auslösen und dann schauen, ob diese unmittelbar zur Handlungssteuerung führen, zu bestimmten Begehrlichkeiten. Und man kann feststellen, das andere hemmende Hirnareale außer Kraft gesetzt werden, die einen davor zurückschrecken lassen, ein bestimmtes Kaufverhalten an den Tag zu legen. Das sind natürlich sehr grobe Verbindungen, die man aber im weiteren Verlauf neurowissenschaftlich aufdröseln kann."
Kann man demnächst mit Hilfe der "funktioneller Magnetresonanztomografie", einem Verfahren, das Hirnaktivität in hoher räumlicher Auflösung zur Darstellung bringt, feststellen, ob jemand vor Gericht die Wahrheit sagt? Dr. Tade Matthias Spranger, Jurist an der Universität Bonn:
"Bei dem Wissensstand, den wir im Moment haben, haben wir für bildgebende Verfahren zumindest im deutschen Prozessrecht keine Verwendung, weil die Trefferquote bei der Lügendetektion nicht groß genug wäre. Aber der Blick über den Tellerrand zeigt, dass es in den USA Firmen gibt, die das anbieten, die das im Gerichtssaal auch schon verbreiten wollen."
Prominente deutsche Hirnforscher wie Wolf Singer oder Gerhard Roth bestreiten aufgrund ihrer neurowissenschaftlichen Forschungen die Willensfreiheit des Menschen. Diese Freiheit sei eine Illusion. Das menschliche Handeln sei statt dessen im Rahmen naturwissenschaftlich erklärbarer Vorgänge festgelegt und könne nicht durch willentliche Entscheidungen beeinflusst werden. Solche Thesen sind umstritten, werden aber mittlerweile auch von Juristen diskutiert. Denn wenn es keinen freien Willen gäbe, meinen Strafrechtler, dann könnte man auch nicht mehr von der Schuld eines Straftäters sprechen. Und ebenso wenig wäre dieser dann noch zu bestrafen:
Spranger: "Also haben wir überhaupt einen freien Willen oder sind wir völlig determiniert? Und das ist natürlich relevant im Hinblick auf unser Schuldprinzip. Wir gehen davon aus, bestraft wird, wer schuldhaft eine Straftat begangen hat. Wenn ich jetzt natürlich sage, es gibt keine Willensfreiheit, kann ich das Schuldprinzip und die Geltung des Schuldprinzips in Frage stellen."
Ist also ein Straftäter Produkt genetischer Faktoren, früher Prägungen, durch die gewisse Hirnareale aktiviert und andere in ihrer Aktivität reduziert werden? Bräuchte er also statt Strafe medizinische Hilfe, Tabletten, am Ende gar einen Eingriff ins Gehirn, damit aus ihm ein anderer, besserer Menschen würde? Wird man demnächst unerwünschte Emotionen, zum Beispiel überaggressives Verhalten durch pharmakologische oder operative Eingriffe ins Gehirn steuern? Noch werden solche Maßnahmen lediglich diskutiert.
Jetzt schon spielt aber der Gebrauch - oder besser gesagt: der Missbrauch von Tabletten zunehmend eine Rolle im Bereich des sogenannten "Neuro-Enhancement". Das heißt: Psychopharmaka, die bei bestimmten Krankheiten gut wirken, werden verstärkt auch von Gesunden eingesetzt, um bei sich selbst Leistungssteigerungen oder Stimmungsaufhellungen zu erzielen.
Woopen: "Eines der Medikamente ist zum Beispiel das Ritalin, das bei Kindern gegeben wird bei Aufmerksamkeitsstörungen oder Hyperaktivität, also Konzentrationsstörungen. Das wird auch von Menschen genommen, die einfach ihre Leistung steigern wollen, ohne dass sie solche Aufmerksamkeitsstörungen haben. Es gibt stimmungsaufhellende Medikamente wie Prozac, die von Menschen genommen werden, die sich für eine Party in Stimmung bringen wollen, weil sie total aufgeschlossen sein wollen, dadurch in die Lage versetzt werden, viele Kontakte zu schließen als fröhlich, als aufgeschlossen zu gelten. Es muss aber wohl dann das Problem haben, dass man sich wohl nicht so unbedingt an all diejenigen erinnern kann, mit denen man Kontakt aufgenommen hat und dann die Namen gar nicht kennt. Also was das mit wahrhafter persönlicher Beziehung zu tun hat, steht auf einem anderen Blatt."
An den Universitäten Amerikas gebe es bereits einen blühenden Schwarzhandel mit solchen Medikamenten, schrieb das Magazin "Nature" Ende vergangenen Jahres. Und US-Studien behaupten, dass 20 Prozent der amerikanischen College-Studenten sogenannte "Neuro-Enhancer" einnehmen. Droht dieses "Hirn-Doping", wie man es auch nennen könnte, demnächst auch nach Deutschland überzuschwappen?
Woopen: "In Deutschland scheint dieses Problem noch nicht so umfassend verbreitet zu sein, wie das aus Amerika berichtet wird. Es ist aber davon auszugehen, dass bei steigendem Leistungsdruck und unter anderen Prüfungsverhältnissen so etwas auch einen Anreiz in Deutschland erhalten wird. Und es gibt eine Studie der DAK, wo in Deutschland die Bevölkerung befragt worden ist, wo Ärzte befragt worden sind. Und nach dieser Studienlage sieht es nicht so aus, als sollte man dieses Problem vernachlässigen."
Warum aber sollen Menschen keine Mittel zur erhöhten Konzentration einnehmen, jedenfalls wenn solche Medikamente keine Nebenwirkungen haben?, fragen die Befürworter solcher Hirnoptimierungsversuche. Weil es keinen Grund gibt, gesunde Menschen durch Medikamente zu "perfektionieren"!, wenden die Kritiker ein. Aber was ist mit Kaffee, Tee, mit Koffeintabletten, Traubenzucker, Alkohol? Versucht man nicht auch mit solchen legalen Drogen Einfluss auf die eigene Befindlichkeit zu nehmen?
Woopen: "Bei dem Enhancement versuchen Sie eine Funktion zu überschreiten oder auszudehnen, die sonst nicht da wäre. Das hört sich verhältnismäßig klar an, ist es aber im Einzelfall überhaupt nicht. Denn wo sind die Grenzen einer normalen Funktion, wer bestimmt das überhaupt, was normal ist? Wir sind uns einig, dass drei Nächte nicht zu schlafen, um sich auf die Klausur vorzubereiten, nicht normal ist. Trotzdem kann es durchaus normal sein, wenn man unter einer bestimmten Ängstlichkeit leidet, sich beruhigen zu wollen, um dann in der Prüfung leistungsfähig zu sein. Und wir empfinden es auch alle als normal, Kaffee zu trinken oder schöne Musik zu hören, das beruhigt oder anregt, um uns in eine bestimmte Stimmung zu versetzen, um es angenehm zu haben. Das sind Dinge, wo die Grenzziehungen dann im Einzelfall oft auf eine Frage des Maßes hinauslaufen. Und diese Frage des Maßes muss jeweils verhandelt werden."
Doch nicht nur mit Medikamenten versucht man mittlerweile, Hirnleistungen zu beeinflussen. Erforscht werden zur Zeit sogenannte Hirn-Computer-Schnittstellen, die es zum Beispiel Querschnittsgelähmten ermöglichen, ihre Gedanken durch einen in ihr Gehirn implantieren Chip auf einen Computer zu übertragen, der dann für sie bestimmte Handlungen ausführt. Das könnte durchaus eine Hilfe für Betroffene sein. Wirft allerdings, wie Dr. Tade Matthias Spranger ausführt, durchaus rechtliche Fragestellungen auf:
"Brain-Computer-Interface oder Gehirn-Maschinen unter diesem Stichwort werden Forschungsvorhaben diskutiert, die letztlich darauf hinarbeiten, dass Menschen mittels Gedanken bestimmte Befehle an Computer erteilen können, dass also Menschen mit Behinderung Implantate steuern können oder dass Menschen mit Locked In Syndrom, die keine normale Kommunikationsmöglichkeit mehr haben, dass die mit der Außenwelt wieder interagieren können. Und unter rechtlichen Gesichtspunkten habe ich da ganz interessante Auswirkungen auf die Frage, zum Beispiel könne solche Menschen Willenserklärungen abgeben, können solche Menschen ein Testament verfassen, also rechtsverbindliche Erklärungen abgeben. Es geht also auch um die Frage, kann ich die rechtliche Position von Menschen mit Behinderungen verbessern."
Etwa 50.000 Menschen weltweit wurden mittlerweile operativ mit einem sogenannten "Hirnschrittmacher" versorgt. Vor allem Parkinsonpatienten hilft dieser Hirnschrittmacher, ihre Bewegungen wieder zu normalisieren. Symptome wie Zittern und Steifigkeit, die bei der Parkinsonerkrankung auftreten, werden deutlich gemildert. Doch auch bei dieser sogenannten "Tiefen Hirnstimulation" sehen Ethiker Diskussionsbedarf. Prof. Ludger Honnefelder, Philosoph am Institut für Wissenschaft und Ethik in Bonn:
"Zur Behebung der Parkinsonschen Erkrankung unterscheidet er sich nicht von einem Herzschrittmacher. Möglich, dass die Nebenwirkungen hier noch genauer zu bedenken sind und zu prüfen sind. Aber es ist auch denkbar, dass Sie einen solchen Gehirnschrittmacher einsetzen um permanente Glückgefühle zu erzeugen oder Ihren emotionalen Zustand dauerhaft oder vorübergehend zu manipulieren. Das wir zu einem ethischen Problem."
Erforscht wird zur Zeit, ob auch bei bestimmten psychiatrischen Krankheitsbildern wie Depressionen oder Zwangserkrankungen die tiefe Hirnstimulation Anwendung finden könnte; in einzelnen Fällen konnten durchaus Erfolge erzielt werden. Doch wie weit darf man mit solchen Neuroimplantaten in Gefühlszentren im Gehirn eingreifen? Stimmungen und Verhalten eines Menschen beeinflussen? Kurz gesagt: seine Persönlichkeit verändern? Dr. Christiane Woopen, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates:
"Was macht das eigentlich mit unserem psychiatrischen Krankheitsverständnis, wenn wir den Eindruck haben, dass durch das Einsetzen einer solchen Sonde eine solche Krankheit beseitigt wird? Ein Verständnis, das in Teilen biografisch orientiert war, wird plötzlich rein biophysisch, rein biomedizinisch. Das kann eine große Aufklärung bedeuten und große Missverständnisse beseitigen, das kann aber auch zu Einseitigkeiten führen, die dann das gesamte Bild verengen. Es kann zumindest die Gefahr bestehen, dass man bestimmte Krankheiten auf ein Art und Weise interpretiert, bei der man sie reduziert, in dem man den Menschen etwas einseitig verzerrt."
Verliert der Mensch allmählich, wie Christiane Woopen zu bedenken gibt, seine "normative Rückbindung an so etwas wie Natürlichkeit"? Der Tübinger Theologe Prof. Dietmar Mieth würde das bejahen. Für ihn ist ein wesentliches Charakteristikum der menschlichen Natur seine Endlichkeit. Und bei den Versuchen, den menschlichen Geist zunehmend zu perfektionieren, seine Emotionen und Leidenschaften zu kontrollieren, gerate diese Endlichkeit zunehmend in Vergessenheit.
"Und diese allgemeine Mentalität möchte ich bekämpfen und zurücknehmen, indem ich sage, das Endlichkeitsgefühl muss stärker werden, das Bewusstsein, dass ich nicht leidfrei durchs Leben gehen kann, das Bewusstsein, dass ich mal sterben werde und das Bewusstsein dafür, dass ich Fehler machen kann, was außerordentlich wichtig ist. Man muss sich bewusst sein, dass mit jedem Fortschritt, den man erzielt, dass man damit nicht die perfekte Welt erzielt."
Aber hat die moderne Wissenschaft nicht immer versucht, die Menschen vom Leid zu befreien, dem Tod ein paar Jahre zumindest abzutrotzen? Gehört es nicht, wie der Bonner Ethikprofessor Dieter Sturma einmal formulierte, zur "Natur des Menschen, sein natürliches Dasein zu überschreiten"? - Die Hirnforschung provoziert. Die Diskussion um sie ist aufgeregt. Vielleicht enthüllt sie sich aber schließlich auch nur als ein weiterer Versuch, die Menschen ein bisschen weniger leiden zu lassen. So, wie es der Jurist, Dr. Tade Matthias Spranger sachlich beschreibt:
"Ich persönlich glaube, dass sich unser Menschenbild nicht verändern wird. Die größte Herausforderung in rechtlicher Hinsicht wird sein, Anwendungsoptionen der Hirnforschung zu identifizieren, zu schauen, haben die ein Risikopotential, wie muss das Recht darauf reagieren, gibt es Missbrauchsmöglichkeiten, wenn der Staat, wenn Sicherheitsbehörden, auf Gedankeninhalte Zugriff nehmen wollen. Oder wenn der Staat zwangsweise neurowissenschaftliche Verfahren zur Lügendetektion einsetzen möchte, wie muss das Recht damit umgehen. Man darf über diesen Reflex der Risikovermeidung hinaus nicht vergessen, dass bestimmte Techniken auch positive und sinnvolle und sehr erfolgversprechende Anwendungsbereiche zeigen und dass mit Blick auf die Verbesserung für Menschen, die unter bestimmten Krankheiten oder Behinderungen leiden. Und wenn die Hirnforschung tatsächlich in der Lage sein sollte, Instrumente zur Verfügung zu stellen, dann ist es auch eine Aufgabe der Politik und der Rechtspolitik auch diese Einsatzpotentiale zu erkennen und Zulassungen zu erteilen."