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Wie Vermeer nach München kam

Das Bild "Frau mit Waage" des holländischen Malers Jan Vermeer war lange unterschätzt. Einst gehörte das zur Sammlung von König Max I. Joseph von Bayern. Gastweise ist es von der Washingtoner "National Gallery of Art" nun in München zu sehen.

Von Christian Gampert | 19.03.2011
    Für 800 Gulden, also für einen Appel und ein Ei, verkauften 1826 die Erben des bayerischen Königs Max Joseph ein kleinformatiges Bild, das heute zu den Inkunabeln der holländischen Genre-Malerei gehört: Jan Vermeers "Frau mit Waage" aus dem Jahr 1663. Vor einem Tisch steht eine bürgerliche, gleichwohl madonnenhaft ausgeleuchtete Frau mit weißer Haube und tariert eine Waage aus, daneben Perlenketten und Geschmeide. Hinter ihr sieht man ein Bild des Jüngsten Gerichts mit hoch- oder auch zur Hölle fahrenden Gestalten; der Kopf der Bürgerin befindet sich genau an der Stelle, an der im "Jüngsten Gericht", also dem Bild im Bild, sich die Gestalt des Seelen-Wägers aufhält, des Erzengels Michael. Bedenke also, Mensch, dass Gold nicht alles ist, bedenke, was du tust mit deinem Leben.

    Dass man dieses in meditativer Ruhe schwebende Bild zu Beginn des 19.Jahrhunderts so unterschätzte, hatte mehrere Gründe: in seiner Mischung aus Interieur und Allegorie war es nicht eindeutig klassifizierbar - hier wurden, und das war fast modern, zwei Motive übereinandergeblendet. Auch wurde das Bild zunächst einem anderen Maler zugeordnet; und Vermeers Wiederentdeckung begann erst etwa 1860 mit den Schriften von William Bürger, der das Rätselhaft-Mehrdeutige des Künstlers mit dem Label "Die Sphinx von Delft" versah.

    Vor allem aber war diese "Frau mit Waage" ein absoluter Ausreißer in der Sammlung des Königs Max Joseph, der sich besonders für holländische Landschaften interessierte. Kurator Markus Dekiert:

    "Er war ein eher bürgerlicher König, der sich auch sehr mit Bayern identifizierte, der am Tegernsee sich ein Lustschloss bauen lässt und die bayerische Landschaftsmalerei sehr unterstützte. Und da lag es nahe, dass die im Grunde vorbildgebende Malerei des holländischen 17.Jahrhunderts, wo er auch besonders die Landschaftsmalerei schätzte, dass er sich der zuwandte und dass er die in einer modern konzipierten Sammlung zusammengetragen hat."

    Es wirkt ein wenig bizarr, dass der bayerische König - residierend im Voralpenland - sich Seestücke und flache Polderlandschaften in seine Privatgemächer holte. In sein Schlafzimmer etwa hängte er sich eine Ansicht des Amsterdamer Seehafens von Ludolf Bakhuizen: dickbauchige Handelsschiffe in steifer Brise vor einem Wald aus Rahen und Masten und dem Panorama der Stadt.

    Aber Max Joseph hatte kundige Berater, die Sammlung ist exzellent. In der Alten Pinakothek sehen wir also dramatisch vom Wind gezauste Dünenlandschaften von Jacob van Ruisdael, Bauernszenen des führenden holländischen Vieh-Malers Paulus Potter, ruhige oder auch aufgewühlte Seestücke von Willem van de Velde und Allaert van Everdingen, sogar brasilianische Exotika mit Palmen und Papaya-Bäumen von Frans Post, der mit einer Handelsgesellschaft nach Südamerika kam. Die italianisierende Landschaftsmalerei ist durch Nicolas Berchem vertreten, und es gibt eines der frühesten Kirchen-Interieurs überhaupt, 1573 von Hendrick van Steenwyck gemalt.

    Dass die im Grunde nicht sehr spektakuläre holländische Landschaft überhaupt bildwürdig wurde, hat viel mit dem Selbstbewusstsein des Goldenen Zeitalters zu tun - und mit der Entscheidung der Maler, keine allegorisch überhöhten Fantasielandschaften mehr zu zeigen, sondern bare Wirklichkeit, die dann freilich umkomponiert, mit Figuren bestückt und oft bedrohlich aufgeladen wurde.

    Der Schmutz, der Alltag, das Wetter - das interessierte den bayerischen Bürgerkönig im 19.Jahrhundert, der freilich auch jede Menge Schulden machte. Nach seinem Tod wurde die Sammlung deshalb versteigert, und vieles ist wohl für immer verloren - wie Vermeers "Frau mit Waage", die nun aus der Washingtoner "National Gallery of Art" gastweise nach München kam. Anderes konnte von der Pinakothek wiedererworben werden, und da das 175. Jubiläum dieses tollen Museums naht, öffnet man jetzt schon mal das Depot: neben den Holländern des Max Joseph ist ein unglaublicher Parcours aufgebaut, vom italienischen Trecento bis ins französische 18.Jahrhundert, von der Kirche in den Salon, einfach so.