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Wie viel Staat braucht der Mensch?

Die Frage, wie Menschen ihr Zusammenleben in großen Gesellschaften gestalten, hat die Denker seit jeher beschäftigt. Auf welchen Prinzipien beruht ihr Miteinander, wie sind Macht, Recht, Wohlstand und Bildung am besten zu organisieren? Wie viel Staat der Mensch braucht, das war die Frage hinter einer Historikertagung in Heidelberg, die sich mit Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit befasste.

Von Kersten Knipp | 10.04.2008
    Gewalt braucht eine Instanz, die sie organisiert. Gewöhnlich übernimmt diese Aufgabe der Staat. Aber schon die verschiedenen Staatsformen von der Demokratie über die Monarchie bis zur Diktatur, signalisieren, dass er das auf sehr verschiedene Weise tun kann. In Europa hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten die parlamentarische Demokratie durchgesetzt. Aber auf welchen Vorgängern beruht sie, wie weit kann man ihre Formen in die Tiefe der Zeiten zurückfolgen? Zwar beruft sich Europa gern auf sein antikes Erbe, und tatsächlich lassen sich durch die Zeitalter der Machtgeschichte auch kontinuierliche Entwicklungen ausmachen. Aber ob man darum auch von einer kontinuierlichen Entwicklung sprechen kann, ist für den Historiker Peter Eich von der Universität Potsdam alles andere als sicher.

    " Es entsteht eine Bürokratie oder zumindest bürokratische Strukturen, es entsteht eine monarchische Staatsstruktur mit besonderer Machtfülle und auch besonderer Präsentationsform des Monarchen; es gibt Parallelen in der Funktion von Religion in diesem Prozess und andere Zusammenhänge. Und das brachte uns auf die Fragestellung, ob es nützlich sein kann, beide Epochen unter dem Vergleichspunkt Staat und Staatlichkeit zu untersuchen. "

    Erstaunlich jedoch, wie sehr sich verschiedene Strukturprinzipien für den sozialen Zusammenhang gehalten haben. Das wohl wichtigste "weiche" Bindemittel ist die Religion. Nicht umsonst setzten viele Großmächte darauf, den Glauben ihrer Staatsbürger zu vereinheitlichen. Das trug dazu bei, mögliche Binnenkonflikte gar nicht erst aufkommen zu lassen oder in Berufung auf ein höheres Staatsziel wieder zu entschärfen; vor allem aber half es, die Bürger zu disziplinieren, sie nicht nur äußerlich, sondern auch und vor allem innerlich zu unterwerfen, ihren Verstand und noch mehr ihr Herz zu formieren.

    " Diese Kombination von sagen wir mal protostaatlichen Verdichtungen und konfessioneller Homogenisierung. Und dadurch wird Loyalität zum Glauben, zur Orthodoxie mit der Loyalität zur Dynastie und dadurch auch zum Staat -ja, das werden identische Konzepte. Und man kann Illoyalität gleichzeitig staatsrechtlich und in Bezug auf das Gewissen bestrafen. Und insofern hat man dadurch die Möglichkeit des Zugriffs auf die Untertanen in sehr tiefe Tiefen hinein. "

    Was aber, wenn es schlicht zu viele konkurrierende Glaubensrichtungen gibt? Man kann die einen zum Wohle der anderen ausmerzen, es zumindest versuchen. Man kann aber auch daran denken, sie einander anzunähren, vielleicht sogar zu vereinen. Eben das, so die Münsteraner Historikerin Antje Flüchter, unternahm im 16. Jahrhundert der indische Großmogul Akbar. Das Mogulenreich ging rund hundert Jahre nach seiner Herrschaft unter. Doch die Frage nach den Gründen dieses Untergangs ist bis heute nicht gelöst.

    " Also die eine These, die sagt, mit dieser Vielfalt hat Akbar die islamische Elite so verärgert, dass es danach wieder zurückgedreht werden musste, und die andere sagt, es ist nur dadurch stabil gewesen, solange man die verschiedenen Religionen toleriert und sobald man damit aufgehört hat, brach es auseinander. "

    Und doch ist die Religion nur ein sekundäres Element der Staatspflege. Das erste und wichtigste ist die äußere Macht, die Staatsgewalt. Seit der Antike wächst diese Macht - und gehorcht fortan auch dem bis heute gültigen Prinzip, dass Macht Macht erzeugt, dass der Staat, um sich überhaupt behaupten zu können, auf steten Machtzuwachs angewiesen ist. Das, so der Heidelberger Historiker Sebastian Schmidt-Hofner, war schon in der Antike ein ganz zentrales Moment der Staatsraison.

    " Und die Hauptursache, das darf man wohl sagen, ist im klaren Vergleich zur frühen Neuzeit Kriegsführung, die Notwendigkeit, die notwendigen Mittel für die Kriegsführung aufzutreiben, das heißt Geldsteuern, aber auch eine Vielzahl von anderen Dingen - Lebensmittel, et cetera - hier werden bürokratische Strukturen aufgebaut, um solche Mittel effizient zu erheben. Ob das gelingt, ist eine andere Frage, aber offensichtlich bestand in der Vorstellung der Eliten die Idee, dass es effizienter ginge, wenn man bürokratische Strukturen einführen würde. "

    Doch Staaten sind komplexe Gebilde, und es braucht erhebliches Spezialwissen, sie dauerhaft zu erhalten, die Macht auszubalancieren und ihren Verfall zu verhindern. Dafür sind Fachleute nötig - die aber kommen nichts als solche auf die Welt, sondern müssen gründlich ausgebildet werden. Und genau dieser Gedanke der Auslese, der Ersatz des Herkunfts- durch das Leistungsprinzip, stand an der Schwelle vom antiken zum modernen Staat. Die Abschaffung des Feudalismus, so Christian Wieland, war für den Machterhalt ein geradezu zwingend erforderlich.

    " Ein wichtiges Kennzeichen moderner Bürokratien ist eben die Juridizierung bürokratischer Abläufe, die einhergeht mit einer Rekrutierung neuen bürokratischen Personals. Es ist eben ein solches, das man mit gewissem Recht als ein professionelles bezeichnen kann - professionell, weil die eine formale Ausbildung haben, ein juristisches Studium und das Ganze nicht durch Erfahrung sammeln und nicht durch Herkunft prädestiniert sind für diese Ämter. "

    Chancengleichheit wurde nicht unbedingt aus Liebe zu egalitären Überlegungen an sich geboren, sondern zur besseren Absicherung der Macht. Moderne Staatsraison, zeigt das, folgt nicht edlen und schönen, sondern schlicht pragmatischen Prinzipien. Daran erinnert der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard in seinem Vortrag über "Die Kriminalität der Mächtigen". Auch sie gilt es zu bändigen. Was aber ist kriminell? Die Vorstellungen darüber gingen im Lauf der Zeiten stark auseinander.

    " Dass zum Beispiel vieles, was heute unter Korruption läuft - also der berühmte Nepotismus der Päpste, der die Kirche Millionen gekostet hat - heute als Korruption verdammt wird, aber nach damaligen Verhältnissen relativ legitim, wenn nicht sogar legal war. Weil die Familie die Priorität vor der Öffentlichen Hand, vor den Institutionen der Kirche hatte. Das war einfach legal. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Das was heute Machtpolitik, was Machiavelli geschildert hat, galt damals en block als unmoralisch. Also eine völlige Verkehrung der Tatsachen gegenüber der heutigen Wertewelt. "

    Moderne Demokratien, dieses Fazit kann man ziehen, haben aus den Wucherungen früherer Staatsgebilde gelernt. Gefeit gegen den Wildwuchs der Macht sind sie darum nicht. Mindest so viele Gedanken wie über ihren Erhalt muss man sich darum über ihre Begrenzung machen.