Archiv


Wie wir wurden, was wir sind

Vor 500 Jahren war es für die Menschen einfach undenkbar, nicht an Gott zu glauben. Heute leben wir im Westen in weitgehend säkularisierten Gesellschaften. Was in der Zwischenzeit passiert ist, das hat der kanadische Philosoph Charles Taylor auf 1300 Seiten beschrieben.

Von Rainer Kühn |
    Charles Taylors Buch "Ein säkulares Zeitalter" ist ein Opus Magnum! Darin ist sich die Fachwelt einig. Mehr noch: Es ist bereits das Zweite große Werk des kanadischen Philosophen. Wurde doch schon sein 1989 erschienener Band: "Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität" als Meisterstück gefeiert. Genauso wie damals beschäftigt den 1931 geborenen Intellektuellen mit Star-Appeal auch dieses Mal die Frage, wie sich unser westliches, christlich geprägtes Selbstverständnis wie auch unsere Weltsicht in den letzten 500 Jahren entwickelt und verändert haben. Zwar ist Taylor beileibe nicht der Erste, der sich diese Frage stellt; dennoch: Seine knapp 1300 Seiten starke Antwort ist ein "großes Werk"! Eines, das sich jeder Etikettierung entzieht. Allerdings: Das "wichtigste Buch, das in unserer Lebenszeit erschienen" ist, wie es der amerikanische Sozialtheoretiker Robert Bellah sah, ist diese Bilanz eines herausragenden Denker-Lebens dann doch nicht. Worum geht's?

    Ich möchte eine Geschichte erzählen: Die Geschichte dessen, was man normalerweise die "Säkularisierung" des neuzeitlichen Abendlands nennt. Der Wandel, den ich bestimmen und nachvollziehen möchte, ist ein Wandel, der von einer Gesellschaft, in der es praktisch unmöglich war, nicht an Gott zu glauben, zu einer Gesellschaft führt, in der dieser Glaube auch für besonders religiöse Menschen nur eine menschliche Möglichkeit neben anderen ist.
    Taylor versucht also, die Veränderung dessen nachzuzeichnen, was seit dem Mittelalter für die Menschen des Abendlands den Sinn des Seins ausgemacht hat. Er bietet eine Erzählung über die geistes- und kulturgeschichtliche "Zick-Zack" –Entwicklung, wie er sie nennt, vom ehedem alle Vorstellungen überwölbenden lateinischen Christentum hin zur heutigen, individuell wählbaren Religiosität. Dabei weiß er sehr wohl, dass seine Darlegungen möglicherweise durch die Brille eines "gläubigen Katholiken" geprägt wurden. Und dass daher auch ganz andere Interpretationen dieses 500-jährigen Prozesses denkbar sind! Alternative Erzählungen könnten somit seinen Befund einer Verweltlichung vehement bestreiten. Schließlich beschleichen Taylor selbst Zweifel, ob die Ausrufung eines säkularen Zeitalters wirklich zutreffend ist.

    Was ist Religion? Wenn man sie mit den großen historischen Bekenntnissen gleichsetzt oder sogar mit dem expliziten Glauben an übernatürliche Wesen, scheint sie tatsächlich Anhänger verloren zu haben. Doch wenn man eine große Vielfalt von spirituellen und halb spirituellen Überzeugungen hinzurechnet, kann man tatsächlich geltend machen, die Religion sei so präsent wie eh und je.
    Von Nietzsches verzweifeltem "Gott ist tot!" kann also laut Taylor keine Rede sein. Zudem ist seine Fokussierung auf Großbritannien, Frankreich und die USA beileibe nicht ausreichend für die Proklamation eines die ganze Welt charakterisierenden verweltlichten Säkulums! Taylor ist also mit seinem umfassenden Beschreibungsversuch gescheitert. Und sympathischerweise gesteht er das auch ein. Schließlich vermag er noch nicht einmal den heutigen Unterschied zwischen dem angeblich immer ungläubiger werdenden Europa und den in puncto Religionspraxis hyperaktiven USA zu erklären:

    Hier räume ich ein, dass ich im Dunklen herumstochere. Eine wirklich befriedigende Erklärung dieses Unterschieds, der in gewissem Sinne die entscheidende Frage der Säkularisierungstheorie aufwirft, ist mir nicht bekannt.
    Während Taylor seine titelgebende These vom säkularen Zeitalter also selbst widerlegt, vermag er die Leser dennoch immer wieder in so etwas wie Bewunderungsstarre zu versetzen: Denn betrachtet man das ganze Werk unter dem Motto: "Wie wir wurden, was wir sind", dann steht man oftmals geradezu ehrfürchtig vor dem atemberaubenden Breitwandformat seiner bis in kleinste Details ausgemalten Geschichtserzählung. Immer wieder scheint dabei Taylors Position als Vertreter des Kommunitarismus auf. Jener Denkschule also, die darauf beharrt, dass Gemeinschaften für ihren Zusammenhalt über allgemein getragene Wertvorstellungen verfügen müssen.

    Vor 500 Jahren besaß das Abendland mit dem gemeinsamen lateinisch-christlichen Glauben eine Grundlage, auf der die von fast allen für gültig erachteten Wertvorstellungen beruhten. Was bedeutet es dann aber, wenn heutzutage die Bindekraft der einen Religion schwindet und jeder individuell seine religiösen Ansichten auswählt? Droht dann der Zerfall der Gesellschaft? Hier bleibt Taylor unentschieden. Zwar qualifiziert er mehrfach unsere Situation als "prekär". Doch spricht er an anderen Stellen auch wiederum davon, dass eine Zerrüttung der Gemeinschaft keineswegs eine notwenige Folge der Individualisierung, oder, wie er es nennt, der "Fragilisierung" sein muss.

    Die Erfahrung der Zerrüttung wird tatsächlich gemacht. Das sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass die Neuzeit auch die Entstehung neuer Prinzipien des Gesellschaftlichen mit sich bringt. Zerrüttung kommt tatsächlich vor. Damit ist aber keineswegs gezeigt, dass es im eigentlichen Wesen des neuzeitlichen Individualismus liegt, die Gemeinschaft zu zersetzen.
    Taylors Geschichte ist also auch eine Geschichte der Individualisierung. Seine Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft, von Individuum und Gemeinschaft machen einen wichtigen Aspekt in der gewaltigen Arbeit aus. Eine genaue Aufarbeitung dieser sozial-politischen Gedanken muss allerdings erst noch geleistet werden; denn die bisherigen Debatten und kritischen Diskussionen des Bands waren vorwiegend religionstheoretisch motiviert. Die vielfältigen anderen thematischen Stränge sind also noch aufzugreifen. Sie liegen weit verstreut in einem unglaublichen Buch über Glaube und Unglaube.

    Rainer Kühn war das über Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. 1298 Seiten aus dem Hause Suhrkamp kosten 68 Euro (ISBN 978-3-518585344).