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Wie wirklich war die Wirklichkeit?

Vor fast einem Vierteljahrhundert fiel die Mauer - welche Bilder von der DDR sind im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert? Im Rückblick auf die Diktatur duldet die Demokratie viele Interpretationen - allem Bemühen um Aufarbeitung und Aufklärung zum Trotz.

Von Jacqueline Boysen | 10.11.2012
    Und so ranken sich weiter Legenden um den untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaat. Die einen pflegen den Mythos vom Leseland oder dem unbeschwerten Leben in der Brigade, andere sonnen sich im Glanz des erfolgsverwöhnten Sports oder loben die niedrige Kriminalitätsrate.

    Ausgeblendet bleiben Zensur, Misswirtschaft, Doping oder die allgegenwärtigen "Organe", die 40 Jahre SED-Herrschaft und die Staatsgrenzen absicherten - ohne Rücksicht auf Menschenrechte oder Menschenwürde.

    Ein ganz normaler Staat war die DDR nicht - Geschichtswissenschaftler und Opfer von Willkür kämpfen gegen Verharmlosung und Idealisierung der "kommoden Diktatur". Wenn Zeitzeugen über Verfolgung oder Unterdrückung im Unrechtsstaat berichten, hinterlassen sie gerade bei jüngeren Zuhörern einprägsamere Bilder als die historische Forschung und staatlich initiierte Aufarbeitung.

    Ilko-Sascha Kowalczuk, geboren 1967, arbeitet als Forscher in der Stasi-Unterlagen-Behörde. In einem Interview im Deutschlandfunk sagt er:

    "Zunächst muss man feststellen, dass diese Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur, die Aufarbeitung der DDR-Geschichte zunächst einem immensen Bedürfnis der Gesellschaft selbst folgte, nämlich die Hoheit über die eigene Vergangenheit, über die eigene Geschichte zurückzuerlangen.

    Der Kardinalfehler, der dann allerdings relativ schnell einsetzte ... Man hat völlig aus dem Auge verloren, dass die SED der eigentliche Befehlsgeber für alles war. Da sind einfach bestimmte Gewichtungen durcheinandergekommen. Der inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit oder auch ein Mitarbeiter der Staatssicherheit steht weitaus mehr am historischen Pranger als ein hochrangiger SED-Funktionär, obwohl die im übertragenen Sinne eigentlich die Befehlsgeber für diese Stasi-Leute waren. Also da ist einiges durcheinandergekommen.

    Der zweite Punkt, den man nennen muss: Es ist viel zu spät und bis zum heutigen Tage viel zu halbherzig sich mit dem Alltag, mit der Gesellschaft in der DDR auseinandergesetzt worden."

    Woran erinnern die drei Buchstaben: DDR?

    Die DDR ist als Erfinderin von Ampelmännchen präsent, in poppig-bunt gespritzten Trabis knattern Touristen durch die einst geteilte Hauptstadt – Relikten, die für andere Reliquien sein mögen.

    Und es ist der Umgang mit der DDR-Geschichte: Historiker zeichnen seit Jahrzehnten Bilder von der DDR, akribisch untersuchen sie den Machtapparat der SED, ihr Herrschaftsinstrument, die Staatssicherheit, und andere Organe, wie es hieß.

    Sie beschreiben die marode Staatswirtschaft, das parteilich ausgerichtete Justiz- oder Schulwesen, das Wirken von Schriftstellern oder der Armee und den Alltag der DDR-Bürger – jener, die sich eingerichtet hatten, sowie den Alltag derer, die als Nonkonformisten, Renegaten und Oppositionelle gegen den staatlich gelenkten Strom schwammen.

    Wie aber war das Leben in der zweiten deutschen Diktatur, den einst für Idealisten attraktiven, vermeintlich besseren deutschen Nachkriegsstaat?

    Das grüne Ampelmännchen Ost läuft von rechts nach links, der Hut steht ihm gut
    Das grüne Ampelmännchen Ost (AP)
    Zu hören: persönliche DDR-Wirklichkeiten
    Geschichte ist Erlebtes und davon zu erzählen, ohne ein Bild vorzugeben, das schwarz und nur schwarz – oder weiß und nur weiß zulässt, ist Sache der Zeitzeugen.

    Karl Wilhelm Fricke wurde 1929 geboren. Ähnlich wie Bundespräsident Joachim Gauck hat ihn ein Erlebnis in seiner Jugend stark geprägt: Die Väter wurden "abgeholt", wie es in den Familien damals hieß. Frickes Vater, 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone festgenommen, wurde zu einer hohen Zuchthausstrafe verurteilt – in einem Verfahren, das gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstieß. Fricke verschrieb sich der Aufklärung über Unrecht, Menschenrechtsverletzungen und Willkür in der DDR. Nicht zuletzt auch als Mitglied der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, die in den neunziger Jahren Historiker und Zeitzeugen befragten und die Aufarbeitung auf eine parlamentarische Bühne stellten, hat Karl Wilhelm Fricke gegen ein weichgezeichnetes Bild der DDR gekämpft.

    Der evangelische Pfarrer Stephan Bickhardt, Jahrgang 1959, erlebt. Er war in den 80er Jahren an der Verbreitung von Samisdat-Literatur beteiligt, Öffentlichkeit herstellen – eine Gegenöffentlichkeit zu den staatlichen Medien – das war auch sein großes Ziel. Bickhardt engagierte sich in verschiedenen oppositionellen Gruppen, die gedankliche Vorarbeit für jene Bürgerbewegungen leisteten, die zahllose Menschen ermutigten, gegen die nicht mehr übermächtige Partei- und Staatsführung aufzubegehren.

    Lothar Tautz war Kandidat der SED, stand also vor der Mitgliedschaft in der herrschenden Staatspartei, doch der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag schockierte ihn ebenso wie acht Jahre später die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Tautz hatte Theologie studiert und sich Kreisen der Opposition angeschlossen – heute ist er engagiert im Verein Gegen Vergessen - für Demokratie.

    Bautzen - Synonym für politische Strafjustiz
    Bautzen – Stadt im sächsischen Zipfel der Lausitz, für viele Synonym für politische Strafjustiz der Sowjetischen Besatzungsbehörden und der DDR. Hier treffen sich alljährlich Zeitzeugen, ehemalige politische Häftlinge, Historiker und Studenten. Auf dem Bautzen-Forum gedenken sie der Opfer von Willkür und politischer Justiz. Veranstaltet wird es von der Friedrich-Ebert-Stiftung. (Die Digitale Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung bietet eine gute Zusammenfassung der Bautzen-Foren.

    In diesem Jahr haben die Teilnehmer auf dem Bautzen-Forum nach Legenden und Schönfärberei gefragt – und wie auf die Verharmlosung von Unrecht zu reagieren ist, wie die Mechanismen von Anpassung und Repression heute glaubhaft darzustellen seien. Hilft die Demokratie selbst beim Verständnis der Diktatur – oder lässt sie tolerant auch Schönfärberei und Verklärung zu? Wird die Staatssicherheit – Schild und Schwert der Partei – dann im Rückblick zu einem Geheimdienst zu einem Nachrichtendienst, wie ihn jeder Staat unterhält?

    Stasi-Gedenkstätte Bautzen eröffnet Hör-Ausstellung: "Hörgang Bautzen II" - ein Gemeinschaftsprojekt der Gedenkstätte mit Deutschlandradio Kultur

    In 'Hörgang Bautzen II' verarbeiten sie akustische und persönliche Impressionen der Gedenkstätte. Sie unternehmen eine auditive Forschungsreise entlang der schmalen Grenze zwischen innerer und äußerer Klangwelt.

    Das Stasi-Gefängnis Bautzen II existierte seit 1956. Hier wurden Spione, Fluchthelfer, straffällige Stasi-Offiziere, prominente Staatsfeinde, Serienmörder und gescheiterte Republikflüchtige interniert.
    Das Stasi-Gefängnis Bautzen II existierte seit 1956. Hier wurden Spione, Fluchthelfer, straffällige Stasi-Offiziere und gescheiterte Republikflüchtige interniert. (picture alliance / dpa)
    Die DDR - ein ganz normaler Staat?
    Wie umgehen mit Mythen und Legenden - welche Wirklichkeit erinnern wir? Dazu gehört auch der Blick auf den Alltag. Beispiel Schule und die Diskussion um Vor- und Nachteile des Schulsystems im sozialistischen Deutschland: War wirklich alles autoritäre Indoktrinierung oder gab es auch gute Seiten?
    Im Schulmuseum Leipzig rekonstruiert die Lehrerin Elke Urban mit jungen Besuchern – Schülern von heute – den Unterricht von damals: Sie lädt ein zu Schulstunden, die sie nach dem Lehrbuch des DDR-Volksbildungsministeriums für die dritten Klassen abhält und mit Jugendlichen von heute nachgespielt.

    Alles für den Sozialismus, nichts für die Kinder: Julia Franck über ihren DDR-Roman "Rücken an Rücken"

    Welche Wirklichkeit ist es, die wir Vergangenheit nennen und im Gedächtnis speichern, aufarbeiten oder bewältigen? Sie spiegelt einst Erlebtes und beim Zuhören Nacherlebtes, wissenschaftlich erhobene Fakten ergänzt durch Nicht-Objektives – durch Erzählungen, wie sie nicht staatlich verordnet, aber innerfamiliär tradiert werden, oder über Eindrücke aus Filmen, Büchern, von Familienphotos oder von Kunstausstellungen. Auch das, was unter einem "Mantel des Schweigens" giftig gärt, prägt diese Wirklichkeit der oft verteufelten oder idealisierten Vergangenheit.

    Beschrieben hat sie der verstorbene Berliner Dichter Thomas Brasch:
    Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
    wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
    die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
    die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
    wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
    wo ich sterbe, da will ich nicht hin,
    bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.


    DDR-Literatur war nur "Lebenshilfe" - Literaturkritiker provoziert mit abwertenden Äußerungen zu den Werken von Christa Wolf und Heiner Müller

    Ein Schüler der KJS (Kinder- und Jugendsportschule) Friedrich-Ludwig Jahn beim Turnen an den Ringen,
    Ein Schüler der Kinder- und Jugendsportschule Friedrich-Ludwig Jahn (picture alliance / dpa /Manfred Uhlenhut)
    Die angelbich "heile Welt der Diktatur - immer wieder Filmstoff
    Mit Sonnenallee, Herr Lehmann und NVAhat Leander Haußmann das Alltagsleben in der DDR und im alten Westberlin satirisch aufs Korn genommen.

    Good Bye Lenin von Wolfgang Becker

    Barbara: Nina Hoss in einem "DDR-Spielfilm" der besonderen Art

    In "Barbara" spielt Nina Hoss eine Berliner Ärztin, die aus der DDR ausreisen möchte und deshalb strafversetzt wird in die Provinz. Für seinen neuen Film wurde Christian Petzold bei der 62. Berlinale als bester Regisseur ausgezeichnet.

    Der jüngsten Filmproduktion Der Turm liegt das Buch von Uwe Tellkamp zugrunde.

    Rebellische Rollbrettfahrer Der Film "This Ain´t California" erzählt von Skatern in der DDR

    Kniefall vor einer Flasche Sojasoße Der Film "Sushi in Suhl" erzählt die Geschichte des einzigen japanischen Restaurants in der DDR

    Schwulsein im Sozialismus - "Unter Männern - Schwul in der DDR". Ein Film von Ringo Rösener und Markus Stein

    Weitere Filmempfehlungen bei Chronik der Mauer

    Wolf Biermann steht für die klangliche Reminiszenz an die DDR.


    Bücher zum Thema (Auswahl)

    DDR. Ein fernes Land 1949 - 1990 von Thomas Bickelhaupt, Bucher Verlag, 19,95
    Ein reich bebilderter und unsentimentaler Band über die Licht- und die Schattenseiten des Alltags in der DDR.

    Geschichte der DDR von Jörg Roesler, Papyrossa Verlagsges, 9,90
    Beschäftigt sich inhaltlich mit der Herrschaft der SED, aber auch mit der Geschichte als Moskaus "ungeliebtes Kind".

    Martin Sabrow (Hg.): Autobiographische Aufarbeitung, Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert
    Was können Autobiographien zum Verständnis von Diktaturen beitragen?

    Thomas Kunze/Thomas Vogel (Hg.):"Ostalgie international" Ch. Links Verlag

    Illegale Reisen durch den Bruderstaat UdSSR

    Josef Foschepoth: "Überwachtes Deutschland: Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik", Vandenhoeck & Ruprecht

    Stefan Wolle:"Aufbruch nach Utopia", Christoph Links Verlag

    Trauma in Sibirien Wolfgang Ruge: "Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion", Rowohlt Verlag, Reinbek 2012

    Eine Ost-Familiensaga Eugen Ruge: "In Zeiten abnehmenden Lichts", Rowohlt Verlag, Reinbek 2011, 432 Seiten


    Mehr zum Thema bei dradio.de

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    "Ohne die Häftlingsarbeit hätte der Plan nicht erfüllt werden können" - Ikea-Möbel aus dem Osten: Forscher bestätigt den umfangreichen Einsatz von Zwangsarbeitern in der DDR
    Das Mobile Kino Niedersachsen zeigt unter anderem den Film "Good Bye, Lenin!"
    Film "Good Bye, Lenin!" (AP)