Seit Jahren ist in China alles im Fluss. Wie hier am Pekinger Hauptbahnhof kommen auch in anderen Großstädten tausende von Wanderarbeitern aus dem Land in die Stadt, oder verlassen die Metropolen wieder auf der Suche nach Arbeit in anderen Landesteilen. In ihren Koffern, Bündeln oder Plastiktaschen transportieren die Wanderarbeiter ihre Habe von Job zu Job, von Fabrik zu Fabrik, von Baustelle zu Baustelle. Nur wie viele Wanderarbeiter es gibt, das weiß niemand so genau, sagt Duan Chenrong, Migrationsexperte an der Pekinger Volksuniversität:
"Nach den offiziellen Angaben von 2005 gibt es 147 Millionen Wanderarbeiter. Viele Experten halten diese Zahl für zu niedrig. Auf der Grundlage verschiedener Statistiken gehe ich von rund 250 Millionen aus. Aber wie viele sind es nun wirklich? 150 oder 250 Millionen? Niemand weiß das so genau. Und dafür brauchen wir die Volkszählung."
Mit der sechsten Volkszählung seit Bestehen der Volksrepublik will man die Zahlen aktualisieren und vor allem die Wanderungsbewegungen besser verstehen. Denn seit der letzten Volkszählung vor zehn Jahren hat sich die Landflucht beschleunigt. Heute ist bereits die zweite Generation von Wanderarbeitern unterwegs. Doch sie alle zu finden, ist nicht einfach. Viele leben in einfachsten Verhältnissen. Professor Duan empfiehlt unkonventionelle Methoden, die er mit seinen Studenten bereits ausprobiert hat.
"Erst wollten wir, dass die Leute alle selbst die Formulare ausfüllen - aber wir konnten sie einfach nicht finden. Wir gingen in eine Wohnung und hinterlegten in jedem Zimmer ein Formular. Aber auch das war nicht richtig, denn jedes Zimmer hatte zwei oder drei Betten. Dann stellten wir fest, dass die Leute nicht nur in Schichten arbeiten, sondern auch in Schichten schlafen. Wir kamen schließlich auf die Idee die Zahnbürsten im Badezimmer zu zählen. In der Wohnung mit drei Zimmern und acht Betten fanden wir insgesamt 25 Zahnbürsten."
Dass es den chinesischen Behörden so schwer fällt, verlässliche Bevölkerungsstatistiken zu erstellen, liegt aber auch an einem anderen Problem: dem "Hukou", einem Meldesystem, das noch aus der Mao-Zeit stammt. Jeder Chinese ist entweder als Stadt- oder Landbewohner registriert - und zwar dort, wo er herkommt - egal, ob er schon seit Jahrzehnten anderswo lebt und arbeitet. Für die Wanderarbeiter bringt das gravierende Nachteile, denn nur in der alten Heimat haben sie Anspruch auf Sozialleistungen und kostenlose Schulbildung für die Kinder. Auch den Statistikern bereitet das Hukou-System Kopfzerbrechen, denn die Daten der Einwohnermeldeämter sind so gut wie wertlos, sagt Feng Nailin vom Nationalen Statistikbüro.
"Im Vergleich mit früheren Volkszählungen gibt es diesmal einen entscheidenden Unterschied - wir wollen die Menschen dort zählen, wo sie tatsächlich leben - egal wo sie eigentlich mit ihrem Hukou registriert sind und egal wie lange sie sich schon an ihrem jetzigen Wohnort aufhalten."
Mit dem Zensus 2010 dürften daher die sozialen Verwerfungen, die die wirtschaftlichen Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte mit sich gebracht haben, zum ersten Mal auch tatsächlich statistisch sichtbar werden. Wie die Wanderungsbewegungen die traditionellen Strukturen verändert haben, ist in Städten wie Peking bereits überall zu sehen. In der Hauptstadt leben schätzungsweise 20 Millionen Menschen, darunter etwa acht Millionen Wanderarbeiter. Mit teils drastischen Methoden versucht man den Zuzug seit einiger Zeit zu kontrollieren.
Zum Beispiel in Dasheng am Südrand von Peking. Hier leben rund 400 Einheimische und über 2000 Migranten aus allen Teilen Chinas auf engstem Raum zusammen. Kinder spielen; in winzigen Geschäften wird Gemüse verkauft. In den einstöckigen Häusern teilen sich mehrköpfige Familien oft nicht mehr als ein einziges Zimmer. Um den Zuzug zu kontrollieren, hat man rund um das Dorf einen hohen Zaun errichtet. Besucher müssen sich an großen Eisentoren registrieren lassen. Abends werden alle Tore - bis auf eins - geschlossen. Die scharfen Kontrollen dienten vor allem der Sicherheit, versichert Dorfvorsteher Li Wujiang.
"Wir verweigern niemandem den Zuzug oder diskriminieren Wanderarbeiter. Die Migranten aus anderen Teilen Chinas sind wie Familienmitglieder für uns - sie sind teil der Gemeinschaft, wie neue Bürger."
Dasheng soll Modell für andere Stadtteile Pekings sein. In mindestens 16 Dörfern rund um die Hauptstadt werden bereits ähnliche Sicherheitsvorkehrungen installiert. Die Pekinger Stadtregierung propagiert die Zäune, Tore und Zugangskontrollen. Kritiker sprechen von Zuzugssperren und Überwachung. Nein, sagt Dorfvorsteher Li noch einmal abwehrend, aber dann macht er doch ein ungewolltes Zugeständnis:
"Unser Dorf ist schon voll; wir haben ja nur diese Häuser, mehr Migranten können hier einfach nicht leben. Wenn kein Platz ist, werden sie auch nicht kommen."
An der prekären sozialen Lage der Wanderarbeiter in Dasheng und anderswo wird sich auch durch die Volkszählung so schnell nichts ändern. Dennoch sind die Ergebnisse der Zählung für die Entwicklung der Städte und für die Bürger von weit reichender Bedeutung. Denn nach 30 Jahren Reform- und Öffnungspolitik ist nichts mehr so wie es einmal war. Die Großfamilien, die vor allem auf dem Land das soziale Netz bildeten, sind mit der Landflucht zerbrochen. Die Familienstrukturen haben sich zum "Vier-Zwei-Ein-System" atomisiert - also vier Großeltern, zwei Eltern und ein Kind. In den Städten ist heute die dreiköpfige Kleinfamilie die Norm, sagt Professor Duan.
"Zensus-Informationen brauchen wir in allen möglichen Bereichen, im Wohnungsbau, für die Produktion von Kleidung. Wie viele junge Leute haben wir, die Jobs brauchen? Wie viele Alte, die eines Tages ein Altersheim brauchen? Oder nehmen Sie Wohnungs- und Familiengrößen. Heute bestehen die Familien in den Großstädten meist nur noch aus drei Personen. Wenn wir nur große 150-Quadratmeter-Wohnungen bauen, entspricht das Angebot nicht dem Bedarf.""
Viele politisch heikle Fragen haben die Volkszähler weggelassen - etwa nach der Religionszugehörigkeit, aber auch Fragen nach Einkommens- und Besitzverhältnissen. Denn gerade in den Städten machen sich die Besserverdienenden Sorgen, dass Informationen weitergegeben werden könnten - zum Beispiel an die Steuerbehörden. Im Volkszählungsformular werde weder nach Einkommens- noch nach Eigentumsverhältnissen gefragt, versichert Feng Nailin, Chef des Pekinger Statistikamtes. Doch er räumt Schwierigkeiten ein.
""Die Bürger sind sehr viel weniger kooperativ als früher - das ist für uns ein großes Problem. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass sich die Lebensstile geändert haben, dass das Tempo heute höher ist und dass man der eigenen Privatsphäre mehr Bedeutung zumisst als früher."
Früher war es in China normal, dass sich der Staat in die privatesten Dinge der Menschen einmischte. Zu Maos Zeiten brauchte man eine Genehmigung vom Danwei, von der Arbeitseinheit, wenn man heiraten wollte. Heute hat sich der Staat - außer bei der Familienplanung - aus dem Privatleben der Menschen zurückgezogen. Auch in China verteidigt man heute seinen privaten Raum gegen Einmischung von außen.
Jeder Volkszähler sei geschult worden, versichern die Behörden. Keiner darf Informationen weitergeben. Doch bei vielen Menschen bleiben Zweifel. Vor allem Familien, die gegen die strikte Familienplanungspolitik in China verstoßen habe, dürften kaum bereit sein, mit den Volkszählern zu kooperieren.
"Nach den offiziellen Angaben von 2005 gibt es 147 Millionen Wanderarbeiter. Viele Experten halten diese Zahl für zu niedrig. Auf der Grundlage verschiedener Statistiken gehe ich von rund 250 Millionen aus. Aber wie viele sind es nun wirklich? 150 oder 250 Millionen? Niemand weiß das so genau. Und dafür brauchen wir die Volkszählung."
Mit der sechsten Volkszählung seit Bestehen der Volksrepublik will man die Zahlen aktualisieren und vor allem die Wanderungsbewegungen besser verstehen. Denn seit der letzten Volkszählung vor zehn Jahren hat sich die Landflucht beschleunigt. Heute ist bereits die zweite Generation von Wanderarbeitern unterwegs. Doch sie alle zu finden, ist nicht einfach. Viele leben in einfachsten Verhältnissen. Professor Duan empfiehlt unkonventionelle Methoden, die er mit seinen Studenten bereits ausprobiert hat.
"Erst wollten wir, dass die Leute alle selbst die Formulare ausfüllen - aber wir konnten sie einfach nicht finden. Wir gingen in eine Wohnung und hinterlegten in jedem Zimmer ein Formular. Aber auch das war nicht richtig, denn jedes Zimmer hatte zwei oder drei Betten. Dann stellten wir fest, dass die Leute nicht nur in Schichten arbeiten, sondern auch in Schichten schlafen. Wir kamen schließlich auf die Idee die Zahnbürsten im Badezimmer zu zählen. In der Wohnung mit drei Zimmern und acht Betten fanden wir insgesamt 25 Zahnbürsten."
Dass es den chinesischen Behörden so schwer fällt, verlässliche Bevölkerungsstatistiken zu erstellen, liegt aber auch an einem anderen Problem: dem "Hukou", einem Meldesystem, das noch aus der Mao-Zeit stammt. Jeder Chinese ist entweder als Stadt- oder Landbewohner registriert - und zwar dort, wo er herkommt - egal, ob er schon seit Jahrzehnten anderswo lebt und arbeitet. Für die Wanderarbeiter bringt das gravierende Nachteile, denn nur in der alten Heimat haben sie Anspruch auf Sozialleistungen und kostenlose Schulbildung für die Kinder. Auch den Statistikern bereitet das Hukou-System Kopfzerbrechen, denn die Daten der Einwohnermeldeämter sind so gut wie wertlos, sagt Feng Nailin vom Nationalen Statistikbüro.
"Im Vergleich mit früheren Volkszählungen gibt es diesmal einen entscheidenden Unterschied - wir wollen die Menschen dort zählen, wo sie tatsächlich leben - egal wo sie eigentlich mit ihrem Hukou registriert sind und egal wie lange sie sich schon an ihrem jetzigen Wohnort aufhalten."
Mit dem Zensus 2010 dürften daher die sozialen Verwerfungen, die die wirtschaftlichen Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte mit sich gebracht haben, zum ersten Mal auch tatsächlich statistisch sichtbar werden. Wie die Wanderungsbewegungen die traditionellen Strukturen verändert haben, ist in Städten wie Peking bereits überall zu sehen. In der Hauptstadt leben schätzungsweise 20 Millionen Menschen, darunter etwa acht Millionen Wanderarbeiter. Mit teils drastischen Methoden versucht man den Zuzug seit einiger Zeit zu kontrollieren.
Zum Beispiel in Dasheng am Südrand von Peking. Hier leben rund 400 Einheimische und über 2000 Migranten aus allen Teilen Chinas auf engstem Raum zusammen. Kinder spielen; in winzigen Geschäften wird Gemüse verkauft. In den einstöckigen Häusern teilen sich mehrköpfige Familien oft nicht mehr als ein einziges Zimmer. Um den Zuzug zu kontrollieren, hat man rund um das Dorf einen hohen Zaun errichtet. Besucher müssen sich an großen Eisentoren registrieren lassen. Abends werden alle Tore - bis auf eins - geschlossen. Die scharfen Kontrollen dienten vor allem der Sicherheit, versichert Dorfvorsteher Li Wujiang.
"Wir verweigern niemandem den Zuzug oder diskriminieren Wanderarbeiter. Die Migranten aus anderen Teilen Chinas sind wie Familienmitglieder für uns - sie sind teil der Gemeinschaft, wie neue Bürger."
Dasheng soll Modell für andere Stadtteile Pekings sein. In mindestens 16 Dörfern rund um die Hauptstadt werden bereits ähnliche Sicherheitsvorkehrungen installiert. Die Pekinger Stadtregierung propagiert die Zäune, Tore und Zugangskontrollen. Kritiker sprechen von Zuzugssperren und Überwachung. Nein, sagt Dorfvorsteher Li noch einmal abwehrend, aber dann macht er doch ein ungewolltes Zugeständnis:
"Unser Dorf ist schon voll; wir haben ja nur diese Häuser, mehr Migranten können hier einfach nicht leben. Wenn kein Platz ist, werden sie auch nicht kommen."
An der prekären sozialen Lage der Wanderarbeiter in Dasheng und anderswo wird sich auch durch die Volkszählung so schnell nichts ändern. Dennoch sind die Ergebnisse der Zählung für die Entwicklung der Städte und für die Bürger von weit reichender Bedeutung. Denn nach 30 Jahren Reform- und Öffnungspolitik ist nichts mehr so wie es einmal war. Die Großfamilien, die vor allem auf dem Land das soziale Netz bildeten, sind mit der Landflucht zerbrochen. Die Familienstrukturen haben sich zum "Vier-Zwei-Ein-System" atomisiert - also vier Großeltern, zwei Eltern und ein Kind. In den Städten ist heute die dreiköpfige Kleinfamilie die Norm, sagt Professor Duan.
"Zensus-Informationen brauchen wir in allen möglichen Bereichen, im Wohnungsbau, für die Produktion von Kleidung. Wie viele junge Leute haben wir, die Jobs brauchen? Wie viele Alte, die eines Tages ein Altersheim brauchen? Oder nehmen Sie Wohnungs- und Familiengrößen. Heute bestehen die Familien in den Großstädten meist nur noch aus drei Personen. Wenn wir nur große 150-Quadratmeter-Wohnungen bauen, entspricht das Angebot nicht dem Bedarf.""
Viele politisch heikle Fragen haben die Volkszähler weggelassen - etwa nach der Religionszugehörigkeit, aber auch Fragen nach Einkommens- und Besitzverhältnissen. Denn gerade in den Städten machen sich die Besserverdienenden Sorgen, dass Informationen weitergegeben werden könnten - zum Beispiel an die Steuerbehörden. Im Volkszählungsformular werde weder nach Einkommens- noch nach Eigentumsverhältnissen gefragt, versichert Feng Nailin, Chef des Pekinger Statistikamtes. Doch er räumt Schwierigkeiten ein.
""Die Bürger sind sehr viel weniger kooperativ als früher - das ist für uns ein großes Problem. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass sich die Lebensstile geändert haben, dass das Tempo heute höher ist und dass man der eigenen Privatsphäre mehr Bedeutung zumisst als früher."
Früher war es in China normal, dass sich der Staat in die privatesten Dinge der Menschen einmischte. Zu Maos Zeiten brauchte man eine Genehmigung vom Danwei, von der Arbeitseinheit, wenn man heiraten wollte. Heute hat sich der Staat - außer bei der Familienplanung - aus dem Privatleben der Menschen zurückgezogen. Auch in China verteidigt man heute seinen privaten Raum gegen Einmischung von außen.
Jeder Volkszähler sei geschult worden, versichern die Behörden. Keiner darf Informationen weitergeben. Doch bei vielen Menschen bleiben Zweifel. Vor allem Familien, die gegen die strikte Familienplanungspolitik in China verstoßen habe, dürften kaum bereit sein, mit den Volkszählern zu kooperieren.